Heimat – Ein Thema für Politiker?

Heimat – ein Thema für Politiker?

Zu den Grundbedingungen des Lebens als Individuum gehört die Geburt, mit der sein Körper in die durch Raum und Zeit bestimmte Welt eintritt. Damit erhält das Neugeborene seine ersten unauslöschlichen Prägungen. „Der Blutandrang und das Erstickungsgefühl, die das Kind erlebt, bevor die Lungentätigkeit einsetzt, lösen kurzzeitig höchstes Entsetzen aus, dessen körperliche Äußerungen (Atemnot, Kreislaufstörung, Schwindel oder gar Ohnmacht) dazu neigen, in jähen Augenblicken der Angst immer wieder aufzutreten, mehr oder weniger stark. Als ein Archetypus der Wandlung bricht so das Geburtstrauma mit beträchtlicher Gefühlsintensität über den kurzen Moment verlorener Sicherheit und drohenden Todes herein, der jede einschneidende Veränderung begleitet. In der Bilderwelt der Mythologie und Religion sticht dieses Motiv der Geburt (öfter noch der Wiedergeburt) außerordentlich hervor, ja, jede Schwellenüberschreitung – nicht nur diese von der Dunkelheit des Mutterschoßes in das Licht der Sonne, sondern auch die von der Kindheit ins Erwachsenenleben und vom Licht der Welt in das Geheimnis eines Dunkels, das jenseits der Pforte des Todes liegen mag – ist einer Geburt vergleichbar und ist praktisch überall durch Bilder vom Wiedereintritt in den Mutterschoß rituell dargestellt worden.“ (Zitat: Joseph Campbell; „Die Masken Gottes“)

Zunächst verloren im Raum widrigen Bedingungen ausgesetzt, vor denen es noch durch Pflegepersonen geschützt werden muss, erobert das Kleinkind nach und nach den umgebenden Raum, zunächst robbend und krabbelnd, dann mit ersten Steh- und Gehversuchen die Wohnung und schließlich den Garten oder das nähere Umfeld der Wohnung. Die „Eroberung“ seines Erlebnisraums setzt sich für das Kind über die Spielplatzdistanz, zur Kindergartendistanz, zur Grundschuldistanz und schließlich über das Wohnviertel hinaus in die gesamte Stadt – die Heimatstadt – fort. Die Stadt – oder bei großen Städten der Stadtteil – bzw. die Gemeinde sind jene Räume, die für viele Menschen im Jugend- und Erwachsenenalter für einen längeren Zeitraum die Funktion der Heimat übernehmen.

Eine im Sinne des menschlichen Reifungsprozesses gute allgemein gültige Beschreibung von Heimat hat der Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich – ein guter Kenner des sozialen Phänomens Stadt – in den 1980er Jahren gegeben:

Heimat ist gewiß kein objektiver Tatbestand. Es wird nicht gelingen, auch nur entfernt all die Umstände und Gefühle zu bezeichnen, die für eine Steigerung des bloßen Hausens, Wohnens, Schlafens, Essens zum genußvollen Wohnen unerläßlich sind. Die Auffassung, die ich auf die Frage, was eine Wohnung zur Heimat macht, vorschlage, läuft darauf hinaus, daß es nicht schöne Möbel, nicht weiche Teppiche, nicht große Zimmer, nicht helle Fenster, nicht Lage und Kunst des Architekten in erster Linie sind, die darüber entscheiden. . . Um sich beheimaten zu können, bedarf es doch einer Verzahnung mit der menschlichen Umwelt insbesondere; ich will mich niederlassen, und die anderen müssen mir den Platz dazu mit freundlichen Gefühlen abtreten.

