Angst
Laut Wikipedia ist die Angst ein Grundgefühl, „das sich in als bedrohlich empfundenen Situationen in Form einer Besorgnis und unlustbetonten Erregung äußert. Auslöser können dabei erwartete oder unerwartete Bedrohungen, etwa der körperlichen Unversehrtheit, der Selbstachtung oder des Selbstbildes sein.“ Auffällige Ausprägungen der Angst und ihre nicht rational begründbaren Formen werden als Angststörung bezeichnet. Dieser Sammelbegriff bezeichnet mit Angst verbundene psychische Störungen, deren gemeinsames Merkmal exzessive, übertriebene Angstreaktionen beim Fehlen einer wirklichen äußeren Bedrohung sind.
Die Angst – wie auch die Lüge (Betrug) – gehören nicht zu den sieben Todsünden des Christentums und wurden als ergänzende Wurzelsünden dem Enneagramm eingefügt. Diese Wurzelsünden sind nach den Enneagramm-Autoren Rohr und Ebert als emotionale Zwänge oder Fehlhaltungen zu verstehen. ,,Sünde“ bedeutet in diesem Verständnis Trennung oder Zielverfehlung. „Die neun Sünden versprechen Lebenssteigerung, bewirken aber in Wirklichkeit genau das, was sie verhindern wollen: Einsamkeit, Sinnlosigkeit, Leere. Sie trennen uns von Gott, von unseren Mitmenschen, von der
Schöpfung und zutiefst auch von uns selbst. Sie verhindern, daß wir das Ziel des Lebens erreichen: Versöhnung mit uns selbst, mit unserem Nächsten und mit Gott.“
Die Autoren des Enneagramms heben die besondere Bedeutung der Wurzelsünden Furcht bzw. Angst (Typ 6) und Lüge bzw. Betrug (Typ 3) hervor, da sie im Christentum nicht als solche erkannt wurden und sich ungehindert entwickeln konnten. Insbesondere der Typ 6 habe sich nach langjähriger Erfahrung von Therapeuten, die das Enneagramm anwenden, als mit Abstand häufigster Menschentyp herausgestellt. Diese Erfahrung stimmt mit dem in Grafik 4 zu sehenden Ergebnis hinsichtlich der Wurzelsünde Angst überein.
Die Bilder 1 – 8 zeigen markante Stationen eines Entwicklungsprozesses der Angst, beginnend mit der mythologischen Bewältigung am Beispiel der nordischen Sagenwelt um den Hauptgott Odin, Wodan oder unter einem der vielen weiteren Namen, die er hat. In der Neuner-Typenlehre des Enneagramms hat der nach Grafik 4 vorherrschende Typ 6 (Wurzelsünde Angst bzw. Furcht) symbolische Beziehungen u. a. zu Deutschland und zum Wolf. In Bild 1 sind Geri und Freki – die kräftigen Wolfsgefährten Odins, des nachdenklichen, sich selbst opfernden nordischen Gottes der Weisheit, der Dichtung, des Zaubers und des Todes zu sehen. Sie stehen für die Mächte der Natur, die die festgelegten Zeiten von Anbeginn und Abgang überwachen.
In der Mythologie werden Wölfe als Verkörperungen des weit aufgerissenen Rachens des Todes und eines unersättlichen Verlangens dargestellt. Besonders in der christlichen Ikonografie sind sie ein Fluch der lammgleichen Unschuld. Ihr natürliches Verhalten vermittelt dem Menschen die notwendige Infragestellung seines idealisierten Selbstbildes, das in naiver Unschuld die tief in der Psyche agierenden dunklen Selbsterhaltungstriebe ignoriert. Diese Erkenntnis kommt beispielhaft in einem Spruch der nordamerikanischen Heildsuk zum Ausdruck, in dem es heißt, dass Wölfe sich nicht zeigen, solange sie uns nichts zu sagen haben. Die seit der Jahrtausendwende in Deutschland festzustellende Rückkehr der Wölfe sollte in diesem Sinn verstanden werden, so dass die in den Wolfssteinen dokumentierten Hinweise auf ihre Ausrottung einen neuen Sinn ergeben.
