Die Insel
Wer auf meinen Internetseiten öfter zu Gast ist wird bemerkt haben, dass die gegenwärtige Corona-Krise auch mein Koordinatensystem durcheinander gebracht hat. Themen von grundlegenderem Interesse, wie Gedanken über die Zeit und tagespolitischem Interesse, wie die Vorwahlen in den USA wurden durch aktuelle Entwicklungen von größerem Interesse verdrängt und aufgegeben (das betrifft die Vorwahlen in den USA, mangels Alternativen zu Trump und Biden) bzw. hinten angestellt.
Kein anderes Ereignis als die Corona-Pandemie hat in den letzten Jahrzehnten so einschneidende Auswirkungen auf das Leben aller Menschen gehabt, wie die derzeitige Weltkrise durch die Ausbreitung der COVID-19-Krankheit. Dem daraus erwachsenen Interesse an Fragen, die den meisten Menschen viel näher sind, als die – von meinem persönlichen Interesse stark mitbestimmten – oben genannten Themen, habe ich mich nun auf das Thema Corona-Krise eingestellt.
Gegenstand dieses Beitrags ist ein Bild, das 1880 von dem aus Basel stammenden Maler Arnold Böcklin geschaffen wurde. Böcklin gehörte am Übergang vom 19. Jh. zur Moderne des 20. Jh. zu den populärsten Malern im deutschen Sprachraum und seine Werke fanden Beachtung bei Literaten wie Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse und Theodor Fontane. Der Maler selbst verschmolz durch seinen symbolischen Malstil mit seinem Werk, so dass Gerhard Hauptmann den Maler und Kunstlehrer Kramer in seinem Drama „Michael Kramer“ sagen lässt: „ Immer arbeiten, arbeiten, arbeiten, Lachmann. Hörn Se, wir müssen arbeiten, Lachmann. Wir schimmeln sonst bei lebendigem Leibe. Sehn Se sich so ein Leben mal an, wie so’n Mann arbeitet, so’n Böcklin. Da wird auch was, da kommt was zustande. Nicht bloß, was er malt: der ganze Kerl. Hörn Se, Arbeit ist Leben, Lachmann!“
Das Bild mit dem Titel „Die Toteninsel“ entstand als Auftragsarbeit für eine junge Witwe, die 1880 den Grafen Waldemar von Oriola heiratete. Es gibt wesentliche Momente des Zeitgeistes der Wilhelminischen Ära und der entstehenden Moderne wieder. Die Auftraggeberin hatte sich ein „Bild zum Träumen“ gewünscht und damit zum Ausdruck gebracht, was sich viele Frauen des gehobenen Bürgertums in jener Zeit wünschten: Sich einfach aus ihrem Dasein als gelangweilte Ehefrau, wie es in Theodor Fontanes Effi Briest beschrieben ist, fortzuträumen. Das gewöhnliche Leben in seiner sozialen Dramatik und politischen Ignoranz blieb diesen Frauen verborgen. Mit diesem Schmutz hatten sich gestandene Männer zu befassen. Unter diesen Voraussetzungen versteht es sich nahezu von selbst, dass Frauen keinen Beruf ausüben durften. Als Ausweg blieben den Frauen die Flucht in die Phantasie und ihre Träume.
Böcklin hat diese Sehnsucht nach fernen Welten in die mediterrane Erscheinung einer Insel eingebaut, die im Mittelmeer verortet werden kann. Die im Zentrum der Insel stehenden Zypressen sind eine typisch südländische Baumart, die auf nahezu allen Friedhöfen der Mittelmeerländer anzutreffen ist. In den Fels gehauene Gräber erinnern zusätzlich an die antiken Felsengräber wie sie z. B. in Ägypten und auf Kreta anzutreffen sind. Sie rufen Assoziationen zu den Südländern hervor, die durch das wachsende Eisenbahnnetz und die im Aufbau befindliche touristische Infrastruktur zu Sehnsuchtsorten des deutschen Adels und Bürgertums geworden waren und auch das Ambiente für die Träume der Frauen zur Verfügung stellten. Neben der Verklärung antiker Kultur machte auch die vermeintlich leichtere Lebensart der Mittelmeerländer diese Reiseziele zu attraktiven Zielen für Bildungsreisen. Der Wert von Bildern mit südländischen Motiven wurden so immer mehr auch durch ihre Funktion des Erinnerns an Erlebnisse der Reisenden vergrößert.
Das Motiv der Insel hat seit jeher in bewussten Phantasien und unbewussten Projektionen ihren Platz und erfüllt in hohem Maße den Wunsch der Auftraggeberin, ein Bild zum Träumen zu erhalten. Inseln wecken Gedanken an Entkommen, Einsamkeit, Zuflucht oder Gefangenschaft. In den Mythen und Geschichten aller Kulturen spielen sie als trostlose, verborgene Inseln der Toten oder als ewig fruchtbare Inseln der Seligen eine Rolle. Psychologisch betrachtet bringen sie abgespaltene Teile des Bewusstseins zurück und repräsentieren damit auch isolierende Geheimnisse, tabuisierte Wünsche und abgetrennte Traumata. Damit bieten sie die Chance ungeahnte unverletzliche Räume zu entdecken, in denen der Schatz des Selbst gefunden werden kann.
Symbolisch wird das Bild der Insel durch die vielseitige Interpretation des Bootes ergänzt. Das Boot verkörpert die Reise des Lebens, die Rückkehr zum Ausgangspunkt. Und fast überall symbolisiert das Boot die letzte Reise, jene, die uns Menschen mit den Wassern des Anfangs wiedervereint, die Überfahrt zum „fernen Ufer“. Oft ist es eine einsame Reise, doch nicht immer eine trostlose. Die alten Ägypter glaubten, die Sonne werde jede Nacht in einer Barke über den abgründigen Ozean der Nacht zum Sonnenaufgang und der Wiedergeburt befördert, so wie das Bewusstsein über die tiefen Ozeane des Schlafes getragen wird.