Es ließe sich die Definition wagen, daß eine Wohnung durch diese Verzahnung mit der Mitwelt zur wirklichen Heimat wird und es bleibt, solange es nicht nur Gewohnheiten sind, die mich in sie zurückführen, sondern die lebendige Unabgeschlossenheit mitmenschlicher Beziehungen, die Fortsetzung des gemeinsamen Erfahrens, Lernens, mit anderen Worten: eine noch offene Anteilnahme am Leben. Wo ich diese Mitmenschlichkeit finde, teilt sie sich dem Ort und seinen Gegenständen mit, entsteht eine gemütliche Atmosphäre.“ (Alexander Mitscherlich: Konfession zur Nahwelt)

Hier ist auf eine Bedingung hingewiesen, die in der gegenwärtig „wütenden“ Heimatdiskussion in deutschen Landen nicht zum Ausdruck kommt: Die Verzahnung des privaten Raums der Wohnung mit dem öffentlichen Raum der Straße, des Stadtviertels usw., wie sie noch vom Kind in ursprünglicher Weise erfahren wird. Ein Grund für diese Unbeachtlichkeit des Wohnumfeldes ist sicher in vielen Fällen die Tatsache, das dieses Wohnumfeld schlecht gestaltet ist und keinen Anreiz bietet, sich darin aufzuhalten, oder der Berufs- und Alltagsstress ist zu groß, als das die Zeit bliebe, die Angebote in diesem Umfeld in Anspruch zu nehmen und mitzugestalten.

In einer globaleren Perspektive stellt sich dieses Defizit als Endergebnis eines Prozesses dar, der mit der Industrialisierung am Ende des 18. Jahrhunderts begonnen hat und den ich als Voraussetzung für die Bewertung aktueller Tendenzen anhand eines Artikels mit dem Titel „HEIMATSCHUTZ UND DAS ENDE DER ROMANTISCHEN UTOPIE“ zusammengefasst darstellen möchte. Dieser Artikel des – von der neuen Rechten gern in Anspruch genommenen – Historikers Rolf Peter Sieferle, für die Zeitschrift arch+ geschrieben, ist über den Link im Volltext erhältlich.

Den Prozess des Heimatverlusts stellt Sieferle als den Verlust des Wunschortes dar, der vom Programm der deutschen Romantik ersehnt war. Dabei handelte es sich um einen gegenrevolutionären Entwurf gegen das aufklärerische Programm der Verwirklichung einer universellen, allgemeingültigen Vernunft, die gegen die Rechte des Individuums durchgesetzt werden müsste. „Die Idee der Heimat beschwor ein utopisches Bild: den Dreiklang von Volk, Natur und Individuum, eine organische Symbiose, die Wurzel jeder wahren und lebendigen Kultur sein sollte. »Natur« wurde in diesem Zusammenhang als eine ganz bestimmte »Landschaft« aufgefaßt, die den eigentümlichen Lebensraum des Volkes bildete, das diese Landschaft als Kulturlandschaft geschaffen hatte und dessen Wesen mit dieser Landschaft harmonisierte. Das Volk besitzt seine nationale Seele, seine eigentliche Identität in dieser Landschaft, ohne die es »entwurzelt« und verloren ist.“ (Zitat: Sieferle) Die Romantiker des 19. Jahrhunderts gingen so von einer traditionell geschlossenen Gesellschaftsordnung aus, in der eine organische Symbiose von Landschaft, Feld und Wald bestehen sollte. Neben der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff gehörten dieser Bewegung auch weitere namhafte Künstler wie der Maler Caspar David Friedrich und der Komponist Richard Wagner an.

Die bereits von den Romantikern als Zukunftsprojektion vorhergesagten Wirkungen der Aufklärung und der in ihrem Zuge stattfindenden Industrialisierung brachten tiefgreifende Umstrukturierungen in Land- und Forstwirtschaft („Verkoppelung“ und Aufhebung der Allmende, Einschlag der Laubwälder und Anlage von Fichtenmonokulturen, Landflucht und Verstädterung, Verlust der Baukultur durch stilistische Verflachung und industrielle Produktion, hygienische Probleme in den Städten). Ganz neue Anforderungen an Städte und Verkehrswege stellte schließlich das Auto, das mehr und mehr die Regie im öffentlichen Raum übernahm.