Die in Bild 2 zu sehende Allegorie der Melancholie steht für den Beginn des europäischen Humanismus, der sich auf der Grundlage griechischer Philosophie und römischer Praxis und Verbreitung nun auch im nördlichen Europa ausbreitete und in dieser Darstellung eines der vier Temperamente nach Aristoteles beschreibt.
Eine der wesentlichen Kräfte der Melancholie ist die Angst, die den Menschen von Geburt an bis zum Tod begleitet und wesentlich das Denken und Handeln bestimmt. Das Rätsel des Woher und Wohin des Menschen erzeugt ein Gefühl der Heimatlosigkeit. Es löst Entsetzen aus und geht mit von dieser metaphysischen Angst ausgelösten unsinnigen Erklärungen einher. Es liefert uns allerlei Formen von Glauben aus, die zu sinnlosen Kämpfen um die richtige Sicht auf die Stellung und Wirkung des Menschen und vor allem der eigenen Person führen. Stabilität und Nachhaltigkeit sind in diesen Kämpfen zu Zielen geworden, die sich immer wieder als Trugbilder und Illusionen erweisen und zu chaotischen Verhältnissen führen können. Eines dieser Trugbilder wird bezeichnender Weise von solchen Menschen gemalt, die sich ganz dem materiellen Wachstum verschrieben haben. So wird der Paypal-Cogründer und Hedgefonds-Präsident Peter Thiel in dem aktuellen Sachbuch-Bestseller des Historikers Yuval Noah Harari mit dem Titel „Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen“ zitiert:“Meiner Ansicht nach kann man sich zum Tod auf dreierlei Weise verhalten. Man kann ihn akzeptieren, man kann ihn leugnen, oder man kann ihn bekämpfen. Ich glaube, unsere Gesellschaft besteht vor allem aus Menschen, die ihn hinnehmen oder leugnen. Ich bekämpfe ihn lieber.“
Neben der metaphysischen Angst, die nahezu jeden Menschen in unterschiedlichen Graden betrifft, gibt es verschiedene Formen der Angst, die situations– und/oder objektbezogen, vorübergehend oder dauerhaft auftreten und verschiedene Anzeichen aufweisen. Zur Beschreibung und Begegnung der komplexen Erkrankungen, bei denen die Angst eine wesentliche Rolle spielt, versuchten Philosophen und Ärzte eine Theorie zu entwickeln, die Angst, Traurigkeit und Irrungen des Geistes auf eine natürliche Ursache zurückführen. Diese Theorie sollte überzeugend genug sein, alle mythischen Deutungen zu verdrängen. Hierzu war es folgerichtig, dem Stand der antiken Medizin entsprechend sich auf die von dem griechischen Arzt Hippokrates und seiner Schule auf der Insel Kos entwickelte Vier-Säfte-Lehre auf ihr Erklärungspotential für die identifizierte Krankheit zu prüfen. Das Ergebnis war die Benennung des benannten Komplexes als Melancholie – nach der verursachenden Substanz durch Zusammenziehung der altgriechischen Wörter für schwarz und Galle. Diese „schwarze Galle“ könne sich im Körper im Übermaß ansammeln und zu Auswirkungen führen, die vergleichbar mit denen eines dunklen, schweren Weines seien und somit nicht rätselhafter als die Trunksucht.
