Onkel Heinrich – in der Familie immer nur münsterländisch Hinnink oder Heini genannt – war Anfang der neunziger Jahre in betagtem Alter in Westbevern gestorben. Er war eines von 7 Kindern gewesen und der zweite von vier Brüdern, die den zweiten Weltkrieg überlebt hatten. Sein ganzes Leben lang war er nicht über die engere Heimat, die gerade noch die Nachbardörfer von Westbevern erfasste, hinausgekommen. Seine Welt konnte er noch gut mit dem Fahrrad als seinem einzigen Verkehrsmittel durchfahren. Als Kind traf ich ihn häufig sonntags bei meiner Tante in Telgte, wenn er dort zum Kirchgang war. Bis zum mittleren Alter bediente er sich seines Fahrrads, mit zunehmendem Alter nahm ihn der Bauer häufig in seinem Auto mit. So wurden die Besuche bei seiner Schwester immer seltener und irgendwann hörten sie auf. Von jenem Zeitpunkt an drehte sich die Besuchsrichtung um und Onkel Heini geriet nur sporadisch aus besonderen Anlässen in mein Blickfeld.
Wie alle seine Geschwister war Onkel Heini „in Stellung„, das bedeutete für ihn – wie für die übrigen Geschwister mit Ausnahme meiner Mutter – er war bei einem Bauern als landwirtschaftliche Hilfskraft tätig. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Bauern ging weit über ein Arbeitsverhältnis hinaus, er hatte nahezu die Stellung eines „Öhm anne Muer„, d. h. eines unverheirateten Bruders des Bauern, der sich dem Hof zur Verfügung stellte. Diese Rolle ging zurück auf das jugendliche Alter, in dem Onkel Heini seinen Dienst antreten musste und den Umstand, dass er in seiner geistigen Entwicklung hinter seinen Geschwistern zurück geblieben war und Bettnässer war. Diese Handicaps wurden in der Kommunikation der Familienmitglieder unter dem Synonym „tirpken“ zusammengefasst. Die Bedeutung dieses Wortes hat sich mir bis heute nicht erschlossen und es hat diesem Onkel einen Hauch von Geheimnis verliehen. Auch ohne diesen Nimbus hatte die Persönlichkeit bei mir tiefe Eindrücke hinterlassen. Sein gesundes Aussehen mit der kräftig roten Farbe im runden Gesicht und die fragende naive Redeweise erzeugten bei mir den Eindruck ursprünglicher und unschuldiger menschlicher Natur. So ist es wohl zu erklären, dass sich am Tag seiner Beisetzung nach Jahren der nur sporadischen Kontakte zu ihm eine tief empfundene Trauer bemerkbar machte.
Bereits im Kindesalter hatte mir der Großvater vom Leben in den Dörfern des Münsterlandes erzählt und auch die Zeiten der Kriege nicht ausgespart. Hierzu gehörten seine Erlebnisse in den Schützengräben von Verdun mit den grausamen Gefahren durch Gasangriffe und sein Stolz auf seine Auszeichnung mit dem Eisernen Kreuz. Aus seinen Erzählungen aus der Zeit des Nationalsozialismus ist mir in Erinnerung geblieben, dass er seinen Sohn Heinrich, eben jenen Onkel Heini, vor dem Zugriff durch die Nationalsozialisten gerettet hatte, indem er persönlich bei der Gemeindeverwaltung gegen die schriftlich angeordnete Zwangssterilisation seines Sohnes protestierte. Seinen Widerspruch zum Nationalsozialismus hatte er offen zum Ausdruck gebracht, indem er den Hitlergruß verweigerte und dem ein „grüß Gott“ entgegen setzte. Damit befand er sich vereint in dem breiten Widerstand des münsterländischen Katholizismus gegen den Nationalsozialismus, der zu einer vorsichtig taktierenden Haltung der politischen Institutionen im Münsterland geführt hatte.
Onkel Heini verkörperte für mich auf Grund seiner Errettung vor den Nazis einen lebenden Beweis für Zivilcourage und den Sinn authentischen Widerstandes gegen lebensverachtende Systeme.