Es war Anfang der 1990er Jahre, als ein unbekannter Mann vor unserer Haustür stand und unsere Tochter den Besucher bei ihren Eltern mit den Worten: „Da steht ein finster aussehender Mann vor der Tür“ anmeldete. Gespannt ging ich zur Tür und sah einen kleinen gedrungenen Mann mit Brille, buschigen dunklen Augenbrauen und buschigem dunklen Schnauzbart, den ich sehr schnell als alten Bekannten identifizierte und in das Haus herein bat.
Der Besucher stellte sich zunächst als neuen Fast-Nachbarn vor. Er hatte eine Haushälfte mit drei Wohnungen in unserer Nähe gekauft und bewohnte mit seiner Frau und zwei Söhnen eine der Wohnungen in diesem Haus. Nach und nach ergab sich aus dem, was er über die Zeit der Abwesenheit aus Ahlen zu berichten hatte eine Geschichte, die in jene Zeit zurückreichte, als sich seine Spur für mich verwischt hatte.
Rückblende I
Unsere Bekanntschaft ging auf das gemeinsame Engagement bei den GRÜNEN in der Mitte der 1980er Jahre zurück. Kurz vor der Kommunalwahl 1984 war er bei den GRÜNEN in Ahlen aufgetaucht und hatte mit seiner schwangeren Frau und dem etwa zwei Jahre alten Sohn eine Wohnung in einer Arbeitersiedlung am Stadtrand bezogen. Besonderes Interesse erweckte die Herkunft seiner Frau, die er zusammen mit dem gemeinsamen Kind aus Samoa mitgebracht hatte. Bei einem schon bald abgestatteten Kennenlernbesuch in der Wohnung der Neubürger fanden sich interessierte Parteiaktivisten neben Mutter und Schwester des neuen Parteimitglieds zur Begrüßung des Gastes aus Samoa ein. Wir standen zusammen in einem kahlen Raum, auf dessen Boden eine verschüchterte junge Frau mit ihrem Kind auf einer dünnen Unterlage aus Decken saß, an der Wand standen einige Gepäckstücke, die die gesamte Habe des Paares darstellten. Statt freudiger Begrüßung gab es verhaltenes Lächeln für die samoanische Frau, gefolgt von betretenem Schweigen. Es war wohl allen Anwesenden – ohne es auszusprechen – sehr schnell bewusst, dass eine Begrüßung unter diesen materiellen Bedingungen nicht in angemessener Weise stattfinden konnte. Die einzig angemessene Reaktion auf die Situation war hier Hilfe in jeder Hinsicht.
Schon bald war die Familie mit dem Notwendigsten versorgt und es kam zu ersten persönlichen Kontakten zu der Frau, die außer ihrer Muttersprache nur ein schwer verständliches Englisch sprach. Aus ihren und ihres Mannes Äußerungen wie auch aus den wahrnehmbaren Lebensumständen wurde bald deutlich, dass sich die Frau in totaler Abhängigkeit von ihrem Mann befand und diese Abhängigkeit auch gezielt von ihrem Mann aufrecht erhalten wurde. Sie durfte weder allein zum Einkaufen gehen und nur die Lebensmittel zu sich nehmen, die von ihm eingekauft wurden. Soziale Kontakte wurden durch seine nahezu ständige Abwesenheit weitgehend unmöglich gemacht. Mit diesen Feststellungen konfrontiert, entgegnete der finstere Mann, er wünsche nicht, dass seine Frau in die verdorbene Kultur Deutschlands integriert werde, vielmehr solle sie ihre samoanische Lebensweise beibehalten und er berief sich auf die Zielsetzungen, wie sie von der Partei bzw. der grün-alternativen Bewegung formuliert wurden.
Mit diesem Argument konnte bei den GRÜNEN in jener Zeit sehr vieles gerechtfertigt werden oder zumindest in eine diskussionswürdige Frage verwandelt werden, die damit nicht das Problem der grün-alternativen Bewegung, sondern eine des politischen Establishments wurde. Das Spektrum reichte von der Gewaltanwendung gegen Sachen zur Durchsetzung politischer Ziele, über milde Formen der Päderastie, Auflösung der Bundeswehr bis zu umwälzenden Veränderungen der Wirtschafts- und Sozialsysteme. In diesen Zusammenhang sind auch die erneut aufgenommenen Ansätze der Lebensreform-Bewegung zu stellen, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder für öffentliche Diskussionen sorgten. Zu all diesen Themen und noch mehr fanden sich Programme, Programmentwürfe, Diskussionspapiere und Literatur auf den Büchertischen an den Info-Ständen der GRÜNEN. Auf dem Büchertisch des GRÜNEN-Ortsverbandes lag unter anderem auch ein Sonderdruck der Zeitschrift „Graswurzelrevolution“ mit einem Abdruck aus dem 1920 als fiktive Reiseerzählung verfassten Buch „Der Papalagi“ von dem Schriftsteller Erich Scheurmann. Scheurmann hatte auf Kosten seines Verlags ein Jahr in Samoa gelebt und sollte diesem eine Südseegeschichte abliefern.