Diese Erklärung vermochte es jedoch nicht, die mythologische Ausgestaltung der Melancholie zu verdrängen. Sie spielte in der Verbindung mit dem Hexenglauben eine furchterregende Rolle im christlich geprägten Europa, die ihre Wirkung bis in das 19. Jh. entfaltete. Der Jurist und Hexenjäger Pierre de Lancre begründete seine Tätigkeit ebenfalls mit antiken griechischen Quellen – jedoch nicht protowissenschaftlich, sondern mythologisch, als er Ovids Geschichte von der Verwandlung des arkadischen Königs Lykaon durch den Gott Jupiter in einen Wolf beschrieb. Dieser König hatte sich über die Jupiter entgegengebrachte Verehrung lustig gemacht und rühmte sich, ihn erkennen zu können, wenn er eines Tages vor ihm stehe. Letzteres geschah – allerdings im Traum: In jenem Moment als Jupiter das Zimmer betrat, verwandelte sich der König in einen Wolf. Nur wenige Züge seines Gesichts erinnerten noch an seine frühere Gestalt. Damit war die Gestalt des Werwolfs geboren, die in der Kunst der Renaissance als Motiv aufgenommen wurde und z. B. als Szene der Verwandlung des Lykaon in einem Kupferstich von Agostino Veneziano 1524 dargestellt wurde. In diesem Stich ist die Verwandlung von Zorn und Entschlossenheit bei Lykaon in Angst und Schrecken abzulesen. Der König muss nun für immer die Menschen und die Götter meiden und wird so zu einer melancholischen Figur, die dazu verdammt ist, in alle Ewigkeit allein umherzuirren.
Auch die Verbindung mit dem von der Kirche geprägten Frauenbild findet sich bei de Lancre, wenn er zu dem von Lucas Cranach d. Ä. geschaffenen Ölgemälde der Melancholie schreibt: „Die Haare fließen ihnen über die Schultern herab und betonen auf eine bestimmte Art die Augen […], diese wundervolle Haarpracht lässt sie außerordentlich vorteilhaft erscheinen und ist eine ungemein starke Waffe. Und wenn die Strahlen der Sonne auf diesen Haarschopf fallen wie in eine dicke Wolke, erzeugt dies einen so leuchtenden Widerschein und ein so strahlendes Funkeln, wie man es am Himmel sehen kann, wenn ein Regenbogen entsteht. Deshalb geht ihre Bezauberung von den Augen aus, die in der Liebe wie in der Hexerei gleichermaßen gefährlich ist.“
Dürers Melencolia I wurde von Zeitgenossen wie den englischen Gelehrten Robert Burton, Kunsthistorikern wie Karl Giehlow, Aby Warburg, Erwin Panofsky und Fritz Saxl besprochen und als erschöpfende Darstellung des Themas gewertet, wobei die darin enthaltene Botschaft unterhalb des Zugangs zu den göttlichen Sphären der Erkenntnis bleibe. Das melancholische Genie verharre in Dürers Darstellung auf unterster Stufe, untätig, gelähmt und in Trübsinn über seine Wissensohnmacht.
Anknüpfend an die genannten Kommentatoren unternahm der Kunsthistoriker und Ausstellungskurator Peter-Klaus Schuster eine aktuellere Erschließung des Dürer-Werks. Seine Interpretation geht von dem Spannungsverhältnis von Virtus (soldatische Tapferkeit) und Fortuna (Glücks- und Schicksalsgöttin) aus. Dieses sieht er durch die Gegenüberstellung von rechter Bildhälfte und linker Bildhälfte gegeben.. Entgegen dem Urteil älterer Kommentare sieht Schuster in der Dürer’schen Melancholiefigur keine faustische Verzweiflung über die Ohnmacht des menschlichen Wissens sondern er versteht dieses Werk als Aufforderung zur Tugend, die dem melancholischen Wesen dank seiner Begabung von einer gefestigten Position aus möglich ist. Wesentliche Inhalte des Bildes für diese Interpretation sieht er in der Halbierung des Blattes durch die linke Gebäudekante und die durch das turmartige Gebäude symbolisierte Festigkeit des Sitzes der Melancholie sowie die Symbole der Vergänglichkeit in Gestalt der Sanduhr und der Glocke. Auf der linken Seite sind es das gefährliche und wandelbare Meer, die Gefahr des Absturzes in die Tiefe, symbolisiert durch die Leiter, die instabile Kugel und den auf dem Polyeder fexierten (schemenhaft dargestellten) Totenkopf als gebräuchliche Sinnbilder der unbeständigen Fortuna.