Gegen Ende des 19. Jh. war von der romantischen Landschaft nicht mehr viel zu sehen. Dennoch griff der Musiker Ernst Rudorff mit dem 1880 erschienenen Aufsatz „Über das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur“ den Protest einer Bevölkerungsgruppe auf, die sich als Verlierer der immer schneller voranschreitenden Homogenisierung von Kultur und Landschaft sah. Er wurde damit zum Begründer der deutschen Heimatschutzbewegung, die auf Grund des raschen Fortschritts der Industrialisierung immer neue Themen zu kritisieren hatte (Flussregulierungen, Rationalisierung der Landwirtschaft, Tourismus). Der Verlust der Ästhetik und der Volkskultur waren die ideellen Antriebe der Bewegung, der sich auch nicht durch kostengünstige Verfügbarkeit neuer Industrieprodukte wettmachen ließ.

Mit der Gründung des „Bund Heimatschutz“ im Jahr 1904 bekam die Bewegung eine programmatische Plattform, die den Aufgabenbereich mit folgenden Punkten umriss:

  • Denkmalpflege,
  • Pflege der überlieferten ländlichen und bürgerlichen Bauweise; Erhaltung des vorhandenen Bestandes,
  • Schutz des Landschaftsbildes einschließlich der Ruinen,
  • Rettung der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt sowie der geologischen Eigentümlichkeiten,
  • Volkskunst auf dem Gebiete der beweglichen Gegenstände,
  • Sitten, Gebräuche, Feste und Trachten,

Mitinitiator dieses Programms war der Architekt und spätere NSDAP-Politiker Paul Schultze-Naumburg. Aus Sicht des Heimatschutzes wurden in dieser Zeit Entwicklungen wie Aussichtstürme, Reklametafeln, Kraftwerke, Flurbereinigung, Stauseen und Steinbrüche beurteilt. Gefördert wurde die Einrichtung von Heimatmuseen, Bauberatung, pädagogische Aufklärung. Der Bund arbeitete an Gesetzentwürfen mit und erarbeitete Maßnahmenvorschläge gegen Gewässerverschmutzungen.

Es kam auch zur Zusammenarbeit mit vielen europäischen Ländern, die sich auf die in allen modernen Kulturstaaten bestehende Grundproblematik des rücksichtslosen Kapitalismus stützte, der in letzter Linie auch bei allen Fragen des Heimatschutzes zugrunde liegt. Damit nahm die Bewegung eine deutliche Gegenpositon zum Kapitalismus ein, die sowohl für die Arbeiterbewegung wie für das Bildungsbürgertum anschlußfähig war. Bürgerliche Zivilisationskritiker kritisierten den ästhetischen Verfall, die rasante Veränderung von Städten und Landschaften während die politische Linke ihre Kritik an den sozialen Verwerfungen des Fortschritts festmachte und die vom Bürgertum gepflegten und geschützten Traditionen als lästige Überreste ansah, die sie als Hindernisse auf dem Weg in eine bessere Zukunft wahrnahm. „Diese Komplementarität von linker und rechter Kapitalismuskritik machte sich seit der Jahrhundertwende darin geltend, daß jede der beiden Strömungen jeweils spezifische Krisenmomente und Bedürfnisverletzungen durch das entstehende Industriesystem wahrnehmen konnte, ohne daß es ihnen möglich gewesen wäre, diese Beobachtungen in einer synthetisierenden Erklärung zusammenzufassen. Beide besaßen sie aufgrund ihrer Orientierung auf »Fortschritt« oder »Tradition« eine spezifische Problemblindheit.“ (Zitat Sieferle) Beide Seiten gingen von Projektionen in andere Zeiten aus, an denen sie die jeweilige Gegenwart bewerteten – Die Linke in die Zukunft, das Bildungsbürgertum in die Vergangenheit, was zur Folge hatte, dass sich für die politische Linke die Realität tendenziell ihrer Zukunftsprojektion annäherte, während die Restbestände bürgerlicher Schutzgüter immer weniger wurden.

