Deutschland nach der Europawahl 2024 – Eine ganzheitliche Betrachtung

Selten hat ein Wahlergebnis soviel Erregung verursacht, wie die Wahl zum Europäischen Parlament in der Zeit vom 6. bis 9. Juni 2024. In Deutschland und in Frankreich ist sie in den Rang einer Schicksalswahl erhoben worden. Im Hinblick auf die anstehenden Wahlen zu drei deutschen Landtagen im September 2024 (Sachsen und Thüringen am 01.09. und Brandenburg am 22.09.) und der vom französischen Präsidenten in spontaner Reaktion auf das Wahlergebnis angesetzten Parlamentswahl am 30.06.2024 und deren Ergebnissen werden in diesen Ländern die möglichen Verschiebungen im politischen Gefüge besonders intensiv diskutiert. In diese Diskussionen wirken die Ereignisse im Vorfeld der bevorstehenden US-Präsidentschaftswahl mit den schwachen Auftritten des zur Wiederwahl angetretenen Präsidenten Joe Biden und dem – einem tödlichen Attentat knapp entgangenen – Kandidaten der Republikaner hinein. Hier werden in gedrängter Form die Abhängigkeiten zwischen den USA und Europa sichtbar. Dabei spielt Donald Trump als Kandidat der Republikaner die große Unbekannte für die europäische und insbesondere die deutsche Politik. Im Vordergrund stehen die zukünftige Haltung der USA zum Krieg in der Ukraine und zur NATO, die nach den wiederholten Ankündigungen Trumps einer Priorität von „America First“ im Bezug auf die NATO für Deutschland zu enormen Belastungen des Staatshaushalts führen können.

Bereits im Wahlergebnis zur Europawahl haben die in Deutschland begonnenen Diskussionen um die politischen Zeichen am westlichen Horizont eine Spaltung des Landes in einen östlichen Bereich, der identisch mit der ehemaligen DDR ist und einen westlichen Bereich, der identisch mit der alten Bundesrepublik ist, sichtbar gemacht.

Eine neue Parteienlandschaft

Nachfolgend werde ich mich auf die Situation in Deutschland beschränken und von der Situation im Hinblick auf die eingangs erwähnten Landtagswahlen ausgehen. Kennzeichnend für alle drei Wahlen ist, dass sie in drei der fünf ehemals zur DDR gehörenden Bundesländer stattfinden. In diesen Ländern – wie auch insgesamt in den östlichen Bundesländern – haben sich deutliche Eigenheiten im Wahlverhalten gezeigt, die einerseits eine geringe Scheu vor dem überkommenen politischen Personal der ehemaligen DDR erkennen lassen und ein Fortbestehen linker Nachfolgeorganisationen des untergegangenen Regimes ermöglichten, andererseits aber die Etablierung westdeutscher liberaler und ökologischer Parteien verhinderten. Auch diese, in einem Zeitabschnitt von ca 30 Jahren, gefestigten Strukturen haben sich mit dem Entstehen der „Alternative für Deutschland“ (AfD) und dem in jüngster Zeit von der Partei „Die Linke“ abgespaltenen „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) neue Optionen ergeben, deren praktische Bedeutung mit den in der folgenden Tabelle dargestellten Wahlergnissen deutlich wird.

