Biden oder Trump – Ein integraler Chancenvergleich (I)

Eine Volksweisheit, die sich über Generationen vererbt hat, besagt, dass Genie und Wahnsinn eng beieinander liegen. Die voranschreitende Entwicklung künstlicher Intelligenz hat diese unbestreitbare Erfahrung in das Zentrum ethischer Debatten gerückt. Dabei muss gesagt werden, dass die Warnrufe aus dem Zentrum der Entwicklung selbst zu einem Zeitpunkt gekommen sind, an dem die gesamte Welt vor nahezu unlösbare Probleme gestellt ist und Warnrufe wie Rufe in der Wüste oder – besser gesagt – im Kanonendonner verhallen. Die „Kanonen“ selbst sind es ja, die immer mehr technische Intelligenz erfordern und die Warnrufe als Zynismus entlarven.

In diesem Beitrag möchte ich einige Zusammenhänge aufzeigen, die zum Verstehen der Informationen zur aktuellen Weltlage hilfreich sein können und die Möglichkeiten des Eingreifens  der Vielen in demokratischen Systemen in den Blick nehmen. Zu nennen sind die in diesem Jahr stattfindenden Landtagswahlen in den deutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg, die Europawahl und die Präsidentschaftswahl in den USA.

Der Beitrag besteht aus drei Vorbemerkungen allgemeiner Art, die als Hinführung auf die amerikanische Schicksalswahl am 05. November 2024 zu verstehen sind und einen inneren Zusammenhang ergeben. Der anschließende Hauptteil enthält Informationen zur sozialen und wirtschaftlichen Situation in den USA, zur Werteordnung in den Bundesstaaten und zu den Affinitäten zwischen Wählerschaft und den beiden Kandidaten in 12 Swing-States auf der Grundlage von Charaktermerkmalen des Enneagramms.

Vorbemerkungen

Bottom-up und Top-down – Zwei entgegengesetzte Prinzipien zur Entscheidungsfindung

Die international gebräuchliche Bezeichnung der beiden genannten Prinzipien können mit der hierarchischen Richtung von Entscheidungen gleichgesetzt werden, so dass Bottom-up von unten (den Vielen) nach oben (den komplexeren Wenigen) und Top-down von 0ben (den Wenigen komplexeren) nach unten (den Vielen) übersetzt werden kann. Eine vereinfachte Übersetzung kann mithilfe des deutschen Begriffs „Gegenstromprinzip“ erfolgen, der schon seit Jahrzehnten im deutschen Raumordnungsrecht praktiziert wird und in § 1 die Legaldefinition hat:

Der Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland und seine Teilräume sind durch Raumordnungspläne, durch raumordnerische Zusammenarbeit und durch Abstimmung raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen zu entwickeln, zu ordnen und zu sichern. Dabei sind

1. unterschiedliche Anforderungen an den Raum aufeinander abzustimmen und die auf der jeweiligen Planungsebene auftretenden Konflikte auszugleichen,
2. Vorsorge für einzelne Nutzungen und Funktionen des Raums zu treffen.

Es handelt sich hier bereits um ein holistisches Prinzip, das den Kern demokratischer Entscheidungsprozesse beschreibt und hier auf das geographische Holon des Raums angewandt wird. Dieses Prinzip unterscheidet sich jedoch entscheidend von einem Top-down Entscheidungsprozess darin, dass hier die Möglichkeit von Konflikten berücksichtigt ist, die zwischen den Beteiligten nach sachlichen Kriterien zu lösen sind. Es handelt sich deshalb um die Kombination von Bottom-up (die Meldung von Raumansprüchen der Vielen an die Wenigen oben) mit der Feststellung von Widersprüchen zwischen den Ansprüchen der Vielen und den Wünschen der Wenigen (Top-down). Allerdings handelt es sich – im Gegensatz zur Entscheidung von Top-down – eben nicht um eine echte Entscheidung, sondern lediglich um die Feststellung eines Dissens, der durch Verhandlungen behoben werden muss bzw. durch eine höhere HierarchieEbene entschieden werden muss. In diesem Unterschied liegt der Kern der Problematik künstlicher Intelligenz (KI) begründet.

Zum Vergleich stelle ich die wesentlichen Schritte der zwei – unabhängig voneinander angewandten – Prinzipien der KI dar:

Die Verfahrensweise von Bottom-up besteht im erkennen und ordnen von Zeichen, wobei neu hinzukommende Zeichen nach den Merkmalen bereits vorhandener Zeichen erkannt und bestätigt werden. Ein nach diesem Prinzip angelegtes Netz von Merkmalen ist z. B. in der Lage, Muster etwa in Bildern zu erkennen, obgleich niemand ihm eine Auskunft darüber gibt, was auf dem jeweiligen Bild zu sehen ist. Es lernt einfach durch Erfahrung, dass gewisse Merkmalskombinationen häufig vorkommen (Nase und Augen in der richtigen Anordnung zueinander – folglich ein Gesicht – folglich ein Mensch usw.). Damit das in einem fortlaufenden Prozess funktioniert, benötigt die Maschine Rückmeldungen über die anfänglich zufälligen Ergebnisse, die sie aus dem Vergleich mit bekannten Vorlagen erhält. Diese Rückkopplungen werden in der KI-Forschung als maschinelles Lernen und spezieller als Deep Learning bezeichnet.

Der Ansatz des Top-down geht stark vom menschlichen Verhalten gegenüber großen Informationsmengen aus und ist daher stark auf verhaltenstheoretische Annahmen angewiesen. Die Hauptrolle hierbei spielt ein statistisches Verfahren, das nach dem Mathematiker Thomas Bayes benannt ist. Diese bayesianische Statistik lässt Vorwissen in die Berechnung einfließen. Um z. B. die mittlere Schuhgröße in der Bevölkerung zu
bestimmen, könnte man die Füße von 100 Personen ausmessen. Dabei kann jedoch zufällig auch ein extremer Wert herauskommen, etwa eine mittlere Schuhgröße bei
Männern von 48, was eher unplausibel ist. Um dies zu vermeiden, sollte man Vorwissen berücksichtigen – zum Beispiel Messungen aus den letzten Jahren. Bayes’ Theorem kalkuliert dieses Wissen mit ein. Wenn man so will, handelt es sich um eine Statistik manipulierter Informationen, die jedoch eine höhere Aktualität repräsentiert, als rein mathematische Verfahren. Je nach Fragestellung kann es sich jedoch auch statt der Aktualität um Authentizität handeln, wenn z. B. milieuspezifische Verhaltensweisen als Vorwissen angewendet werden. Solche Anwendungen sind im Zusammenhang mit Kreditvergaben durch Banken belegt und stellen die problematische Seite dieses Ansatzes dar. In diesem Zusammenhang entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, darauf hinzuweisen, dass Bayes seine Formeln zur Vorausschätzung von Lotteriegewinnen entwickelt hat. Auch an die Manipulation von Wahlen nach dem Vorbild von Cambridge Analytica muss gedacht werden! Es ist in jedem Fall danach zu fragen, welches Vorwissen in die Berechnung eingeht und wie es beschafft wurde, denn mit »bayesscher Schlussfolgerung« (Bayesian inference) wird ausgerechnet, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Muster auftritt unter der Voraussetzung, dass eine bestimmte Hypothese zutrifft (Modellrechnung).

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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