Die Wertewelten aktueller politischer Bewegungen
In einem weiteren Ansatz werde ich die Wertewelten darstellen, in denen sich die sieben Initiativen bewegen. Hieraus sind Hinweise auf die möglichen Konfliktlinien innerhalb der Gesellschaft zu ziehen. Darüber hinaus hilft er, die Zielrichtung diffuser Bewegungen wie Pegida Gelbwesten und „Pulse of Europe“ näher zu bestimmen.Die oben stehende Grafik zeigt, dass zwischen den Wertewelten der sieben untersuchten Bewegungen erhebliche Unterschiede bestehen. Verglichen mit den Wertewelten Deutschlands (kleine Grafik) ergeben sich keinerlei Übereinstimmungen. Hieraus ist auf die spezifische Interessenlage der jeweiligen Initiative zu schließen, die nicht mit der Gesamtheit Deutschlands, mit seiner tiefen sozialen Schichtung, wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Verschiedenheiten, übereinstimmen kann. Dennoch ergeben sich innerhalb der untersuchten Gruppe von sieben Initiativen auffallende Ähnlichkeiten, auf die ich hier eingehen werde.
Zunächst fällt die große Ähnlichkeit zwischen „Fridays for Future“ und „Pulse of Europe“ auf. Ein alles überragendes Orange wird von schwach ausgebildetem Blau und Grün begleitet. Bei der Schülerbewegung fehlt Gelb, während es bei der Europabewegung relativ stark ausgeprägt ist. Die beiden Bewegungen eint das nahezu auf Prsönlichkeit beschränkte Engagement der Teilnehmer, das innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Menschen in Orange seinen Höhepunkt erreicht hat. Demgegenüber treten Bindungen materieller, struktureller und traditioneller Art zurück und schrumpfen in den hier zu sehenden Initiativen zur Bedeutungslosigkeit zusammen. Eine der Ursachen hierfür ist in der Zielsetzung zu sehen, bei den einen, die verantwortlichen Politiker wachzurütteln, in dem andernen Fall, das Bewusstsein der Menschen für die Idee eines Nationen überwindenden Europa zu stärken. Damit kommt diesen Bewegungen etwas Prophetisches zu (siehe Einleitung), das bei Ausbleiben vorausgesagter Ereignisse schnell seine Bindungswirkung verliert. Die Aufladung der Schülerbewegung mit konkreten Forderungen – wie sie z. Zt. angestrebt wird – ist ein möglicher Weg zu einer Verstetigung der Bewegung, sein Erfolg hängt jedoch von der Glaubwürdigkeit der Darstellung ab. Zu bedenken ist hierbei, dass es nicht an Forderungen für eine nachhaltige Politik fehlt, sondern an der Durchsetzung dieser Forderungen durch die Zivilgesellschaft, die diese Forderungen auch gegen sich selbst akzeptieren muss, wenn sie glaubwürdig sein will.
Demgegenüber ist die Europabewegung in einer komfortableren Lage, die durch die institutionalierte Rahmenidee von Europa in ihrem Bestand gesichert ist und sich innerhalb des politischen Spektrums hierzu verhalten kann. Die Modifizierung politischer Programme im Bezug auf Europa durch eine überparteiliche Organisation führt jedoch letztendlich zu der Erwartung der Wähler, dass diese – sofern sie auf breite Zustimmung treffen – in Regierungshandeln umgesetzt werden. Hierzu muss sich die Bewegung glaubwürdig verhalten. Schließlich kann sich hieraus die Konsequenz ergeben, eine eigene Partei zu gründen.
Große Ähnlichkeit besteht auch zwischen den Bewegungen „Mietenwahnsinn“ und Gelbwesten. Beide Bewegungen werden aus der bürgerlichen Mitte heraus getragen und verfügen über starke persönliche Antriebe aus Orange – stärker bei der Initiative „Mietenwahnsinn“ – und starken Anteilen an konservativen Werten aus Blau. Bemerkenswert bei beiden Bewegungen ist die starke Verbindung mit Rot. Hiermit wird eine hohe Durchsetzungsbereitschaft im Bezug auf die Forderungen signalisiert. In beiden Fällen ist diese bereits durch Traditionen unterfüttert – im ersten Fall durch die Hausbesetzungen der 1980er Jahre, im zweiten Fall durch die französische Revolution und ähnliche Revolten der jüngeren deutschen Geschichte.
