New York – Eine Stadt wie ein Universum?

Die Situation der Stadt in interessanten Zeiten

Zu den feststehenden Begriffen der Menschheit gehörte – seit es Hochkulturen gibt – das Verständnis von Stadt. Zwar war dieses im Laufe der Jahrtausende auch erheblichen Wandlungen unterworfen, jedoch gab es bestimmte Merkmale, an denen sich der Begriff orientierte. Hierzu gehörten die Bindung an einen bestimmten Ort, die gegenüber der Nicht-Stadt wesentlich größere Zahl von Menschen auf relativ kleiner Fläche, das gemeinsame Verständnis von dem Ort an dem man/frau wohnte und der einen Namen trug, den jede(r) verstand. Weitere Merkmale, die nicht zwingend vorhanden sein müssen, jedoch in vielen alten Kulturen vorgefunden werden und in der europäisch geprägten Stadt typisch sind, bestehen in Arbeitsteilung und politischer Führung. Diese Konstanten werden nur selten – und wenn überhaupt – nur in unregelmäßigen Abständen unter großen politischen Diskussionen verändert, etwa wenn Städte zusammengelegt und/oder neu benannt werden. Selbst die auf niederer räumlicher Ebene vorgenommene Änderung von Adressen verursacht große Aufregung bei den Betroffenen.

In der globalisierten neoliberalen Welt ist nun auch die Stadt nicht mehr das, was sie über Jahrtausende war. Zwar sind die genannten Konstanten noch immer real vorhanden, doch sind sie nicht mehr so konstant, wie sie es bisher waren. Die gebauten Städte haben ihre Beständigkeit verloren, in Deutschland werden ganze Stadtviertel abgerissen, die gerade 50 Jahre existierten, in den Innenstädten entstehen verlassene oder verfallende Straßenzüge und an den Stadträndern zeugen Blechwüsten von der Verlagerung des Handels an die Peripherie.

Horchen und sehen wir hinaus in die Welt, dann hören und sehen wir auf den Straßen unserer Städte Menschen aus nahezu allen Kulturen der Welt, neu entstandene und entstehende Megastädte in China, boomende Städte wie London, explodierende Wohnungs- und Immobilienpreise in den Metropolen und Flüchtlingsstädte mit Millionen Einwohnern am Rande der Wüsten. Kein Zweifel: Die Welt ist in Bewegung geraten und es ist notwendig, eine neue Konstante der Stadt zu akzeptieren – ihre Entwicklungsdynamik bzw. ihr Gegenteil – den Verfall. Schon längst ist es im Zuge der globalisierten Ökonomie üblich geworden, von Gewinnern und Verlierern zu sprechen, ihre Namen werden jedoch meistens verschleiert. Sie müssten ganze Städte und Länder bezeichnen und die Gründe für die Vielfalt auf unseren Straßen liefern.

„Stellen Sie sich eine ganz gewöhnliche Kreuzung in New York vor, einen Halt an einer Ampel. Die Einen stehen, die Anderen gehen, manche Autos bremsen und andere setzen sich in Bewegung. In einem Freeze Frame , wie ein Standbild im Filmjargon heißt, würde ersichtlich, dass hier völlig unterschiedliche Absichten aufeinander treffen. Jeder geht in Gedanken versunken seinen Beschäftigungen nach. die anderen Menschen, die Straße, die Tageszeit, die Gebäude, das Licht und das Wetter bilden dabei nur die Kulisse bei der Betrachtung des Einzelnen, die Geschichte, die sich aus diesem Moment ergibt. Aber genau das macht eigentlich eine Stadt aus, sie nimmt alle diese verschiedenen Absichten gleichzeitig auf, nicht nur an dieser, sondern an tausenden von Straßenecken.“ (E. L. Doctorow, Schriftsteller)

Die humanistische Auffassung der Stadt, wie sie in dieser Sichtweise des New Yorker Schriftstellers zum Ausdruck kommt, ist jedoch mit der Dynamik des Gesamtsystems Stadt ins Wanken geraten. Nur wer sich mit großer Energie gegen diese dynamischen Kräfte stemmt – wie es das chinesische Modell des Kommunismus tut – wird die Entwicklungen auf einzelne Sektoren des Systems beschränken können. Es liegt jedoch in der marxistischen Philosophie begründet, dass auch dies nur für einen vorübergehenden Zeitraum möglich ist.