In den Denkmustern von Ken Wilbers Integraler Theorie können die beschriebenen Positionen als Wege der Aufsteiger und Absteiger gesehen werden. In der Sicht Wilbers ist der vom Bürgertum seit der Renaissance und während der Aufklärung beschrittene Weg des Aufstiegs zum geistigen Durchbruch des Personalen in ein höheres Sein heute im Niemandsland verloren und der Weg der Absteiger bestimmt das Bild. Letztere sehen das Heil in den flüchtigen Herrlichkeiten dieser Welt. Mit den Worten Wilbers: „Die Aufsteiger werfen den Absteigern vor, sie hielten an ihrer Höhle der Schatten (Anm.: gemeint ist Platons Höhlengleichnis) fest, sie seien Materialisten, Hedonisten, Theisten und glaubten, es existiere nur das, was mit den Sinnen zu erfassen sei. Die Absteiger nennen die Aufsteiger repressiv, puritanisch, lebensverneinend, sexualitätsfeindlich, körperfeindlich, sie werfen ihnen vor, sie zerstörten die Erde.

Trotz dieser Schwäche innerhalb der Bewegung war der Einfluss der neu formierten Heimatschutzbewegung um das Jahr 1910 so stark, dass der Bund der Industriellen 1911 die „Kommission zur Beseitigung der Auswüchse der Heimatschutzbestrebungen“ einsetzte.

Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus erschien gegen Ende der 1920er Jahre ein neuer Hoffnungsträger auf der politischen Bühne, der einerseits die konservativen Kräfte in der Heimatschutzbewegung ansprach und andererseits rhetorisch mit dem Vokabular von Heimat, Blut und Boden genau diese Zielgruppe ansprach. Eine Schlüsselfigur in der Anbahnung der Beziehungen zwischen Nationalsozialismus und Heimatschutz wurde der bereits erwähnte Paul Schultze-Naumburg. Seine fruchtlosen Bemühungen um die Erzeugung eines von breiten Schichten des Volkes getragenen Heimatbewusstseins im Sinne der harmonischen Einheit von Landschaft und Bauten ließen die Überzeugung wachsen, diese Ignoranz müsse ihre Ursache in tiefgründigen Störungen des Gefühlsempfindens im Volk haben. „Schultze-Naumburg folgte hier dem verbreiteten Muster der rassenhygienischen Theorie, wonach der medizinische Fortschritt, die zunehmende Hygiene im Alltag sowie die staatliche Armenfürsorge die Mechanismen der natürlichen Auslese aufgehoben hatten, wodurch sich rassisch Minderwertige fortpflanzen und vermehren konnten. Dies führte zu einer Verschlechterung der völkischen Substanz und es war dann nur folgerichtig, wenn sich diese auch in der Gestalt der Umwelt ausdrückte„. Damit war eine wesentliche Übereinstimmung mit den Auffassungen Hitlers und anderer führender Meinungsbildner gegeben, aus der sich unterschiedliche Konsequenzen ziehen ließen, die von religiös motivierter Reinigung (Quietismus) bis zum Völkermord (Genozid) reichten.

Mit der Verabschiedung des Reichsnaturschutzgesetzes und der in diesem Zuge erfolgten Einrichtung der Reichsstelle für Naturschutz 1935 schienen sich nun auch auf politischer Ebene die Hoffnungen der Heimatschutzbewegung zu erfüllen. Es stellte sich jedoch schon bald heraus, dass die Prioritäten des Nationalsozialismus nicht in einer romantisierenden „Blut und Boden“-Politik lagen, sondern in der Eroberung neuen Lebensraums und der Vernichtung des Judentums. Im Ergebnis war der Nationalsozialismus mit seiner Umwandlung von Mooren zu Nutzflächen, seiner Rationalisierung der Landwirtschaft, seiner Gigantomanie und Automatisierung im Bauen und die Ablösung regionaler Kulturen durch Gleichschaltung auf Reichsebene im Ergebnis eine technokratische Bewegung in romantischem Gewand, von der die technokratische Kern bis in unsere Tage überlebt hat. Noch einmal Sieferle im Originalton:

