„Die Toteninsel“ als Symbolik der Pandemie-Beschränkungen
Die von Böcklin verwendete Symbolik schöpft aus den Europäern gemeinsamen Quellen des antiken Griechenland und ist deshalb ohne weiteres auf die europäische Gegenwart und darüber hinaus auf europäisch geprägte Kulturen übertragbar. Ohne Umschweife erschließt sich auch die Raum und Zeit überwindende Bedeutung in der gegenwärtigen Corona-Pandemie. Sie ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet:
- Die dargestellte Szenerie ist gültig für die gesamte bürgerliche Gesellschaft. Von der Pandemie sind prinzipiell alle Menschen ohne Unterschied der sozialen Herkunft betroffen.
- Zu Untätigkeit und Kontaktvermeidung verdammt träumen viele Menschen von einem leichten Leben unter Urlaubsbedingungen unter südlicher Sonne, das für unbestimmte Zeit nicht stattfinden kann.
- Berufsarbeit für gut ausgebildete Frauen ist nur für wenige Frauen in adäquaten Positionen möglich. An der Unterstützung durch ihre Männer fehlt es häufig. Die als räumliche Enge empfundene Beschränkung auf die eigene Wohnung führt zu familiären Konflikten und Klärung von Rollenverständnissen.
- „Besserverdienende“ wohnen in gehobenen Wohngegenden und haben wenig Verständnis für die Situation von Arbeitern.
- Reisen gehört nach wie vor zu den beliebtesten Freizeitbetätigungen und ist durch die Pandemie weitgehend ausgeschlossen.
- Viele Großstädte sind durch wenig Grünflächen, hohe Lärmbelastungen und hohe Schadstoffimmissionen unwohnlich geworden und haben unter den Beschränkungen der Pandemie die ohnehin bestehende Sehnsucht nach Natur verstärkt.
- Durch die Schließung der Spielplätze, Kitas und Schulen sind die Familien weitgehend auf den Aufenthalt in der Wohnung beschränkt. Alte Rollenbilder werden unter diesen Bedingungen wieder aktiviert.
- Die Angst des 19. Jahrhunderts vor „Pesthöhlen des Grauens“ ist abgelöst durch die Angst vor Menschenansammlungen in Arbeiterunterkünften, Massenveranstaltungen, Altenheimen und Gaststätten.
- Der kulturelle Reflex auf die Verdinglichung der Toten funktioniert nach wie vor. Der Abtransport der Toten aus Bergamo löste disziplinierende Reaktionen aus, die in ganz Europa vorauseilende Selbstbeschränkungen sozialer Kontakte bewirkten.
Zwischen der Moderne und dem romantischen Verlangen nach Natur besteht der Urkonflikt des Menschen, der in immer neuen Gestalten, z. B. Im Bild des „edlen Wilden“ über die Jahrhunderte wiederkehrt. Solange Menschen als Nomaden mit der Natur lebten, kam es zu langsamer Zunahme der Bevölkerung in losen Verbünden. Vor etwa 10.000 Jahren gaben sie diese Lebensweise auf und wurden als Bauern sesshaft. Der nun beginnende Ackerbau produzierte Nahrungsmittel, die auf gleicher Fläche sieben mal so viele Menschen ernähren konnten, als in der nomadischen Lebensweise möglich war. Dennoch nennt der israelische Historiker Yuval Harari diesen Schritt »den größten Betrug der Geschichte« und die Gründe für dieses Urteil fasst der Zeit-Redakteur Fritz Habekuss in der Wochenzeitung DIE ZEIT Nr. 22/2020 zusammen:
- Das Ende einer egalitären Gesellschaft durch die Einführung von Privatbesitz, der Neid unter den Sippenmitgliedern hervorrief;
- die Menschen lebten in den nun entstehenden Siedlungen dicht beieinander und Seite an Seite mit Tieren. Damit schufen sie perfekte Brutstätten für neuartige Infektionskrankheiten;
- die Ausbreitung von Infektionskrankheiten beschleunigte sich enorm gegenüber den Verhältnissen bei Jägern, die nur lockere Kontakte miteinander hatten.