Das Buch handelt von 11 fiktiven Reden eines samoanischen Häuptlings an sein Volk. Er berichtet von seiner Reise nach Europa und warnt sein Volk vor den dort herrschenden Wertvorstellungen. Der Autor erzählt in dem Buch wenig über die Lebensart der Bewohner Samoas sondern lässt den Häuptling die Sicht des Samoaners auf die europäische Kultur zum Ausdruck bringen, wie sie nach Ansicht des deutschen Autors sein sollte. Der Autor benutzt dabei die damals verbreiteten Klischees der Kolonialmächte über die von ihnen unterdrückten Völker und benutzt dazu eine kindlich-naive Ausdrucksweise um einfache Weisheiten zu verkünden.
Die Hintergründe der Entstehung des Textes waren mir nicht bekannt und vielen der angesprochenen Kritikpunkte in der Rede des Häuptlings konnte ich zustimmen, so dass ich in unserem Neuzugang aus Samoa eher einen zum Papalagi mutierten Europäer sah, als den, der er dann später im Lichte der Geschehnisse wurde. Im übrigen war ich nur indirekt durch Dritte mit den Lebensverhältnissen seiner Familie konfrontiert. Von nun an werde ich ihn in dieser Geschichte Papalagi nennen.
Schon nach kurzer Zeit seit ihrer Ankunft in Ahlen kam es bei der Frau des Papalagi aufgrund einseitiger Ernährung – vorwiegend als Linsengerichte – zu Mangelerscheinungen, die einen Krankenhausaufenthalt erforderlich machten. Der Säugling wurde für die Zeit des Krankenhausaufenthalts in meiner Familie untergebracht. Nach Abschluss der Behandlung reiste die Frau mit dem Kleinkind nach Samoa zurück. Ihr Mann zeigte sich von dieser unfreiwilligen Trennung nicht berührt. Nun konnte er sich ganz der Parteiarbeit widmen und dem kleinen Ortsverband die von ihm gewünschte Kontur geben. Doch das gelang nur bedingt, nämlich nur soweit es um öffentlich wirksame Darstellung der Partei ging, in der innerparteilichen Diskussion hielt er sich weitgehend zurück. Nach der Kommunalwahl wurde das Ratsbüro im Rathaus mit dem Papalagi besetzt, wodurch sein Aktionsradius und seine Einflusssphäre sich nun auch auf die Ratsarbeit der GRÜNEN und die Mitarbeiter im Rathaus erstreckte. Allgemein kann sein politisches Verhalten so charakterisiert werden, dass die fester werdenden Strukturen der im Entstehen begriffenen Partei eher demotivierend auf den Papalagi wirkten und seine Beteiligung an programmatischen und strategischen Diskussionen weitgehend zum Erliegen brachten. Sein Interesse lag in der persönlichen Lebensgestaltung, die mit grün-alternativen Zielsetzungen verbrämt wurden. Hierzu gehörte zum Beispiel sein Kleidungsstil, der betont adrett aus Anzug mit Krawatte bestand, wobei die Kleidungsstücke aus der Kleiderkammer der Caritas beschafft wurden, oder die Anschaffung von teuren Statussymbolen wie etwa eines fabrikneuen Akkordions, das er jedoch nicht bespielen konnte und das auch nie von ihm bespielt wurde. Schließlich streckte er seine Fühler nach Österreich aus, wo er bereits vor seiner Zeit in Ahlen eine alternative Landwirtschaft betrieben hatte und in Konflikt mit den ortsansässigen Bauern und dem Gesetz gekommen war. Dort nahm er Kontakt zu einer Gemeinschaft von Aussteigern auf, die gemeinsam eine Landkommune in Südfrankreich aufbauen wollten. Nach seiner endgültigen Abreise in Richtung Österreich-Südfrankreich verlor sich seine Spur.