Der Nationalsozialismus nahm die konservative Utopie im Blut-und-Boden-Mythos auf, formulierte sie jedoch rassentheoretisch, antisemitisch und letztlich auch technokratisch um, so daß sie zur Legitimation einer Praxis verwandt werden konnte, die im totalen Krieg und im Völkermord kulminierte. Die Kritik daran konnte im Grunde nur noch von links kommen, weil die Rechte, selbst wenn sie die nationalsozialistischen Verbrechen nicht billigte, keinen Bezugspunkt mehr hatte, von dem aus sie Kritik äußern konnte. Für die Linke waren Natur- und Landschaftsschutz jedoch weiterhin »rechte«, wenn nicht »faschistische« Themen.

Sieferle zieht das Resumee, die ursprünglich von der Heimatschutzbewegung verfolgten Ziele seien mangels Masse nicht mehr im Wirklichkeitsraum vorhanden. Statt dessen habe eine Musealisierung der „Heimat“ stattgefunden, womit am deutlichsten sichtbar werde, daß sie an ihrem Ende angelangt, daß sie „modern“ geworden sei. Die Moderne schaffe keine bleibenden Gegenstände. Alles sei vorläufig, zum alsbaldigen Gebrauch bestimmt, Sperrmüll auf Abruf. Deshalb unterscheide sich der heutige Natur- und Landschaftsschutz gravierend von den romantischen Zielen der Heimatschutzbewegung und hierin bestätigt sich eine wesentliche Prognose von Karl Marx.

Dennoch haben die im Programm des „Bund Heimatschutz“ aufgeführten Schutzgüter weiterhin als gesetzlich verankerte Ziele Bestand in verschiedenen Gesetzen. Als umfassendstes Gesetz ist das Baugesetzbuch zu erwähnen, das seit 1960, zunächst unter der Bezeichnung „Bundesbaugesetz“, die Raumnutzung flächendeckend regelt und – jedoch ohne den durch den Nationalsozialismus verbrannten Begriff „Heimat“ zu benutzen – auch die Aspekte des Heimatschutzes berücksichtigt. Weitere Gesetze sind die Denkmalschutzgesetze der Länder, das Bundesnaturschutzgesetz, das Wasserhaushaltsgesetz, das Bundesimmissionsschutzgesetz und das Bundesfernstraßengesetz zu nennen, die auf nationaler Ebene wesentlichen Einfluss auf die Raumnutzung ausüben. Daneben ist das Raumordnungsgesetz zu nennen, das die Leitlinien der Raumentwicklung in Deutschland enthält. Allen genannten Gesetzen liegen Prinzipien des Rechtsstaats zu Grunde, die insbesondere Abwägungsprozesse zwischen den konkurrierenden Raumnutzungen und -nutzern sowie spezielle Umweltverträglichkeitsprüfungen vorsehen. Dabei ist die Rechtsstellung des Bürgers von Gesetz zu Gesetz unterschiedlich stark ausgeprägt.

In der hier interessierenden Bewertung der in den derzeit geltenden Gesetzen enthaltenen Veränderungspotentiale mit Blick auf den Heimatschutz im ursprünglichen Sinn ist dem Urteil von Sieferle zuzustimmen: Die Nutzung des Raumes ist nur solange geschützt, wie keine höherrangigen Ziele sich in Abwägungsprozessen durchsetzen können (Eine Null-Lösung – d. h. den Verzicht auf vorgesehene Maßnahmen – gibt es dabei nur hypothetisch). Was aber höherrangig ist, wird in politischen Prozessen entschieden. Die von Romantikern beschworene Harmonie in einer organischen Symbiose von Volk, Natur und Individuum hat es wahrscheinlich nie gegeben – außer vielleicht in jungsteinzeitlichen Siedlungen wie Çatalhöyük – und liegt außerhalb realistischer Zukunftserwartungen. Ob das aber jeden dazu berechtigt, wie Sieferle schlussfolgert, sich nun aus der Geschichte zu holen, was ihm gefällt und was er heute, in der Gegenwart, in der er selbst lebt, für angemessen und richtig hält, ist die große Frage, vor der die gegenwärtigen Generationen stehen. Die Populisten unserer Tage haben die Antwort allerdings bereits gefunden – sei heißt: Ja!