Die Wertewelten der Wohnungs- und der Gelbwestenbewegung lassen erkennen, dass die Forderungen mit Nachdruck vertreten werden und in ihren Aktionsformen nicht auf wenige Möglichkeiten beschränkt sind bzw. sich hierauf beschränken lassen. Das Potential dieser Bewegungen ist erheblich, da es in der Mitte der Gesellschaft vorhanden ist und im Zeitverlauf zunimmt.
Die noch verbleibenden drei Bewegungen sind einzigartige Initiativen, die durch ihre besonderen Wertewelten geprägt sind. Pegida sticht durch ein starkes Blau hervor, gefolgt von Orange und Grün. Die Bewegung lebt weniger als die bisher genannten von der Initiative von Führungspersönlichkeiten als vielmehr von ihrem Bezug zu Traditionen und deren Strukturen, die kollektiv und begrenzend sind. Neben diesen stärker ausgeprägten Wertesystemen sind auch Rot, Gelb und Türkis in deutlichen Ausprägungen vorhanden. Hierin kommt eine tiefe Verwurzelung der Bewegung in ganzheitlichen Bewusstseinsebenen und die hieraus erwachsende Bereitschaft zur gewaltsamen Durchsetzung als richtig erkannter Ziele in Rot zum Ausdruck. Bei keiner anderen Initiative ist ein so deutlich ausgeprägtes Türkis zu sehen, wie bei der Pegida.
In noch stärkerem Ausmaß ist die Bewegung zur Erhaltung des freien Internets durch Blau geprägt. Die Ursache hierfür ist in der starken Zuspitzung auf das anstehende Rechtsetzungsverfahren der EU zu sehen, das zum Daseinsgrund der Initiative geworden ist und andere Werthaltungen zu dem Thema der Urheberrechtssicherung im Internet maginalisiert. Das Wertesystem wird hier quasi zur Gegenwelt in der die geplante EU-Richtlinie scheitert. Ihr gegenüber verblassen persönliches Engagement aus Orange oder die solidarisch und intensiv geführte Diskussion in der Gruppe (Grün), die jeweils zu Modifizierungen der Haltung gegenüber dem angegriffenen Projekt führen könnten. Fortbestand und Entwicklung der Bewegung wird daher zunächst vom Erfolg oder Misserfolg der Verhinderung besagter EU-Richtlinie abhängen.
Ein weiterer Aspekt ist die in der Konstitution der Bewegung enthaltene Prophezeiung, es werde zu Einschränkungen des Internetzugangs und zu Einschränkungen der Meinungsfreiheit kommen. Tritt diese Folge wider Erwarten nicht ein, hat sich die „Geschäftsgrundlage“ der Initiative damit aufgelöst. Wer aber stellt den Sachverhalt fest? Auf der anderen Seite hat jede Restriktion bisher noch ihr Gegenmittel gefunden. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass unahängig vom Ergebnis bzgl. der EU-Richtlinie sowohl die restriktive Seite als auch die gegnerische Seite in der ein oder anderen Weise aktiv werden bzw. bleiben, um ihre Interessen durchzusetzen. Alles ist im Fluss!
Die Wertewelten der Bewegung „Wir haben es satt“ können als ausserparlamentarischer Arm der deutschen Verbraucher charakterisiert werden. Ein Vergleich mit dem Wertebild für Deutschland zeigt eine vergleichbare Struktur der Wertesysteme mit einem entscheidenden Unterschied: Der Anteil von Orange ist zu Gunsten eines starken Rot verschoben. Hiervon geht ein starkes Signal der Kampfbereitschaft für den Gesundheits-, Tier-, Umwelt- und Verbraucherschutz aus, das auf eine lange Kontinuität verweisen kann und an Aktualität und Brisanz weiter zunimmt, wie die aktuelle Entwicklung im Bezug auf Tiertransporte zeigt.