Im Ergebnis kommt Schuster zu der Bewertung, dass Dürers Protagonisten – die geflügelte Melancolia wie der Putto – an beiden Seiten des aufgezeigten Gegensatzes von Fortuna (Glück) und Virtus (soldatische Tapferkeit) – teilhat. „In ambivalenten Bildmotiven wie dem Gestus des aufgestützten Kopfes, ihrem ruhigen und anscheinend untätigen Dasitzen wie mit ihren am Boden ausgebreiteten, aber nicht benützten Gerätschaften zeigt Dürer an seiner Melancholiefigur einerseits einen vollendeten Zustand, den sie andererseits im Bereich des Irdischen, dem sie ja noch unverändert angehört, immer neu erlangen und gegen alle an ihr selbst noch ablesbaren melancholischen Anfechtungen der Trägheit und des Trübsinnes bewahren muss. Der von Dürer intendierte Sinn seines Melancholiekupferstiches ist demnach der eines Tugendblattes. In seiner Tugendaufforderung an den Melancholiker, vermöge seines ausgezeichneten Geistes sich gegen alle Widerstände zur göttlichen Vollkommenheit emporzubilden, ist das Blatt Trostblatt und Warnblatt zugleich.“ (Zitat: Peter-Klaus Schuster im Ausstellungskatalog zur Ausstellung „Melancholie“, Berlin, Paris)
Das Krankheitsbild der Melancholie konnte sich in den Jahrhunderten bis zum Niedergang des römischen Reiches auf der Grundlage der Vier-Säfte-Lehre weiter ausgestalten. So gab der aus Kleinasien stammende griechische Arzt Galenos im ersten Jh. n. Chr. eine genauere Beschreibung der Melancholie nach ihren „klassischen“ Symptomen und zählte hierzu u. a. bräunlich-dunkle Hautfarbe, zu Boden gesenkter Blick, Misanthropie, Ängste und Traurigkeit. In den bildenden Künsten bildete sich auf dieser Grundlage ein bestimmter Typus heraus, der es möglich machte, schon an der Körperhaltung den Melancholiker zu erkennen. Für die neuere Bildhauerei und Malerei wurde die Figur des „Denkers“ von Auguste Rodin zum Vorbild des gedankenversunkenen Menschen, der bereits nach einem flüchtigen Blick auf sein Abbild an einen Melancholiker denken lässt.
Ein neuer Impuls zu intensiver Beschäftigung mit Angst und Melancholie erfolgte durch die Romantik am Beginn des 19. Jh.. Dabei kam den deutschen Malern und insbesondere Caspar David Friedrich eine maßgebliche Bedeutung zu. In seinem Bild »Mönch am Meer« (s. o. Bild 3), gemalt 1808-10, ist für den Kunsthistoriker Robert Rosenblum das Programmbild der neuen Kunst nach dem Epochenbruch der Aufklärung entstanden. Friedrich »reduzierte Naturphänomene auf einen so ursprünglichen Zustand, dass mystische Erfahrungen durch sie evoziert wurden«. Das Natürliche und das Ubernatürliche verschwimmen. Friedrich zeigt neben einem kleinen Menschen nur Strand, Meer, Himmel. Alles verschwimmt zu einer dunstig abstrahierten Sphäre ohne erkennbare Grenzen. Es ist die Gesamtheit der göttlichen Schöpfung, die der Mönch hier erlebt, die aber die metaphysische Angst des Verlorenseins aufkommen lässt.