Für die drei kurzfristig anstehenden Landtagswahlen ergibt sich aus den Zahlen der Europawahl ein Szenario, in dem selbst bei Zusammenschluss aller vier etablierten Parteien keine Mehrheitsbildung gegen AfD und BSW möglich erscheint. In Sachsen stehen dem Block der drei Parteien (Union, SPD, Grüne) mit 34,6% BSW und AfD zusammen mit 44,4% gegenüber. In Thüringen stehen Union, SPD und Linke zusammen mit 37,6% den beiden anderen Parteien mit zusammen 45,7% gegenüber. In Brandenburg stehen 37,5% (Union, SPD, Grüne) 41,3% von AfD und BSW gegenüber. Aus den Daten geht hervor, dass die Parteien der Ampelkoalition nach den Ergebnissen der EU-Wahl weder in den alten noch in den neuen Bundesländern eine Mehrheit hätten. In den alten Bundesländern wäre lediglich ein Regierungsbündnis realistisch, in dem die SPD durch die CDU ersetzt würde. Dagegen besteht auch diese theoretische Möglichkeit für die neuen Bundesländer nicht. Hier sind Koalitionen ohne Einschluss der AfD realistisch nur als Allparteienkoalitionen denkbar, die einer Abdankung des Parlamentarismus gleich käme und die Teilhabe großer Bevölkerungsteile an der politischen Gestaltung unterbinden würde. Grundsätzlich ergibt sich hieraus für die bisher koalierenden Parteien die Frage, wie sie sich gegenüber den beiden neuen Optionen verhalten wollen. Von besonderer Bedeutung ist dabei hinsichtlich der AfD die Entscheidung, ob es vertretbar ist, eine auf die Zerstörung der Werteordnung des politischen Systems ausgerichtete Partei in Machtpositionen des Systems einzubinden und bezüglich des BSW die Frage, ob die Programmatik der bisher aus nur wenigen Mitgliedern bestehenden Partei hinreichend gefestigt ist um ihre politische Ausrichtung zu erkennen und zu stabilen Regierungsverhältnissen zu kommen.

Diese – nur theoretisch aufgezeigten – Konsequenzen werden in den nachfolgenden Übersichten für Deutschland als Gesamtheit und für die deutschen Bundesländer auf der Basis der Wahlergebnisse der Europawahl mit Zahlen hinterlegt. Die Daten und die Grafik für Deutschland sind der Wikipedia entnommen.

In der Grafik des Gesamtergebnisses für Deutschland zeichnet sich die Tendenz zu einem 6-Parteien Parlament ab, in dem neben den über mehrere Jahrzehnte bestimmenden Parteien CDU/CSU, SPD, FDP und GRÜNE nun AfD und BSW eine entscheidende Rolle spielen können. Insgesamt deutet sich eine stärker interessengeleitete Parteienstruktur an, die in einem relativ großen „Rest“ kleiner und kleinster Parteien sichtbar wird. Bei der Bundestagswahl 2021 betrug der Anteil des vergleichbaren „Restes“ unterhalb der 5%-Grenze 8,7% im Vergleich zu 16,8% bei der Europawahl 2024. Ursachen hierfür sind in dem herabgesetzten Wahlalter auf 16 Jahre bei der Europawahl im Gegensatz zu 18 Jahren bei der Bundestagswahl und bei der Aufhebung der 5%-Klausel bei der Europawahl zu suchen. Hieraus ergibt sich ein Potential zur Umverteilung im Bezug auf die nächste Bundestagswahl, so dass diese Verteilung – vor allem bei den Parteien nahe der 5%-Grenze – ein wesentlich anderes Bild ergeben kann.

In dem oben aufgezeigten Szenario ständen sich in den alten Bundesländern Union, SPD, Grüne und FDP mit zusammen 66% den beiden anderen Parteien gegenüber, die zusammen auf 22,1% kämen. Für die neuen Bundesländer ergeben sich 41%, die 42,7% gegenüber ständen. In dieser Rechnung übernimmt die FDP die Stelle der Grünen. Diese Szenarien dienen lediglich der Verdeutlichung, wie dramatisch die sich abzeichnenden politischen Verwerfungen sind, die sich in dem Europa-Wahlergebnis abzeichnen. Sie verdeutlichen auch, dass sich die Probleme überwiegend auf die besondere Situation der östlichen Bundesländer beziehen.

Darüber hinaus deutet der aufgezeigte Trend einer Aufsplitterung der politischen Landschaft auf grundsätzliche Probleme des politischen Systems hin, die zunächst das Problem der politischen Reaktion auf Veränderungen in technisch-wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen betreffen und zunehmend durch spezifische Parteibildungen in die Parlamente getragen werden. Diesem Trend steht die gebetsmühlenartig wiederholte Forderung aus Wirtschaft, Politik und Wählerschaft nach Entbürokratisierung und Deregulierung gegenüber. Es kommt hierin die oft verschwiegene Erkenntnis zum Ausdruck, das es einen militärisch-industriellen Komplex gibt, der den Fortschritt der Industriegesellschaften weitgehend getragen hat und nach den jüngsten internationalen Entwicklungen aus sich heraus Forderungen an die Gesellschaft nach Regeln und Normen stellt. Grundsätzlich gilt weiterhin, dass jeder der Natur abgerungene Fortschritt Regelungen nach sich zieht, die zu einem erheblichen Wachstum an technischen und gesetzlichen Normen führen und eine hohe Regelungsdichte bewirken. Hierin ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Wesentlichkeitstheorie) auch ein Preis der Demokratie zu sehen, der von allen Mitwirkenden im System zu tragen ist. Dieser Aspekt kommt in den Darstellungen der Medien kaum zum Ausdruck und trägt nicht zu deren Glaubwürdigkeit bei. Es ist der Öffentlichkeit keineswegs entgangen, dass den politischen Versprechungen eines bürgerfreundlichen Staates in der Regel statt weniger Bürokratie noch mehr Bürokratie folgt.

