Oberflächlich betrachtet – Das Traumland
Etwa Mitte der 1990-er Jahre war es, als unsere 19-jährige Tochter von einer Reise durch Osteuropa aus Prag anrief und fragte, ob sie einen US-amerikanischen Freund für etwa eine Woche mit nach Hause bringen dürfe. Platz dafür war im Haus einer Bekannten vorhanden, Offenheit für neue Eindrücke ebenfalls. So erschien denn Dereck wenige Tage später mit unserer Tochter bei uns zu Hause in Ahlen. Derek war eine imposante Erscheinung – ein zwei Meter Mann von wenig mehr als zwanzig Jahren, er hatte in Boston Musik studiert und befand sich auf Europa-Reise. Nebenbei brachte er einige Kostproben seiner Electronic-Musik unter das Volk. Als Fan der deutschen Elektronik-Pioniere von „Kraftwerk“ hatten wir bald etwas Verbindendes und ich konnte unverzagt die erste LP der Gruppe hervor holen und natürlich auch vorspielen. Derek war begeistert.
Es war wohl auch an demselben Abend, als ich etwas im Überschwang die Bemerkung fallen ließ, mit seinen zwei Metern komme er mir wie ein Alien vor. Dereks Gesicht nahm unvermittelt sehr ernste Züge an und ich wusste, dass ich in ein Fettnäpfchen getreten war. Die Situation klärte sich bald dahingehend auf, dass seine Mitstudenten in Boston ihn ständig mit dem Bezug auf Aliens gehänselt und genervt hatten. Diese Erfahrung machte mir auf peinliche Weise klar, dass die Auffassungen selbst so abseitiger Fragen, wie der nach der Existenz von Aliens einen völlig von Europäern verschiedenen Stellenwert haben können und dass ich doch nur ein sehr lückenhaftes Wissen über das Leben in den USA habe. Das bestätigte sich in den Gesprächen der übrigen Tage immer wieder.
Auch die Auffassung von Kulturwerten zeigte sich im unvermuteten starken Interesse an technischen Kulturgütern, wie dem – allerdings wirklich sehr schönen – Wasserturm am südlichen Stadtrand von Ahlen. Am Tag seiner Abreise fragten wir Derek, wohin die Reise ihn nun führe. Seine Antwort gab uns erneut ein Rätsel auf: Er flöge nun in die USA zurück und werde dort zunächst in der Umgebung von Boston einen „Führerschein“ besorgen. Mit Staunen erahnten wir mehr als das wir es verstanden, dass er auch als Fußgänger einen „Führerschein“ benötige um sich von der Polizei unbehelligt im öffentlichen Raum aufhalten zu dürfen.
Derek hatte unser Interesse an den USA auf eine andere Ebene gebracht und unsere Begegnung führte zu einer stärkeren Aufmerksamkeit für alles, was im täglichen Leben mit den USA zu tun hatte. In den letzten Wochen sorgten die Medien dafür, dass diese Aufmerksamkeit zu dem Wunsch führte, mein Bild der USA in einem Beitrag zu diesem Blog zu beschreiben.
In meiner Sammlung der Amerika-Erinnerungen tauchten zunächst die Tarzan-Hefte auf, die in der Schule unter den Bänken weitergereicht wurden, da sie von den Lehrern verboten waren und sofort konfisziert wurden, wenn man sich damit erwischen lies. Als nächstes tauchten die aus den USA stammenden Fernsehserien in meiner Erinnerung auf, die in den 1960-er Jahren in unsere Familie Einzug hielten. Meine Lieblingsserien waren „Mister Ed“ – das sprechende Pferd und „Bezaubernde Jeannie“ – eine Parodie auf Militär und Weltraum-Ambitionen der USA. Weitere Serien waren „Lassie“, „Flipper“, „Bonanza“ oder „Perry Mason“, die für die Weckung des Guten im Menschen und die Verurteilung des Bösen sorgten.