Im Lichte der romantischen Vorstellungen von Heimat ist die derzeitige Heimatbewegtheit von AfD, Pegida und Identitären entweder als Aufschrei der Heimatlosen zu werten, die sich verspätet des Verlustes ihrer mythischen Heimat bewusst werden, oder als rhetorisch plumpe, aber wirkungsvolle Anknüpfung an die braune Vergangenheit zu beurteilen. Vielleicht trifft auch beides zu. Es sollte allerdings aus der jüngeren Geschichte klar geworden sein, dass beides in die politische Ohnmacht bzw. Isolierung oder Despotie führen wird.

Sieferle’s Empfehlung bedeutet einen großen Sprung in das Niemandsland, als wäre die Welt um uns herum tabula rasa. Er geht darüber hinweg, eine Beschreibung von Heimat zu suchen, die jenseits der von ihm skizzierten romantischen Vorstellungen davon existiert.

Heimat wurde und wird in vielen Kulturen und Ländern wahrgenommen und ist kein originäres deutsches Gut, das als solches zu schützen wäre. Soldaten und Seeleute haben zu allen Zeiten und in allen Ländern besonders intensive Erinnerungen an ihre Heimat verspürt, wenn sie fern ihres Heimatlandes im Einsatz waren und sie dachten hierbei in erster Linie an Frau und Kinder oder ihre Eltern. Das weist doch ganz stark auf die ursprüngliche Bindung an Familie und Wohnung hin, also jenen Ort, der die ersten Raumerfahrungen des Menschen ausmacht. Es weist aber auch gleichzeitig auf den Wandel der Raumerfahrungen hin, der sich aus dem Wechsel von Perspektiven und der Vergrößerung oder Verkleinerung des Raumes ergibt. Wir erschließen die Welt, indem wir über die bisher bekannte Welt hinausgehen. Das Kind schließt gewissermaßen Freundschaft mit dem angeeigneten Raum und erhält so das notwendige Vertrauen, um von hier aus in die Unbegrenztheit neuer Räume weiterzugehen. Dabei entstehen Ängste, die nur durch die fundamentale Erfahrung des immer wieder zu erlangenden Gefühls des Zuhauseseins überwunden werden können. Denn, so der Philosoph Martin Heidegger, „das Wohnen ist die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind.“

Allerdings: ln unserer nomadischen Zeit der ubiquitären Heimatlosigkeit, des Exil, der Diaspora, der Entwurzelung, der globalen Mobilität scheint der Ort, als eine mögliche Heimstätte und Zuflucht, ein Auslaufmodell zu sein ( vgl. auch Morley: Home Territories; S. 2f.). Wo aber die Realität – wie immer eingeschränkt – als Hintergrund der Erfahrung fehlt, ist auch die projektive Erinnerung und utopische Imagination begrenzt. Möglicherweise ist aktuell gerade deshalb – im Angesicht des drohenden Verlusts – das Verlangen nach gewissen Formen der Beheimatung groß. Es handelt sich jedoch zumeist um ein regressives Verlangen nach »Heimat«, einem Band der Verbundenheit, einer »Verortung«, die in einer fiktiven Vergangenheit und »Gemeinschaft des Blutes« wurzelt. Dieses Verlangen der Verortung muss in einem xenophoben Reflex alles Fremde – als wahrgenommene Bedrohung der als homogener »Einheit« vorgestellten Gemeinschaft – abwehren, um den (Nicht-) Ort der Heimat ins Leben setzen zu können ( vgl. ders./ Robins: Spaces of Identity; Kap. 5). Es handelt sich bei solchen Nicht-Orten um »bereinigte« Räume, tatsächliche »Homotopien«, die dem anderen Raum der Utopie: seiner Offenheit nicht weiter entgegengesetzt sein könnten.“ (Zitat: Anil K. Jain: „Medien der Anschauung: Theorie und Praxis der Metapher (Neue Philosophie)“