Nachfolgend gebe ich die Europa-Wahlergebnisse für die Bundesländer nach dem Stellenwert der Parteien in der Rangfolge vom ersten bis zum fünften Platz wider. Als untere Grenze wird die 5%-Hürde zu Grunde gelegt. Diese wird bereits auf dem fünften Platz bei den Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt von keiner Partei erreicht. Auf eine Darstellung des sechsten Platzes wurde ganz verzichtet, da dieser innerhalb des Darstellungskriteriums lediglich in Bayern von den Freien Wählern, in Berlin von der Linken, in Bremen vom Bündnis Sahra Wagenknecht und FDP, in Hamburg von VOLT und Linken und in Rheinland Pfalz von den Freien Wählern erreicht wird. Zusammenfassend kann hierzu festgestellt werden, dass die Stadtstaaten und Bayern sowie Rheinland-Pfalz ein größeres parlamentarisches Spektrum haben und wahrscheinlich die Spitze der politischen Entwicklung darstellen.

In den Grafiken 2 bis 6 zeichnet sich für die Länder der ehemaligen DDR ein weitgehend politisches Spektrum vom ersten bis zum vierten Rang ab. Erst im fünften Rang zeigt sich eine leichte Differenzierung von geringer Bedeutung. Es ergibt sich daraus für alle ostdeutschen Länder die Rangfolge AfD (blau), CDU (anthrazit), BSW (rotbraun), SPD (rot). Die westlichen Länder der alten Bundesrepublik ergeben im ersten Rang ebenfalls ein geschlossenes Bild im Zeichen der CDU. Weiter abwärts ergibt sich für diese Ländergruppe eine zunehmende Differenzierung, die im zweiten Rang eine Zweiteilung in Nordwest (SPD) und Südost (AfD) zeigt. Der dritte Rang wird in den westlichen Bundesländern von den Grünen (grün) und der AfD gebildet. Im vierten Rang kommt neben diesen beiden Parteien auch die SPD zum Tragen. Ähnlich wie die östlichen Bundesländer zeigen darüber hinaus auch die beiden im Süden gelegenen Länder Baden-Württemberg und Bayern bis hinunter zum vierten Rang eine einheitliche Rangfolge von CDU, AfD, Grüne und SPD. Allgemein kann festgehalten werden, dass die Rolle von Bündnis 90/Die Grünen im parlamentarischen System deutlich an Gewicht verliert und auf dritte und vierte Plätze beschränkt ist. Diesbezüglich erübrigt sich fast der Hinweis, dass ihr Erscheinen in den neuen Bundesländern nur marginal ist. Bezüglich des Saarlandes ist der Hinweis nützlich, dass die Rolle des BSW auf dem vierten Rang vermutlich der persönlichen Popularität des Politikerehepaars Wagenknecht/Lafontaine geschuldet ist.