In dieser Zeit trat für mich aber auch eine andere Seite der USA zu Tage. Wir wohnten in Schmedehausen, einer Bauerschaft auf dem Gebiet des münsterländischen Greven, wo an einem Sonntagnachmittag im Saal der Dorfkneipe ein Dokumentarfilm über die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gezeigt wurde. Der Saal war bis zum letzten Platz gefüllt und es wird nur wenige in Schmedehausen gegeben haben, die diesen Film an jenem Sonntag nicht gesehen haben. Der Film hatte seine Wirkung nicht verfehlt: Betroffen und schweigend verließen die Zuschauer nach dem Ende des Films den Saal. Verstört verließ ich mit meinen Eltern den Saal, noch ohne eine Ahnung davon, was diese Erfahrung mit mir und dem Leben im Hier und Jetzt zu tun haben könnte. Doch das änderte sich schon bald: Die Schrecken des Atomkriegs tauchten von nun an immer wieder in Alpträumen auf und übertrugen sich auf die direkte Konfrontation mit den Tieffliegern, die mit höllischem Lärm ihre Übungen vor unserer Haustüre absolvierten. Meine Angst vor einem Atomkrieg erreichte einen Höhepunkt zur Zeit des Baus der Berliner Mauer 1961, als Militärkolonnen unübersehbar die Straßen in Besitz nahmen. Statt des von den Politikern eingeforderten Mitgefühls für die vom Mauerbau betroffenen Menschen wuchs in mir die Hoffnung, dass es zu keiner militärischen Reaktion der Amerikaner kommen würde.
Ein anderes Amerika zeigte sich in meiner Bücherwelt, in der die Indianergeschichten von Karl May und später auch der „Lederstrumpf“ von James Fenimore Cooper einen Schwerpunkt bildeten. Dieses Amerika hatte mehr vom „edlen Wilden“ – den Indianern – als vom ausgewanderten Europäer, der eine freiere und bessere Welt erschaffen wollte. Letzterer war bei Karl May in der Figur des Old Shatterhand verkörpert und stellte eine Minderheit des „weißen Mannes“ dar. Mit ihm konnte ich mich gut identifizieren und er stand Pate, als ich mich mit 14 Jahren für einen Beruf entscheiden musste. Es sollte ein Beruf sein, der meinen schulischen Stärken entsprach und daher mit Mathematik zu tun haben würde. Unsere Nachbarin hatte ein Übriges getan und meiner Mutter eingeredet, der Junge sollte doch zusehen, dass er bei einer Behörde unterkommen könnte – und das 10 km entfernte Münster war (und ist es noch) voll von solchen Einrichtungen. In dieser Ausrichtung fiel mir Old Shatterhand ein, der im wilden Westen als Landmesser beim Eisenbahnbau unterwegs war und ich trat eine Lehre zum Vermessungstechniker beim Katasteramt an. Zu dieser Zeit schenkte mir meine Mutter den Roman „Frühling des Lebens“, der 1939 von der Amerikanerin Marjorie Kinnan Rawlings geschrieben wurde und die Geschichte eines 13-jährigen Jungen erzählt, der in Florida auf einer Farm lebt und eine innige Beziehung zur Natur entwickelt. Sein weiteres Schicksal würde durch die harte Arbeit als Farmer bestimmt sein und wenig Platz für Sentimentalitäten lassen. Auch hier kam ein Wesenszug des amerikanischen Pioniers zum Vorschein, der meiner Lebenssituation nahe war und mich in meiner Berufswahl bestärkte – nämlich nicht Bauer sein zu wollen und dennoch in frischer Luft und freier Natur arbeiten zu dürfen. Diese Vorstellungen musste ich allerdings im Bürobetrieb des Katasteramtes sehr schnell korrigieren (Dabei war die Erkenntnis, dass die Eisenbahnvermessung gar nicht vom Katasteramt, sondern von der Bundesbahn selbst durchgeführt wurde noch das kleinere Aha-Erlebnis).