Der zitierte Anil Jain weist jedoch auch auf die zu erwartende Entstehung eines radikalen utopischen Raumes hin, in dem sich die Sehnsüchte verschiedener Randgruppen treffen und sich verbünden, wie sich dieses in der internationalen Fluchtbewegung bereits abzeichnet. Auch diese benötigen Orte des Zuhauseseins, von denen sie in utopische Nicht-Orte, die nichts mit den imaginären Heimaträumen der Nation und des Volks zu tun haben, aufbrechen können. Hierbei handelt es sich um vielfältige Räume der Geborgenheit, die eine Ahnung von dem vermitteln, was man so schmerzhaft vermisst.

In der derzeitigen Diskussion um die Begrenzung der Probleme in Deutschland, die aus der kurzfristigen Aufnahme von ca. 1,2 Millionen Flüchtlingen entstanden ist, kommt diesem Gesichtspunkt besondere Bedeutung zu. Es erscheint mir durchaus legitim und folgerichtig, wenn im Land der Heimatlosen Zufluchtsorte entstehen, die als Basis für das Entstehen offener utopischer Räume dienen, die das rückwärtsgewandte Heimatideal der Romantik durch ein zukunftsweisendes Heimatstreben ersetzen und den Dualismus von Personalität und Soziabilität überwinden.

Vor den Herausforderungen einer technologischen Revolution durch künstliche Intelligenz mit Millionen freigesetzter Arbeitskräfte erscheint die immer wieder propagierte Integration der Flüchtlinge in den europäischen Arbeitsmarkt illusorisch, zumal auch in den wenig industrialisierten osteuropäischen Ländern erhebliche Arbeitskraft-Potentiale aus der Landwirtschaft in die Industrie drängen werden.

Zurück zur Ausgangsfrage: Ist Heimat ein Thema für die Politik? Hierauf ein klares Nein! Die vom Innen- und Heimatminister in einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung dargestellten Intentionen seines Heimat-Ressorts erzeugen den Eindruck, als handele es sich um eine Art Reparaturbetrieb für die Folgen der Globalisierung und des Neoliberalismus. Dabei wird allerlei zusammengestellt, was bereits spätestens seit der Finanzkrise und des Syrienkriegs zum Allgemeingut geworden ist und gerade wegen des aufgehäuften Problembergs eher zur Resignation als zur Tat motiviert. Dabei kann dann auch Joschka Fischer und Willy Brandt durchaus mit eingebunden werden.

Was soll denn nun Heimat sein, Herr Seehofer? Das ist schnell gesagt: „Es ist ein Kampf um die Bewahrung des Traditionellen, des Heimischen, des Allgemeinen, des Verbindenden und des Kollektiven„. Damit auch keiner der Flüchtlinge auf falsche Gedanken kommt, wird gewarnt: „Freiheit ist nicht ungefährlich. Sie ist auch nicht nur gemütlich. Wer nach Halt giert und nach Gewissheit, für den ist sie eine Zumutung. … Freiheit ist keine nette Beigabe zum Leben. Man muss sich ihr aussetzen und sie ertragen.“ Und zum Schluß wird Seehofer dann ganz deutlich: „Unser Land ist kein neutrales Siedlungsgebiet, sondern aus ihm sind Traditionen und eine ganz eigene Kultur erwachsen. Deshalb ist das Thema Integration mit dem Thema Heimat verbunden. Hier muss eine Auseinandersetzung über das Ziel von Integration begonnen werden. Nicht jeder, der über Arbeit, deutsche Sprachkenntnisse und ein leeres Vorstrafenregister verfügt, ist zwangsläufig integriert in unsere offene Gesellschaft. Das gilt für Zuwanderer wie auch für deutsche Staatsbürger gleichermaßen.“ Offene Gesellschaft? Das ich nicht lache! Und wie verträgt sich dieses damit: „Heimatbezogene Innenpolitik bedeutet somit auch eine stärkere Betonung der kulturellen Integration.

Meine Empfehlung: Den Artikel nicht lesen, er verwirrt nur.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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