Die deutliche Absetzung der ehemaligen DDR von der alten Bundesrepublik hat zu vielen Deutungsversuchen der Parteien geführt, die stark von Emotionen durchsetzt sind und in den Medien vorwiegend von einer unterschwelligen westdeutschen Sicht bestimmt sind. Unausgesprochenes  Leitmotiv ist dabei die seit dem Anschluss der neuen Bundesländer an die Bundesrepublik vermiedene Anerkennung positiver Aspekte des DDR-Systems und die Abwertung der Lebensleistung seiner Bürger. Als Beleg dafür wird oft die „Verschleuderung“ ostdeutscher Wirtschaftsgüter durch die Treuhandanstalt genannt. Diese Beurteilung kommt in dem oft zu hörenden Résumé zum Ausdruck, der Grünpfeil sei das einzige, was von den neuen Bundesländern übernommen worden sei. Auch die Implementierung des bundesdeutschen Rechtsund Wirtschaftssystem auf personeller Ebene führt bis in die Gegenwart zu der Kritik, die meisten Führungsstellen in Staat, Verwaltungen und Großunternehmen der neuen Bundesländer seien mit Personen aus den alten Bundesländern besetzt. Es ist nachvollziehbar, dass hieraus Gefühle der Demütigung und Misstrauen entstehen können. So gesehen können die Wahlergebnisse – insbesondere solche auf die EU bezogene – durchaus als summarischer Ausdruck eines Missbehagens an den politischen Verhältnissen gewertet werden. Gerade das Feilbieten der DDR-Betriebe auf dem europäischen Markt und darüber hinaus auch international hat ja nach der Wiedervereinigung die sozialen Notlagen bei den Bürgern der ehemaligen DDR ausgelöst. Damit erfolgte nicht nur im Vergleich zur alten Bundesrepublik ein weiterer Wohlstandsverlust, sondern auch die Gleichstellung mit den anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks unter denen die ehemalige DDR eine Spitzenstellung eingenommen hatte.

Das alles enthebt jedoch nicht von der Suche nach weiteren – tiefer liegenden – Gründen für das deutliche abdriften der politischen Meinung nach rechts. Dabei handelt es sich ja nicht um ein Phänomen, dass auf die DDR beschränkt ist, auch die alten Bundesländer zeigen einen Trend zur konservativer gewordenen MerzCDU und in Süddeutschland auch im zweiten Rang zur rechtspopulistischen AfD. Darüber hinaus ist dieser konservativ-populistisch-nationalistische Trend auch in den ehemaligen Ostblockstaaten sowie vor allem in Italien, Frankreich und den Niederlanden zu sehen. Dennoch stellt die Entwicklung in Deutschland eine Besonderheit dar, die sich in der Reaktion der großen rechtspopulistischen Fraktion im EU-Parlament darin äußerte, dass sie sich von der deutschen AfD distanzierte. Spätestens in dieser Reaktion auf das erstarken nationalistischer Umtriebe in Deutschland ist deutlich geworden, dass der Makel des Nationalsozialismus als geschichtliche Last auf Deutschland liegt und Nationalismus nicht beliebig mit Sinn gefüllt werden kann, denn der Nationalismus setzt definitionsgemäß gerade die Abgrenzung zu anderen Nationen voraus und stellt deshalb im Zeichen der notwendigen internationalen Zusammenarbeit in wirtschaftlichen, ökologischen und humanitären Fragen eine Vorbelastung multinationaler politischer Organe dar, die nur innerhalb vereinbarter Zuständigkeiten überwunden werden kann. Hieran fehlt es aber bei der AfD, die sich nicht eindeutig zur nationalsozialistischen Programmatik und der identitären Bewegung verhält.

Nicht zuletzt wegen der undurchsichtigen Rolle der AfD mit ihren vielfältigen Verbindungen zu rechtsextremistischen Gruppierungen und Initiativen und der Ausstrahlung auf die deutsche Außenpolitik muss es im Interesse des Gesamtstaates liegen, die Gründe für die Entwicklung in den fünf ostdeutschen Bundesländern transparent zu machen und hierauf politisch zu reagieren. An der Bereitschaft, die Verstrickungen auch staatlicher Funktionsträger in die Straftaten des nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) – um nur ein Beispiel zu nennen – aufzuklären, hat es allerdings bisher gefehlt. An diesem Beispiel wird jedoch deutlich, dass eine Verbotspolitik, wie gerade im Fall des Magazins „Compact“ geschehen, nicht ausreicht, weil solche Verbote auf schwache rechtliche Begründungen gebaut sind, das Übel nicht an der Wurzel bekämpfen und zudem den Eindruck von Gesinnungsjustiz beflügeln. Das wirksamste Mittel gegen Extremismus ist gute demokratische Politik, die überzeugend begründet wird! Daran fehlt es in hohem Maße – auch weil der Lobbyismus einen großen Einfluss auf Gesetzgebungsverfahren und Ausführungsverordnungen hat.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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