In den ersten 5 oder 6 Jahren meiner Schulzeit kam Amerika nach meiner Erinnerung im Unterricht nicht vor. Erst als Lehrer Schirra unsere Klasse übernahm, rückten die USA wieder stärker in den Wahrnehmungsbereich hinein. Lehrer Schirra war nämlich ein Namensvetter des US-Astronauten Walter M. Schirra, der zwischen 1962 und 1968 an drei Raumflügen der NASA teilgenommen hatte. Unser Lehrer hatte dem Astronauten Schirra einen Fanbrief geschrieben um ein Autogramm zu erhalten und er ließ keine Gelegenheit aus, auf seine Beziehung zu dem Astronauten hinzuweisen. Ansonsten beschränkte sich die Vermittlung von Länderkenntnissen auf den Geschichts- und Erdkundeunterricht. Die Eckpunkte waren – wie zu vermuten sein wird – die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus, die Eroberungen Spaniens und die damit einhergehende Ausrottung der angestammten Bevölkerung Amerikas unter dem Kommando von Hernán Cortés und Francisco Pizarro sowie die Intervention des Dominikaners Bartolomé de Las Casas.
Hin und wieder tauchten US-Amerikaner in meiner frühen Jugendliteratur als Entdecker wie Henry Morton Stanley oder als Erfinder wie Thomas Alva Edison und Pioniere wie Charles Lindbergh auf. Sie hatten aber wenig Einfluss auf mein Bild von Amerika sondern sie stellten herausragende Personen dar, die ohne besondere Abgrenzung in einem Zug mit europäischen Erfindern, Endeckern oder Pionieren genannt werden konnten. Später kam auch amerikanische Literatur von Hemingway, Steinbeck und natürlich Mark Twain hinzu. Sie hatten schon einen größeren Einfluss auf mein Bild der USA, das nun mit Freiheit, Genuss, Wechselfällen des Lebens und Abenteuerlust ausstaffiert wurde. Es gewann vor allem an Weite, die das Gewicht der USA als Sehnsuchtsort begreiflich machte, einem Ort, den zu erreichen man die größten Strapazen auf sich nahm um ein neues Leben zu beginnen, wie es schon mein Großvater angedeutet hatte, als er mir von den beiden Kusinen erzählte, die nach Amerika ausgewandert waren. Bestätigt wurde dieser Eindruck auch durch jenen Lehrlings-Kollegen, der das Glück hatte, in die USA auszuwandern. Wenn das Gespräch sich auf dieses Thema zubewegte konnte ich die Aura eines „Erwählten“ spüren, ohne dass ich wusste, worauf dies zurückzuführen war. Es war ein Rätsel, dass in meiner Erinnerung immer wieder einmal auftauchte.
Den größten Einfluss auf mein Bild der USA im Erwachsenenalter hatten sicher unzählige Hollywood-Filme, die ich überwiegend aus Fernsehprogrammen konsumierte, Musik von Glenn Miller über Elvis Presley, Simon & Garfunkel, Louis Armstrong, Bob Dylan, Janis Joplin und vielen anderen des Jazz, des Rock- und Popgenres bis hin zu Künstlern und Künstlerinnen wie Laurie Anderson. Als mächtiger Wirtschaftsfaktor brachte sich die amerikanische Filmindustrie in Europa zur Geltung. Filme wie Easy Rider oder Bonnie und Clyde sowie unzählige Western, von denen ich nur Zwöf Uhr mittags und Spiel mir das Lied vom Tod erwähne. Eine andere Seite des US-amerikanischen Einflusses auf die deutsche Kinowelt waren die Pornofilme, die ab 1975 in den PAM-Kinos liefen, wobei die Abkürzung PAM für „Pub and Movies“ stand.