Habekuss datiert die erste gut dokumentierte Epidemie durch Influenza-Viren auf die Zeit vor mehr als 3.200 Jahren, also etwa auf das Jahr 1.200 v. Chr.. Die seitdem nachgewiesenen Epidemien und Pandemien lassen den Schluss zu, dass die Menschheit zu allen Zeiten und in allen Kulturen mit dem Risiko von hohen Bevölkerungsverlusten durch Seuchen zu leben hatte und wahrscheinlich auch in Zukunft leben muss. An dieser Erkenntnis ändern auch die Fortschritte in Medizin und Technik nichts – im Gegenteil, je größer das Verständnis von den Gefahren wird, desto vielfältiger und herausfordernder werden die Anstrengungen, diesen Gefahren zu begegnen. Es ist wie mit dem Vordringen des Menschen in den Weltraum: Seit es möglich ist, auch ferne Planeten mit Weltraumsonden zu untersuchen ist die Kenntnis von den Bedrohungen der Erde durch Meteoriten enorm gewachsen und hat zu der Erkenntnis geführt, dass die hiervon ausgehenden Gefahren sehr real sind und enorme Anstrengungen zu ihrer Beherrschung erfordern würden. Allgemein gesprochen haben die Einblicke in den Mikrokosmos wie auch in den Makrokosmos neue Denkräume eröffnet, die statt zu der erhofften Vereinheitlichung universeller Ordnung zu mehr Verwirrung über die Natur der Dinge geführt haben. Damit ist der beschrittene Weg der Anhäufung riesiger Datenmengen mit Unterstützung der neuen Informationstechniken hinter die Frage zurückgetreten, welche Qualitäten gesammelte Daten haben sollen und wie sie sinnvoll in Beziehung zueinander gesetzt werden können. Es geht dabei um Wertungen, die nicht den Maschinen und ihren Algorithmen überlassen werden können. Hier ist die menschliche Kreativität gefordert.
Durch die von der Pandemie ausgelöste „Zwangssolidarität“ sind neue Wertsetzungen entstanden, die bisher unterbewerteten Tätigkeiten im Einzelhandel, in Pflegeberufen, in medizinischen Berufen, im Rettungswesen und der Polizei (Aufzählung ohne Anspruch auf Vollständigkeit) öffentliche Anerkennung erwies. Gleichzeitig änderte sich jedoch nur wenig an der prekären Situation, in der sich diese Berufsgruppen befinden. Es ist hierzu anzumerken, dass es zu den bereits geschichtlich erprobten Methoden der sozialen Strukturerhaltung gehört, durch öffentliche Ehrungen konkrete Verbesserungen der wirtschaftlichen und sozialen Situation der Einzelnen zu umgehen. In einem Staatswesen, das auf Individualismus ausgerichtet ist führen systemfremde Reaktionsweisen zu Irritationen und Misstrauen. Das politische System wird in Fällen, wie der jetzigen Pandemie abhängig von der Einsichtsfähigkeit seiner Teilnehmer. Gerade hieran mangelt es aufgrund der Politik der letzten Jahrzehnte, in denen die Gesellschaft entsolidarisiert wurde und das untere Drittel das Füllhorn der oberen zwei Drittel finanzieren musste. Damit entstand in der Mittel– und Oberschicht für eine gewisse Zeit der Eindruck unbeschwerten Wohlstands, bis durch die immer deutlicher werdenden Misstände – vor allem auf kommunaler Ebene – bei den Einsichtsfähigsten Zweifel an der politischen Strategie aufkamen.
Vergleichbare Situationen hat es während der letzten Monate häufig gegeben. Angestrebt wurde die Vereinzelung der Menschen, indem soziale Kontakte außerhalb der Familie unterbunden wurden. Dabei wurden unterschiedliche Maßstäbe angelegt, die zwischen Privatpersonen und Betrieben unterschieden. Beispielsweise war/ist (?) die gemeinsame Anfahrt von Arbeitskollegen zur Arbeitsstelle im Privatwagen (Fahrgemeinschaft) nicht zulässig, gleichzeitig darf/durfte (?) der Chef die gleichen Mitarbeiter jedoch im Firmenfahrzeug gemeinsam zum Einsatz bringen. Ein infektiologischer Grund für diese Differenzierung ist nicht ersichtlich.