Rückblende II
Die folgenden Ereignisse basieren teils auf Angaben des Papalagi selbst, seiner Frau und eigener Wahrnehmung. Der Bericht des Papalagi über seine Erfahrungen in der südfranzösischen Landkommune fiel kurz aus: Die Reglementierungen und Arbeitsbedingungen in der Gemeinschaft entsprachen so gar nicht seinen Vorstellungen und er nahm sein ganz individuelles Aussteigerprojekt wieder auf. Er reiste Frau und Kind nach Samoa nach und wurde dort auf Fürsprache seiner Frau wieder in ihre Familie aufgenommen. Nicht nur das, er bekam eine Arbeitsstelle als Englischlehrer und bezog Sozialleistungen für Frau und Kind aus Deutschland. Aus nicht bekannten Gründen kam er mit Frau und zwei Kindern nach Deutschland zurück und ließ sich in Lindau am Bodensee in sehr bescheidenen Wohnverhältnissen nieder. Es war die Zeit des Niedergangs im real existierenden Sozialismus und es war dem Papalagi gelungen, mit Diplomatenstatus ausgestattet für die Bundesrepublik Deutschland als „Kulturbotschafter“ nach Ungarn entsandt zu werden. Dort unterrichtete er an einem Gymnasium die Fächer Deutsch und Englisch. Auch dort lebte seine samoanische Frau in weit gehender sozialer Isolation, die auch den Kontakt zu ihren Kindern in sprachlicher und erzieherischer Hinsicht einbezog.
Nach Ablauf des Kulturprogramms in Ungarn schloss sich eine Entsendung nach Bulgarien an. Während dieser Zeit hatte die Familie so sparsam gelebt und gute Einkünfte gehabt, dass die Ersparnisse für die Anschaffung eines Kleintransporters und den Kauf eines Hauses in Ahlen reichte.
Als zu bescheidenem Wohlstand gekommener Hausbesitzer saß mir nun der Papalagi gegenüber. Sein Besuch hatte mich in gemischte Gefühle versetzt und ich konnte mir über mein Verhalten ihm gegenüber nicht schlüssig werden. Einerseits wiesen die beruflichen Aktivitäten und die Investition in Immobilienbesitz konventionelle Züge auf, andererseits hatten sich in seinem Auftreten, seiner persönlichen Ausstrahlung und seinem Stil keine Anzeichen für eine grundlegende Veränderung gezeigt. „Jeder hat eine zweite Chance verdient“ und vor allem seiner Frau und der Kinder wegen beschloss ich, mir nach einer Zeit kritischer Begleitung ein Bild von den neuen Fast-Nachbarn zu machen.
Eine erste Gelegenheit zum Kennenlernen der Familie ergab sich, nachdem der Papalagi mich gebeten hatte, einige handwerkliche und zeichnerische Arbeiten im Zusammenhang mit dem Umbau des ehemals als Friseursalon genutzten Erdgeschosses seiner Haushälfte zu übernehmen. Die Zusammenarbeit zur Erreichung der gesteckten Ziele und die Aufnahme in der Familie gestaltete sich freundschaftlich und wurde zunächst mit Dia-Abenden und Berichten über die Aufenthalte in Samoa, Lindau, Ungarn und Bulgarien fortgesetzt. Die Erläuterungen des Papalagi zu den Bildern von Samoa wurden von seiner Frau häufig korregiert und es zeigten sich in vielen Bewertungen der samoanischen Kultur unterschiedliche Sichtweisen. So etwas kommt unter Eheleuten allgemein häufig vor und hat nicht viel zu sagen – wenn es nicht der Papalagi wäre.
Nach einigen Wochen hörte ich von den ersten Bemühungen des Papalagi um Arbeit. Zunächst war er als Lehrer für Deutsch als Fremdsprache an der Volkshochschule tätig. Das ging nicht lange gut, da er sich auf Diskussionen um kulturelle Unterschiede im Zusammenhang mit dem Verhalten seiner ausländischen Schüler einließ und pädagogisches Geschick vermissen ließ. Der nächste Anlauf, als Lehrer tätig zu werden, fand in einer sauerländischen Kleinstadt statt. Nach wenigen Monaten erfuhr ich, dass es auch dort Probleme im Lehrer-Schülerverhältnis gegeben habe und die Stellensuche neu beginnen musste. Diese gestaltete sich allerdings nun schwieriger und andere Finanzquellen mussten erschlossen werden. Zu diesem Zweck wurden die Wohnungen des Hauses in Eigentumswohnungen umgewandelt und eine dieser Wohnungen sollte verkauft werden, sobald der noch in ihr wohnende Vorbesitzer des Hauses ausgezogen wäre.
Während dieser Zeit passierte es: eine im Hof abgestellte Schaufensterscheibe des früheren Frisörgeschäfts fiel durch einen heftigen Windstoß um und verursachte an dem im Hof abgestellten Auto des besagten Vorbesitzers einen größeren Schaden, der vom Papalagi zu beheben war. Ihm fehlte das Geld dazu und eine Haftpflichtversicherung hatte er nicht. Um sich des Zugriffs auf sein Vermögen zu entziehen, übertrug er das Haus auf seine Frau und setzte sich selbst als Hausverwalter ein.