In den Städten der Moderne schwingen neben den oben genannten Konstanten eine Vielzahl kultureller Werte mit, die nur auf dem Boden langer Zeiträume gedeihen konnten und ein dichtes Geflecht humanistischer, ästhetischer und ökonomischer Entwicklungen ergeben, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Nur so konnte andererseits das Überleben der Städte nach ihrer physischen Zerstörung durch Kriege, Feuersbrünste und Naturkatastrophen vermieden werden. In dieser Perspektive sind Städte Symbole, die ihren individuellen Charakter ausmachen. Es erscheint mir angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in den Ländern Europas und weltweit sinnvoll, die Charaktermerkmale der modernen Stadt in gedrängter Form darzustellen:

Die Symbolik der Religionen ist eng mit dem Symbol Stadt verbunden. Diese Verbindung verweist auf die Ursprünge der Stadt in den ersten Hochkulturen Indiens, Persiens, Mesopotamiens, Ägyptens, Griechenlands, Roms sowie Mittel- und Südamerikas, wo das Gleichgewicht zwischen Irdischem und Göttlichem Lebensbedingung war und immer wieder hergestellt werden musste.

Ewige Stadt Rom

Rom – Die ewige Stadt; Aus dem Stundenbuch des Herzogs von Berry, © gemeinfrei

Rom, die ,,ewige Stadt“, wird in einer Buchmalerei aus dem 15. Jahrhundert, , als eine edelsteinähnliche, runde Totalität gesehen, die von einer goldenen Mauer umfasst ist. Hier laufen Vergangenheit und Gegenwart im Strom des Tibers zusammen, und es entsteht ein Eindruck von Zeitlosem, Geheiligtem und Kosmischem.

„Städte grenzten die Zivilisation von der Wildnis ab und Stabilität und Kontinuität von nomadischer Wanderschaft. Das tun sie, Individuen oder Gruppen betreffend, die einen Ort der Zugehörigkeit suchen, auch heute noch. »Grabe und träume, träume und hämmere, bis deine Stadt aufersteht«, schrieb Carl Sandburg. Städte sind Ziele von Pilgerreisen und verkörpern unsere Projektionen von Möglichkeiten, Neuorientierung und Wiedergeburt. Städte haben eine Persönlichkeit, ein Geschlecht, Namen und Spitznamen: Windy City, Stadt der Lichter, Big Apple. Städte sind Bräute und Huren. Städte schlafen und wachen. Eine Stadt kann uns verführen und ermüden, wir können uns in sie verlieben. Eine große Stadt, wo auch immer in der Welt, kann für einen Menschen ein entscheidender Zielort sein, der eine bestimmte Kristallisation zum Ausdruck bringt und die innersten Tiefen anspricht, in denen das unverletzliche Zentrum, der göttliche Funke, der unsterbliche Punkt oder das Selbst zu finden ist. Heilige Mandalas, deren Mitte der Schwerpunkt ist, sind manchmal als Städte gestaltet. Die Stadt ist auch ein Bild des alchemistischen Lapis und symbolisiert Heiligtum, Inregrität, Symmetrie, Gleichgewicht, die Vermählung von Himmel und Erde oder von Sol und Luna. Wie ihre symbolischen Gegenstücke sind heutige Städte oft quadratisch ausgerichtet oder in den abgewinkelten, bevorzugten Formen heiliger Geometrie – rechteckig, quadratisch, rauten- oder kreuzförmig – angelegt. Ihre wichtigsten Durchgangsstraßen strahlen in die Himmelsrichtungen aus, sind Kanäle für die Ebbe und Flut des Lebens und für das Aufnehmen und Ausstoßen zahlloser Einflüsse. In der Vergangenheit wurden bei städtischen Gründungsfeierlichkeiten Riten und Zeremonien abgehalten, die diese eher unvorhersehbaren Einflüsse ehren oder besänftigen sollten; Omen wurden rituell vorgetragen, die Grenzen der Stadt gepflügt und geheiligt und an ihrer zentralen Feuerstelle die heilige Flamme entzündet. Früchte- oder Blutopfer konnten der uterinen Erde, den Geistem der höllischen Bezirke und den Gottheiten der Zerstörung dargebracht werden. Die ältesten Städte wurden hieratisch um ein Symbol des kosmischen Mittelpunkts errichtet – einen Tempel, eine Zikkurat, einen Berg oder eine Pyramide, einen wunderbaren Garten, den Palast des Monarchen oder eine Statue einer Göttin, die die Mauerkrone trug, was ihre übereinstimmung mit der ummauerten Metropole bezeichnete, der »Mutter-Stadt«, die »die Bewohner wie Kinder in sich hegt.« (Jung, C.G. Gesammelte Werke. Bd. 5 Abs. 303).