Es gab von allen offiziellen Beteiligten – politisch wie auch medizin-fachlich – Anordnungen, Empfehlungen, Kommentare und Erläuterungen, die von den Adressaten nicht zu schlüssigen Verhaltensregeln gebündelt werden konnten und weite Interpretationsspielräume beinhalteten. In einem politischen Klima, das durch Vertrauen zwischen Bürgern und Staat getragen ist, führt solch eine Situation nicht zu wütenden Protesten, sondern zu sachlichen Nachfragen. Hierfür standen jedoch keine kompetenten Anlaufstellen zur Verfügung, vielmehr verbreitete sich der Eindruck, dass die politisch Verantwortlichen sich hinter medizinischen Autoritäten versteckten, die ihrerseits wieder auf Politiker verwiesen.
Auch in der nun laufenden Phase der sukkzessiven Rücknahme der Beschränkungen ist kaum Klarheit in der Vorgehensweise erkennbar. Die einzelnen Bundesländer haben eigene Konzepte entwickelt, die für zusätzliche Verwirrung sorgen und die Freizügigkeit auf diese Weise einschränken.
Bei alldem wird eine mittelfristige Perspektive für ein Leben mit der COVID-19-Gefahr durch immer neue tagespolitische Meldungen zur Pandemie überspielt. Das seit Beginn der Pandemiekrise geltende Ziel aller Beschränkungsmaßnahmen ist die Beherrschbarkeit der medizinischen Versorgung im Hinblick auf die Notversorgung bei fehlender Medikation und medizinischer Prophylaxe. Hierbei wurde jedoch – der immerhin nicht unwahrscheinliche Fall – ausgeblendet, dass es längere Zeit als veranschlagt keine Medikamente und/oder Impfstoffe gegen COVID-19 geben könnte. Ohne Panik verbreiten zu wollen ist es sinnvoll, die Menschen auf diese Möglichkeit vorzubereiten und die Politik auf ein Leben mit Pandemien auszurichten. Nicht nur der Ausfall entsprechender Forschungserfolge, auch die Massentierhaltung, die zunehmende Zerstörung von Wildhabitaten und zunehmende Klimaveränderungen lassen die Wahrscheinlichkeiten weiterer Zoonosen und Seuchen wachsen. Zusätzlich ist gerade im Hinblick auf Viren eine hohe Mutationsrate zu berücksichtigen, die den Einsatz von Medikamenten und Impfstoffen zeitlich begrenzen.
Wichtigste Voraussetzung für die Neuausrichtung einer am One-Health-Ansatz der WHO ausgerichteten Politik ist die Schaffung des Bewusstseins einer Pandemiegemeinschaft, die den ins Verderben führenden Egotrip globaler Ausbeutung mit ausgefeilten Lieferketten kurzfristig beendet.
Der von der WHO vor gut zehn Jahren übernommene neue Ansatz folgt der Überzeugung, dass die Gesundheit von Tieren, Menschen und der Umwelt zusammengehört. Wenn man Probleme wie verunreinigte Lebensmittel, multiresistente Keime oder eben Zoonosen wirklich lösen will, geht das nur, wenn man die Systeme in ihrer gesamten Komplexität erfasst. Dahinter steckt eine einfache Erkenntnis: Gesunde Menschen gibt es nur auf einem gesunden Planeten. Und der beste Schutz gegen gefährliche Seuchen ist: Abstand halten, d. h. so zu produzieren, zu wohnen, zu kommunizieren, zu reisen und Freizeit zu verbringen, dass der Respektabstand in angemessener Weise eingehalten werden kann.
(Anmerkung: Wenn nicht anders angegeben, stammen Zitate aus dem Buch von Rose-Marie und Rainer Hagen mit dem Titel „Bildbefragungen, Verlag Taschen)