Damit zeichnet sich die „Toteninsel“ als Bild mit hoher symbolischer Aufladung aus, die den Betrachter nicht nur das gegenwärtige Leben um die Phantasie des Lebens in fernen Ländern bereichert, sondern auch die Verbindung zur Ewigkeit nach dem Tode herstellt.
Der Traum vom anderen Leben im milden Klima des Südens war allerdings auch eine Flucht aus der Wirklichkeit der Gründerzeit mit rascher Ausbreitung der Industrie und der Städte sowie dem nachfolgendem wirtschaftlichen Verfall. Das Leben der Bürger war von städtischer Lebensweise geprägt und fand in dunklen Räumen hinter schweren Vorhängen statt, die Frauen waren eingezwängt in Korsetts, man trug steife Kragen und die gesellschaftlichen Regeln waren ebenso eng und steif wie die Kleidung. Natur war nur erlaubt beim Ausflug, in Blumentöpfen und in Bilderrahmen. Unter diesen kulturellen Bedingungen entstand ein Bedürfnis nach unverstellter Natur, das in den 1890er Jahren durch die bürgerliche Jugend zum Ausdruck gebracht wurde und 1896 zur Gründung der „Wandervogel“-Bewegung führte.
Das von Böcklin gewählte Thema „Tod“ in Form der letzten Ruhestätte war in der Entstehungszeit des Bildes durch die Diskussionen um die Zulässigkeit der Feuerbestattung und der hierfür geplanten Krematorien aktuell. Diese Entwicklung war einerseits Folge der zunehmenden Industrialisierung und Verstädterung, andererseits der seit mehr als hundert Jahren anhaltenden Furcht der Bevölkerung vor „Verwesungsdünsten“ (Leichengift), die angeblich zur Verbreitung von Seuchen führten. Gräber wurden so zu „Pesthöhlen des Grauens“ und Friedhöfe zu „Geburtsstätten des Verderbens“. Die Lösung der Probleme wurde in der Verlagerung der Friedhöfe vor die Stadt gesucht, wo sie jedoch durch die rasch wachsenden Städte bald wieder verdrängt wurden und innerhalb der herkömmlichen Konzeption immer weiter in die Landschaft verlagert wurden, so dass 30 oder 40 km Entfernungen von der Stadt nicht selten waren. Erreichbar waren diese Friedhöfe – z. B. der im Umland von London gelegene Friedhof von Woking – nur noch durch spezielle Eisenbahnlinien, die man als „Totenbahn“ bezeichnen könnte, da auch die Särge mit den Toten hierauf transportiert wurden. In zeitgenössischen Leserbriefen an französische Zeitungen konnte man hierzu lesen: “Der allgemeine Volkszorn erhebt sich bei dem Gedanken, dass die Toten dutzendweise in Eisenbahnwaggons transportiert werden sollen…, sie werden offenbar behandelt wie einfaches Stückgut“.
Es bildeten sich in der Öffentlichkeit zwei Parteien: Die eine, die den Eisenbahntransport der Toten ablehnten und den Bau von Krematorien in Verbindung mit platzsparenden – in die Stadt integrierten – Columbarien zur Aufnahme der Urnen Verstorbener als Lösung des Problems propagierte, die andere, die den Bau der hochtechnisierten Verbrennungsöfen mit dem vermeintlichen Ausstoß unhygienischer Verbrennungsrückstände ablehnte. Hier zeigte sich ein fundamentaler Konflikt, in dem die Moderne in Widerstreit mit Tod und Ewigkeit lag. „Dies mag einer der Gründe gewesen sein, warum jene von ihnen, die oft ‚träumten‘ sich ihre Verstorbenen gerne weit fort vorstellten, in einer schönen Landschaft, verschont vom Lärm und Schmutz der Fabriken. Zum Beispiel auf einer Insel irgendwo im Süden.“
Eine weitere Anleihe bei der Antike ist das zwischen Leben und Tod liegende dunkle Wasser, auf dem die Toten im Bild per Kahn zur Insel gebracht werden. Mythologisch gesehen überqueren sie den unterweltlichen Fluss Lethe oder den Styx, die den Toten die Gnade des Vergessens bringen. Dem Zeitgeist entsprechend wurde der Tod als sanftes Gleiten dargestellt und entsprach der in Wilhelminischer Zeit herrschenden Körperfeindlichkeit und Prüderie, die auch körperliche Ausdünstungen und andere organische Äußerungen einschloss und das Verhältnis zum Tod entscheidend mitbestimmte. „Der Abscheu vor dem körperlichen Verfall, vor dem Prozess der Verwesung förderte die Feuerbestattung, sie förderte auch die dauerhafte Ausschmückung der Gräber.“ Friedhöfe wurden zu ansehnlichen Zielen der Angehörigen für Wochenendaktivitäten und förderten – wie schon im antiken Rom – die Selbstdarstellung der Familien. „Wie die Grabdenkmäler seiner Zeit verklärt auch Böcklin in seinem Bild die Realität von Ende und Verwesung“, lässt jedoch die über den Tod hinausgehende Frage nach einem Leben jenseits des Todes offen. Er deutet jedoch mit der im Kahn stehenden weißen Gestalt, bei der es sich um einen antiken Priester handeln könnte, die Beziehung des Todes zum Geistigen an.
(Anmerkung: Die in Anführungszeichen gesetzten Texte sind Zitate aus dem Sammelband „Bildbetrachtungen“, Rose-Marie & Rainer Hagen, Verlag Taschen)