Burj Khalifa

Das höchste Gebäude der Welt – Burj Khalifa; ©GNU

Himmlische Städte stellen den Wohnort von Gottheiten dar, der Perfektion oder der Vervollkommnung, die alle Gegensätze der weltlichen Sphäre transzendieren (oder ausschließen); sie können eine andere Bewusstseinsebene oder einen neuen Geist der Erkenntnis repräsentieren. Doch auch gewöhnliche Städte infiltrieren unsere Träume und Albträume, rufen die Gebäude, Durchgangsstraßen, vertraute und unvertraute Viertel unserer psychischen Anpassung und die Sektionen unseres Lebens wach, die noch im Bau befindlich sind, sich verändern oder verfallen. Hoch aufragende Wolkenkratzer sind zu Symbolen unserer Bestrebungen und unserer Maßlosigkeit geworden. Die Infrastrukturen einer Stadt, gewaltige Systeme mit Wasserrohren, elektrischen Leitungen und Eisenbahnschienen, ausgedehnten Kanalisationen unserer kollektiven Exkremente, U-Bahn-Linien von schlangengleicher Energie verweisen auf mythische Unterweltelemente von Verflechtung, Bewegung, Schatten und Drang. Städte stellen Schichten der Geschichte dar, sind häufig auf den Überresten anderer Städte erbaut und binden die sichtbaren Wahrzeichen und die unsichtbaren Geister einer anderen Zeit mit ein. Städte sind Bilder unserer bewussten Fertigkeiten und kulturellen Entwicklung, und jede Stadt birgt in sich die Möglichkeiten ihres eigenen Niedergangs.“ (zitiert nach dem Artikel „Stadt“ aus dem „Buch der Symbole“, Verlag Taschen, S. 614)

Im Jahre 2018 lebten etwa 50% der Erdbevölkerung in Städten. Damit ist die Stadt zur dominierenden Lebenswelt des Menschen geworden. Ein Gesamtbild der zukünftigen absehbaren Lebenswelt des Menschen ergibt sich erst, wenn auch die Einflüsse des Cyberspace mitbedacht werden. Zwar haben sich die raumprägenden Möglichkeiten der Informationstechnologien aus den 1980-er Jahren nicht einmal ansatzweise erfüllt, doch kann erwartet werden, dass neue Anwendungsbereiche intelligenter und miniaturisierter Techniken erschlossen werden, die das Bild und die Funktionen der gebauten Umwelt der Städte und Gebäude wesentlich mitbestimmen und zukünftig Herausforderungen an die Anpassungsfähigkeit der Menschen stellen können. In diesem Prozess kann die handwerklich und industriell gebaute Stadt schließlich mit dem Cyberspace verwachsen und den Untergang der Stadt, wie wir sie heute noch kennen, besiegeln.

Noch haben wir Menschen die Möglichkeit, die Wege in die Zukunft zu gestalten. Dafür müssen wir jedoch das Gelände erkunden, auf dem wir gehen und auf dem wir bauen wollen. Hierfür hat sich der Blick zurück insoweit bewährt, als er uns die Vermeidung einiger der größten Fehler gelehrt hat, wenngleich es immer wieder so scheint, als sei die Lernfähigkeit der Menschen eher schwach entwickelt, haben wir z. B. in der Anlage unserer Städte und der Hygiene, im Gesundheitswesen, in der Bildung und in der Forschung bemerkenswerte Fortschritte erzielt, die ohne die Lehren aus der Vergangenheit und den Blick über den eigenen Tellerrand nicht möglich gewesen wären. Eines der größten Defizite in der Entwicklung ist jedoch das Wachstum der Städte und der Zivilisation im Konflikt mit der außermenschlichen Natur!

In diesem Sinne werde ich auf den folgenden Seiten einen Blick zurück auf die Entwicklung der Stadt New York werfen, die hier als Symbol und Beispiel für die Entwicklung der westlichen Industrienationen aufscheinen soll. Dabei reicht dieser Beitrag von der Erstbesiedlung bis zum großen Börsenkrach 1929. Die Darstellung folgt weitgehend dem fünfteiligen Dokumentarfilm von Ric Burns, aus dem auch viele Zitate stammen. Der Film ist sehr zu empfehlen!

Die Entwicklung im zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart werde ich in einem separaten Beitrag darstellen.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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