In dieser ersten Fortsetzung des Beitrags „Biden oder Trump“ gebe ich einige notwendige Vorinformationen bevor ich den eigentlichen Vergleich der Präsidentschaftskandidaten vornehmen kann. Dabei geht es um die Klärung der Methode sowie um die Bedeutung der verwendeten Begriffe.
Die Typologien der Integralen Theorie (Quadranten, WMeme) und des Enneagramms unterscheiden sich grundlegend voneinander hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit, da die Wertesysteme (WMeme) unabdingbare Entwicklungsstadien des Menschen beschreiben und daher Allgemeingültigkeit besitzen, während die 9 Enneagramm-Typen Persönlichkeitstypen sind, die man auf jeder Stufe der geistigen Entwicklung antreffen kann, aber nicht muss. Diese Unterscheidung hat für die in diesem Beitrag praktizierte Anwendung keine große Bedeutung, weil keine Persönlichkeitstypen dargestellt werden, sondern lediglich von den beiden Kandidaten hervorgerufene (evozierte) Reaktionen unter definierten Bedingungen sind. Diese Einschränkung gilt für beide Typologien und setzt sie damit methodisch – aber nicht in ihrer Bedeutung – gleich.
Eine Ermittlung der Potenziale der Enneagramm-Typen ist nach dem Gesagten nur möglich, wenn diese auf allen Ebenen der universellen Entwicklungsspirale dargestellt werden. Daraus ergeben sich 8 WMeme, differenziert in jeweils 9 Enneagramm-Typen – also 72 Kombinationen pro Kandidaten, die grafisch dargestellt werden. Gleiches gilt für die Quadranten, die so insgesamt 36 Kombinationen pro Kandidaten ergeben. Zunächst gebe ich jedoch einen Überblick über die benutzten englischen Begriffe in ihrem historischen Verlauf auf der Grundlage von Google Books.
Bei den Wörtern in den Grafiken 1 und 2 handelt es sich um die im englischen Sprachraum gebräuchlichen Bezeichnungen für die jeweiligen Wurzelsünden (christl.:Todsünden). Sie entsprechen im Deutschen Angst (Furcht), Stolz, Habsucht (Gier), Neid, Zorn, Schamlosigkeit (Unkeuschheit), Lüge (Betrug), Faulheit und Völlerei (Unmäßigkeit). (Anm.: Die Reihenfolge entspricht den Grafikbeschriftungen)
Zwei der in Grafik 1 dargestellten Charakterzüge – Angst als stärkster, gefolgt von Stolz als zweitstärkstem – verfallen seit dem Jahr 1800 kontinuierlich mit etwas unterschiedlicher Geschwindigkeit – allein die Schamlosigkeit zeigt ab dem ausgehenden 19. Jh. eine beständige lineare Zunahme. Die Angst zeigt am Beginn des 19. Jh. einen starken Einbruch und markiert damit etwa die napoleonische Ära, ohne das sich dafür eine plausible Erklärung anbietet. Jedoch ist hervorzuheben, dass der etwa bis 1960 zu sehende Bedeutungsverlust der Angst ab jenem Zeitpunkt zum Stillstand gekommen ist, dann jedoch ca. ab dem Jahr 2000 in eine Wachstumsphase überzugehen scheint. Ähnliches gilt für den Stolz, der aus einem deutlichen Verfall in eine Wachstumsphase überzugehen scheint. Für diese beiden, wie auch für die anderen, sind in Grafik 3 die mit dem Ngram nicht darstellbaren aktuelleren Jahre durch globale Abfragen mit Google ergänzt. In dieser Darstellung sind die Jahre von 1990 bis 2024 für alle 9 Charakterzüge als Übersicht dargestellt. Diese Darstellung basiert jedoch auf Abfragen bei Google und ist deshalb nicht unmittelbar an die Ergebnisse in den Grafiken 1 und 2 anknüpfbar. Durch die zeitliche Überlappung von 1990 bis 2008 ist jedoch ein ergänztes Bild herzustellen.
In Grafik 4 ist die Fortsetzung der drei stärksten Charakterzüge bis in die Gegenwart nach Daten aus Google-Abfragen dargestellt. Es handelt sich – wie bereits zu Grafik 1 beschrieben – um Angst, Stolz und Schamlosigkeit. Die Verläufe dieser Wurzelsünden weisen starke Wachstumstendenzen auf, die sich mathematisch jeweils durch Polynome in 4 Graden beschreiben lassen und damit eine Ähnlichkeit besitzen, die mathematischen Gesetzmäßigkeiten folgt, aber nur in dieser Vereinfachung erkennbar sind. Allerdings sind an einigen Stationen deutliche Korrelationen abzulesen. Das gilt für das Jahr 2000, jenes Milleniumereignis, das die Menschheit zur Bestandsaufnahme und Zukunftsschau veranlasst hat und deutlich werden lässt, dass Angst und Stolz als Hauptzüge der langfristigen Entwicklung zu bezeichnen sind.
Jedoch zeigt sich im Jahr 2015 ein zweiter Korrelationspunkt, ab dem eine wesentliche Gewichtsverlagerung von Stolz zu Schamlosigkeit hin stattfindet, die auch als Hinweis auf langfristige Verlagerungen im Verhalten der englischsprachigen Welt gelesen werden kann. Dabei ist zu beachten, dass es sich nicht – wie aus deutscher Perspektive in der politischen Diskussion häufig gesagt wird – um Folgewirkungen des ab 2015 stattfindenden Flüchtlingsstroms nach Deutschland handelt, sondern – aufgrund der sprachlichen Adressierung in Englisch – eher um ein weltweites Geschehen, das als Folgewirkung der Zerstörung von Lebensgrundlagen nicht oder schwach industrialisierter Weltgegenden bezeichnet werden kann. Die Ursachen können dabei sowohl ökologischer als auch kriegerischer Art oder kombinierte Wirkungen sein. In jedem Fall spielt die Magnetwirkung des wohlhabenden Westens hierbei eine ursächliche und entscheidende Rolle.
Der Bedeutungswechsel zwischen Stolz und Schamlosigkeit „ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“ und gleichzeitig wächst die Angst. Diese Beschreibung könnte eine Metapher für die gegenwärtige Weltsituation sein, die durch Kriegs- und Katastrophenangst, gekränkten Stolz auf die Errungenschaften der westlichen Wertegemeinschaft durch Abgleiten zentraler Staaten dieser Gemeinschaft in menschenverachtende Politik und Ignoranz gegenüber der Vernichtung der Lebensgrundlagen gekennzeichnet ist. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass es die westliche Wertehaltung ist, die nicht mehr glaubwürdig erscheint und nationale Sonderwege sucht oder bereits verfolgt. Der Vorwurf solcher Instabilitäten kann autoritär agierenden Staaten dagegen nicht gemacht werden und gewinnt – gerade deshalb? – an Glaubwürdigkeit des autoritären Weges. Das Verhalten der werteorientierten westlichen Staaten entspricht durch die Leugnung ihrer Schwächen einem Zynismus der das in der Moderne gewandelte Bild der Schamlosigkeit bezeichnet.
Bei den Begriffen der biblischen Todsünden handelt es sich um tradierte Begriffe, die zwar heute noch gebräuchlich sind, jedoch durch die Jahrhunderte kultureller und gesellschaftlicher Entwicklungen nicht mehr ohne „Übersetzung“ in die Gegenwart verständlich sind. Für die Hauptbegriffe Angst, Stolz und Schamlosigkeit gebe ich nachfolgend einige Hinweise, die zum Verständnis beitragen sollen.
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