Der schweizer Dichter Gottfried Keller verfasste 1846 unter dem Titel „Lebendig begraben“ ein Gedicht, welches die zu dieser Zeit weit verbreitete Stimmung wiedergibt und die sehr konkrete Angst umschreibt, lebendig begraben (Taphephobie) zu werden – oder vielleicht schon begraben zu sein? In dem Gedicht heißt es: „Das ist jetzt eine wunderliche Zeit! Im dunkeln Grab kein Regen und kein Rühren, Indes der Geist als Holzwurm mag spazieren Im Tannenholz – ist das die Ewigkeit?“ Selbst die bereits zwischen 1808 und 1810 entstandenen Bilder „Der Mönch am Meer“ und „Abtei im Eichwald“ vermochten es zu jener Zeit, durch ihre metaphorischen Anspielungen latente Ängste wachzurufen. In einem zeitgenössischen Kommentar zu Friedrichs Bildern heißt es: „Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reiche des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis….des Malers wehmutbrütende Phantasie verwandelt sich hier gleichsam in einen ängstlichen Schrei„. Einen solchen Schrei hat der norwegische Maler Edward Munch in seinem Bild „Der Schrei“ 1893 (siehe Bild 6) dargestellt.
Ein weiterer Maler des 19. Jh., der seine künstlerische Blüte jedoch erst am Beginn des 20. Jh. erfuhr, ist der französische Maler Odilon Redon. Sein hohes Maß an Feinfühligkeit, das ihm in dieser Hinsicht den Vergleich mit Picasso einbrachte, machte ihn zu einem ängstlichen Menschen. Der Verlust seines ersten Kindes schon bald nach der Geburt prägte sein Werk in der ersten Hälfte seiner Schaffensperiode. In dieser Zeit fertigte er eine Vielzahl von Kohlezeichnungen, von denen die in Bild 4 zu sehende ein Beispiel ist. Erst ab dem Ende der 1880er Jahre tauchen vermehrt Farben in seinen Bildern auf. Das als „Sumpfblüte, ein trauriger menschlicher Kopf ll“ bezeichnete, 1885 entstandene Blatt zeigt inmitten einer Landschaft dunkler Unendlichkeit einen blutleeren und kahlen Kopf mit weit aufgerissenen Augen, mit todtraurigem Gesichtsausdruck an einem Blumenstengel hängend. Diese Art von Motiven machte Redon zu einem frühen Vertreter der Stilrichtung „Symbolismus“ und ist ebenfalls Ausdruck des im 19. Jh. verbreiteten Unbehagens und der Angst vor dem Nichts und der Unverständlichkeit der äußeren Welt, die auch einen zeitgenössischen Wissenschaftler wie Gustav Theodor Fechner umgetrieben hat und dessen geistiger Einfluss im geistigen Bereich auch in Frankreich spürbar geworden ist. Möglicherweise stellt sich das Werk des Malers Odilon Redon unter Fechners Einfluss weniger tragisch dar, als es bisher den Anschein hat.
Auch die Bilder 5 und 7 sind Beispiele für die schicksalhafte Bedeutung der Kunst ihrer Schöpfer für deren Lebensweg. In Bild 5 ist ein von Vincent van Gogh gemaltes Porträt seines mit ihm befreundeten Arztes Gachet dargestellt. Es gilt als Meisterwerk seiner Porträtkunst. Der eigenartige und exzentrische Arzt hatte van Gogh tief beeindruckt, nicht zuletzt, da er auch selbst malte und mit mehreren Impressionisten befreundet war. In ihm spiegelten sich Melancholie, Traurigkeit und Resignation wieder, wie van Gogh selbst sie erlebte. An seinen Bruder Theo schrieb Vincent; „Herr Gachet scheint mir ebenso krank und nervös zu sein wie Du und ich und ist dazu noch viel älter. Er verlor vor einigen Jahren seine Frau. Aber er ist durchaus Arzt, sein Handwerk und sein Glaube halten ihn aufrecht.