Der geplante Verkauf der Wohnung konnte nach einigen Monaten erfolgen. Seine Zeit verbrachte der Papalagi damit, über den Verein für Deutsche Kulturbeziehungen im Ausland (VDA) Schüler einzuladen, um die er sich kümmerte. In dieser Funktion konnten wir Kostproben seiner pädagogischen Versuche kennenlernen – Sprüche, die viele von ihren Eltern kennen, wie „bei uns in Deutschland wird der Teller leer gegessen“ – und uns als „Notfallhelfer“ für die Jugendlichen betätigen. Die meisten Jugendlichen mussten in anderen Familien untergebracht werden oder brachen den Austausch ab. Gleichzeitig bemühte sich der Papalagi, eine Anstellung als Lehrer im Ausland zu bekommen und er hatte Erfolg dabei. Erneut ging er als Lehrer nach Ungarn und besuchte seine Familie in Ahlen nur selten. Seine Frau hatte eine Anstellung als Bedienung in einem Cafe angenommen, da sie von ihrem Mann kein Haushaltsgeld bekam. Die Besuche des Papalagi wurden immer seltener und es ergaben sich Hinweise darauf, dass er in Ungarn eine neue Beziehung eingegangen war. Die Konsequenz hieraus war die Scheidung der Ehe, gegen die sich der Papalagi mit allen Mitteln wehrte, da er damit seinen Wohnsitz in „seinem“ Haus verlieren würde. Nach heftigen Auseinandersetzungen, die bis zu körperlicher Gewalt reichten, gelang es, den Ehemann aus der Wohnung zu vertreiben.
Was nun folgte, offenbarte Motive des Papalagi, die nichts mit seiner Sehnsucht nach dem einfachen Leben im Stil des „edlen Wilden“ zu tun hatten, sondern seine narzistische Persönlichkeit in aller Verschlagenheit zum Ausdruck brachten. Zunächst versuchte er, „sein“ Haus zurückzuerhalten indem er die Schenkung an seine Frau wegen Undankbarkeit für ungültig erklären lassen wollte. Gleichzeitig versuchte er, durch Briefe an die Arbeitgeber seiner Frau, deren Ruf soweit zu schädigen, dass sie ihre Anstellung verlieren würde. Er schrieb Briefe ähnlichen Inhalts an das Gymnasium, das von seinen Söhnen besucht wurde und an die Ausländerbehörde, die eine Rückführung seiner Frau nach Samoa veranlassen sollte. Alle diese Bemühungen blieben fruchtlos, doch es gab ja noch den Zugewinnausgleich im Scheidungsverfahren.
Das Oberlandesgericht Hamm sprach dem Papalagi den halben Wert der beiden verbliebenen Wohnungen zu und setzte den Wert so hoch an, dass eine Beschaffung der Geldmittel zur Befriedigung seines Anspruchs durch seine geschiedene Frau nicht möglich war. Die Festsetzung des Wertes entbehrte jeder nachvollziehbaren Grundlage und brachte in der Urteilsbegründung eine Weltfremdheit zum Ausdruck, die an Frauenfeindlichkeit oder Rassismus oder beides in Kombination erinnerte. Der Richter machte seinem spanischen Namen und der spanischen Geschichte als Kolonialmacht alle Ehre.
Der Kampf des Papalagi um sein Eigentum nahm nun erst recht Fahrt auf. Als nächstes ließ er auf eine der Wohnungen eine Zwangshypothek zur Sicherung seines Anspruchs eintragen. Darüber hinaus leistete er keinerlei Zahlungen, weder an die Bank für die von ihm eingegangenen Kreditverpflichtungen noch für den Unterhalt seiner Söhne. Auch die gerichtlich gegen ihn durchgesetzten Unterhaltsverpflichtungen wurden nicht erfüllt. Notgedrungen musste er jedoch schließlich einer Aufrechnung seiner Zugewinnansprüche gegen seine Unterhaltspflichten zustimmen.
Seine Bemühungen, seine Familie zurück nach Samoa zu schicken gab er nie auf. Noch bis kurz vor seinem Tod schrieb er an seine geschiedene Frau, er selbst wolle sie und die Kinder auf seinem Segelboot – dessen Bau er wirklich in Auftrag gegeben hatte – nach Samoa begleiten. Eine Zukunft in Deutschland sei auch für die Kinder kein erstrebenswertes Ziel, da das Land im Niedergang begriffen sei.
Was als scheinbar politisch-philosophisch motivierte Geschichte begonnen hatte, endete als Tragödie eines einsamen verbitterten Mannes, der unfähig war, ein gutes Leben zu gestalten.