Abschließend gebe ich einen Überblick über zwei wesentliche Voraussetzungen bzw. Triebkräfte für das Entstehen bzw. die Bestandskraft öffentlichen Engagements. Offenheit ist eine Grundvoraussetzung für soziale Entwicklung. Sie beinhaltet Dialogfähigkeit, Lernbereitschaft, Toleranz und Empathie um nur einige wichtige Teilaspekte zu nennen. Eine wichtige Triebkraft für die persönliche Darstellung in Gruppen und in der Öffentlichkeit ist die Anerkennung. Von Sozialwissenschaftlern werden gesellschaftliche Prozesse nicht selten als „Kampf um Anerkennung“ aufgefasst. Es liegt nahe zu vermuten, dass es hierbei vor allem um den Ausgleich von Defiziten geht, die in gesellschaftlichen Randgruppen und Minderheiten bestehen. Erfahrungsgemäß wurde dieser „Kampf“ in den letzten Jahrzehnten mit großer Beharrlichkeit von den Arbeitsmigranten geführt, die seit den 1950er Jahren nach Deutschland gekommen sind. Diese „deutsche“ Erfahrung unterstreicht die große Bedeutung der Anerkennung auch für Gegenwart und Zukunft in besonderem Maße. Um dieses „deutsche“ Thema abzurunden möchte ich auch noch den Jahrzehnte dauernden Kampf der ehemaligen DDR um Anerkennung als zweiter deutscher Staat erinnern, der vermutlich bei den Menschen der ehemaligen DDR tiefe Narben hinterlassen hat.
In der Übersichtsgrafik wird deutlich, dass der „Kampf um Anerkennung“ gegenüber der Offenheit einen mehrfach großen Stellenwert einnimmt. Die ermittelten Prozentwerte beziehen sich auf die Gesamtheit der Fundstellen im System der Spiral Dynamics und bilden somit ein weitgehend geschlossenes System ab.
Zwischen Offenheit und Anerkennung besteht offensichtlich eine Beziehung, die in Richtung Bedeutungszunahme wirkt. In der nachfolgenden Tabelle ist der Quotient aus Anerkennung und Offenheit dargestellt.
Bewegung | % Anerkennung | % Offenheit | Quotient |
Fridays for Future | 1,58 | 0,47 | 3,4 |
Pegida | 15,64 | 5,27 | 3,0 |
Pulse of Europe | 3,44 | 1,36 | 2,5 |
Mietenwahnsinn | 15,54 | 2,73 | 5,7 |
Save the Internet | 3,57 | 0,98 | 3,6 |
Gelbwesten | 18,10 | 4,17 | 4,3 |
Wir haben es satt | 27,76 | 7,78 | 3,6 |
Der logische Schlüssel zum Verständnis des Zusammenhangs kann vielleicht darin liegen, dass fehlende Anerkennung durch die Gesellschaft allgemein zur Überprüfung der eigenen Positionen führt und Offenheit das einzige in der Persönlichkeit liegende Stellglied ist, das nachreguliert werden kann. Dieses vorausgesetzt, bedeutet der Quotient aus beiden Kriterien im Verhältnis zur Größe der Anerkennung hohe oder niedrige Akzeptanz des Anliegens. In der folgenden Tabelle ist diese Überlegung in Zahlen verdeutlicht.
Bewegung | Anerkennung + Offenheit % | / Quotient |
Fridays for Future | 2,05 | 0,6 |
Pegida | 20,91 | 7,0 |
Pulse of Europe | 4,80 | 1,9 |
Mietenwahnsinn | 18,27 | 3,2 |
Save the Internet | 4,55 | 1,2 |
Gelbwesten | 22,27 | 5,1 |
Wir haben es satt | 35,54 | 10,0 |
Aus den Zahlen in der Tabelle bestätigt sich die bisherige Beurteilung und es ist anzunehmen, dass die unterstellten Wirkungsmechanismen in der Regel eintreten – Ausnahmen bestätigen jedoch auch hier die Regel. Diese Ausnahmen werden jedoch auch wahrscheinlich das Urteil einer kurzen Lebensdauer für die Initiative bedeuten.
Ausgehend von den Zahlen der Tabelle führt die Verbraucherbewegung „Wir haben es satt“ den außerparlamentarisch initiierten Meinungs- und Lebenswandel an, gefolgt von Pegida, Gelbwesten und Mietenwahnsinn. Dagegen haben „Pulse of Europe„, „Save the Internet“ und – am Ende der Skala – „Fridays for Future“ wesentlich geringere Aussichten auf längerfristigen Einfluss.
Zu den Gelbwesten ist noch die Bemerkung notwendig, dass in der Beurteilung dieser Bewegung die in Deutschland verbreitete Resonanz auf das Geschehen in Frankreich enthalten ist und somit in der Tabelle, wie auch in den übrigen Darstellungen, eher das Potential der Bewegung für Deutschland abzulesen ist, als dass es sich um realisierte Einflussnahmen auf die deutsche Situation handeln könnte.