“ Nach langer Vereinsamung hatte van Gogh nun einen Menschen gefunden der ihn als Maler verstand und mit dem er sich austauschen konnte, Jedoch hielt dieses Glück nicht lange an, wie aus einem weiteren Brief an seinen Bruder und Gönner Theo hervorgeht: „Vor allem ist er kränker als ich, scheint mir, oder sagen wir ebenso krank. Wenn aber ein Blinder einen Blinden führt, fallen sie dann nicht beide in den Graben?“ Es folgte eine weitere und schlimmere Vereinsamung, aus der er sich nicht mehr befreien konnte. Kurz vor seinem Tod schrieb er in einem unvollendeten Brief an seinen Bruder: ,,Ich würde Dir gern über vieles schreiben, fühle aber, wie sinnlos es ist … In meinem eigenen Werk setze ich mein Leben aufs Spiel und mein Verstand ist dabei zur Hälfte draufgegangen … ich sage Dir wieder, dass Du für mich immer etwas anderes warst als ein gewöhnlicher Kunsthändler . . . “
Ein weiteres Beispiel für die Tragik eines Künstlerlebens ist auch im Realismus des Bildes 7 zu sehen. Der Osnabrücker Maler Felix Nussbaum ist ein Opfer des Nationalsozialismus und starb wenige Monate vor der Befreiung im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Er war jüdischer Abstammung und hatte 1933 Deutschland wegen der beginnenden Judenverfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus verlassen. Ab 1940 versteckte er sich in Brüssel. Dort wurde er nach einer Denunziation mit einem der letzten Transporte in das KZ deportiert. Während der Zeit seines Exils malte er unter grauenvollen Bedingungen in seinem Brüsseler Unterschlupf weiter. Seine ständige Angst, entdeckt zu werden, hätte andere Künstler gelähmt. Er behielt die Kraft, ihn stachelte die Angst zur Arbeit an. Untergrund, Angst, Energie sind die Stichworte auch zur Beschreibung der düsteren Welt der Enge in seinen Bildern, wie auch in dem abgebildeten Selbstporträt abzulesen ist.
Die Bildergalerie der Angst und des Schreckens endet mit dem Foto einer Wasserstoff-Bombenexplosion 1954 – vor fast genau 70 Jahren – auf dem Bikini-Atoll im Pazifischen Ozean. Sie symbolisiert die seit dem zweiten Weltkrieg anhaltende totale Angst der Menschheit vor der Selbstvernichtung und wird seit der spürbar gewordenen Klimakatastrophe relativiert, da es in der Totalität keine Dualität mehr geben kann. Damit entsteht die Illusion einer Wahl und daher auch einer Handlungsmacht, die nur zur Absicherung von Macht benutzt wird. Damit ergibt sich auch unter den Bedingungen der Angst ein Zugang zu den aktuellen Bedrohungen durch Kriege in der Ukraine und im Gaza-Streifen sowie zur gerechten Verteilung der Reichtums auf der Welt.
Als letzten Hinweis zur Bedeutung der Angst gebe ich noch eine kurze Übersicht über ihre Beziehungen zu den Wertesystemen der Spiral Dynamics nach Don Beck und Chris Cowan:
„Nachdem die menschliche Erkenntnis von begrenzten tierähnlichen Bedürfnissen und den zwingenden Überlebensforderungen [Beige], von der Angst vor Geistern [Purpur] und anderen räuberischen Menschen [Rot], von der Angst, die geheiligte Ordnung zu verletzen [Blau], von der Angst vor seiner Gier [Orange] und von seiner Angst vor sozialer Ablehnung [Grün] eingeengt war, ist sie nun plötzlich frei. Da seine Kräfte jetzt frei für eine Aktivierung des Denkens sind, kann sich der Mensch auf sein Selbst und seine Welt konzentrieren [Gelb, Türkis usw.].“
Am Ende dieser Entwicklung stehen eine Erweiterung der begrifflichen Möglichkeiten, der Wegfall von Zwang, die Fähigkeit, viel aus unterschiedlichen Quellen zu lernen, und ein Trend, sehr viel mehr mit sehr viel weniger Energie oder Ressourcen zu erreichen.
Wird fortgesetzt!
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