Die Corona-Pandemie geht in eine neue Phase

Die Entwicklung der Wertewelten in Deutschland

In Grafik 1 sind die Wertewelten für Deutschland in vier Jahren zwischen 2010 und 2019 abgebildet, also zu Zeitpunkten, die nicht von der Pandemie unbeeinflusst waren. Die Schwankungen zwischen diesen Jahren sind gering und liegen nur geringfügig über dem Unsicherheitsbereich, der für die Methode anzunehmen ist.

 

WMem-Vergleich Deutschland
Grafik 1: Entwicklung der Wertewelten in Deutschland (2010 – 2019)

Grafik 2 gibt die Situation im April 2020 wieder, als die Pandemie etwa einen Monat bestand und die Infektionszahlen in Deutschland noch relativ gering waren. Auch hier sind nur kleine Veränderungen zu sehen, die eine geringe Abnahme von Blau zu Gunsten von Grün bewirkten.

Grafik 2: Wertewelten in Deutschland während des ersten Lockdown

Grafik 3: Wertewelten in Deutschland während des zweiten Lockdown

Der Vergleich zwischen Grafik 2 und 4 zeigt gravierende Veränderungen in der Struktur, die vor allem die drei dominierenden WMeme Blau, Orange und Grün betreffen. Hier hat es im Verlauf von ca. 10 Monaten Pandemie eine Verlagerung von Blau zu Grün gegeben, die auf grundlegende Werteverschiebungen hindeutet, da diese beiden Wertesysteme kollektiv ausgerichtet sind, jedoch antagonistisch aufeinander wirken. Von diesen Verschiebungen ist das individualistische und das Gesamtsystem dominierende Orange nur in geringem Umfang betroffen.

Dabei ist nicht zu verkennen, dass mit der Abnahme von Blau ein Verlust von Vertrauen in die Institutionen verbunden ist, der sich bereits vor der Pandemie in Demonstrationen mit teilweise irrationalen Behauptungen und Forderungen gezeigt hat und nun in der persönlichen Konsequenz der Selbstgefährdung durch Infektion einen Höhepunkt erreicht. Diese Entwicklung hat ihre tieferen Ursachen in der Ablösung alter Glaubenssysteme durch die Wissenschaften und das Geld. Alle diese Ersatzsysteme sind in den vergangenen 30 Jahren ebenfalls in innere Widersprüche und existenzielle Krisen geraten, so dass nun auf breiter Front Perspektivlosigkeit umsichgreift. Das größte Versäumnis ist es aber, die eingetretene Situation nicht offen einzugestehen und zu analysieren – aus Verantwortung für die Menschheit und ohne Angst vor Schuldzuweisungen. Erst so könnten langfristige Perspektiven eröffnet werden, die an den Ursachen der zunehmenden Gefahren ansetzen und ein Leben mit den bereits unwiderruflich eintretenden Veränderungen der Lebensbedingungen ermöglichen.

Grafik 4: Wertewelten in Deutschland unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Pandemie

Eine zweite Abfrage im Internet ohne den zwingenden Bezug zur Pandemie ergab die in Grafik 4 zu sehenden Ergebnisse. Das im Vergleich zu Blau und Grün starke Orange ist Ausdruck der politischen Nabelschau, die alles was mit der Pandemie zu tun hat und die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft und Industrie in den Blick nimmt. In dem Ergebnis in Grafik 3 erscheint Orange zu Gunsten von Blau etwas schwächer, da sich hier vermutlich die wirtschaftlichen Lasten der Pandemie niederschlagen. In dem etwas stärkeren Orange der Grafik 4 ist dagegen der Erfolg in der gefeierten Begrenzung der Infektion und der schnellen Entwicklung eines Impfstoffs neuer Art zu sehen. Die Förderung des WMems Grün erfolgt nicht zuletzt aus dem geschwächten Blau heraus durch ExistenzSicherungsprogramme der Regierung, die nur möglich sind, wenn ein funktionsfähiges Blau existiert.

Von dem geschwächten Blau geht ein direkter Einfluss auf die Entwicklung der Covid-19-Infektionen aus, da die von Blau repräsentierte Bürokratie zur Nachverfolgung der Infektionen und zur Durchführung der Tests, Beschaffung der Impfstoffe, Organisation der Impfungen usw. nicht funktionsfähig war und ist, da im Zuge der neoliberalen Umstrukturierung des Verwaltungssystems massive Umstrukturierungen und Personaleinsparungen vorgenommen wurden. Die gegenüber Orange schwache Position von Blau deutet allgemein darauf hin, dass die Bürokratie weitgehend aus dem Blick der Öffentlichkeit entschwunden ist und damit vernunftgemäßes Handeln durch kurzfristiges interessengeleitetes Handeln verdrängt wird.

Grafik 5: Zeitschnitte der WMeme von Februar 2020 bis Januar 2021

Durch die Nutzung spezifischer Internetquellen ist eine Differenzierung der Ergebnisse nach „offener“ und „geschlossener“ Gesellschaft als Tendenzen möglich. Für die in Grafik 5 dargestellte Entwicklung der WMeme wurden die im Internet verfügbaren Blogs durchsucht. Hierbei wurden bereits früher in diesem Projekt veröffentlichte Grafiken auf den aktuellen Stand Anfang Februar 2021 ergänzt. Für die zweite Jahreshälfte 2020 konnte allerdings die Datendichte aus abfragetechnischen Gründen nicht beibehalten werden. Ab Mai 2020 ist deshalb in der Grafik eine etwas gestauchte Kurve zu sehen, die in Wirklichkeit gestreckter verläuft.

Als Ergebnis aus Grafik 5 – der offenen Seite der Gesellschaft, die durch das Internet möglich ist – kann festgestellt werden, dass Blau derzeit auf einem Niveau angekommen ist, das unter dem vom Januar 2020 liegt. Die Wertememe Orange und Grün sind aktuell nahezu gleich stark und drücken einen starken Wunsch nach sozialen Kontakten aus, der selbst auf dem Höhepunkt des ersten Lockdown weit darunter lag und die Bedeutung des Strebens nach persönlichem Erfolg und materiellem Wohlstand in den Hintergrund treten lässt.

Grafik 6: WMeme im Zeitschnitt von Februar 2020 bis Januar 2021 (Wirtschaft)

Auf der geschlossenen Seite der Gesellschaft wird die Entwicklung durch Daten aus den Printmedien abgebildet, die in der Wirtschaftsdatenbank Genios verfügbar sind. In Grafik 6 sind im Vergleich mit Grafik 5 gegensätzliche Entwicklungen abzulesen, die gegenüber dem Höchststand im März 2020 aktuell einen Gleichstand von Orange zeigen und einen Tiefststand von Grün. Für Blau ist eine leicht abfallende geradlinige Tendenz auf dem niedrigen Niveau seit April 2020 zu sehen, das wesentlich niedriger ist als jenes in Grafik 5.

In den wellenartigen Verläufen der stark hervorgehobenen Polynomlinien sind die Phasen der Pandemie mit ihren Schließungen und Öffnungen in ihrer Gesamtwirkung abzulesen. Dabei ist auffällig, dass Blau die wellenförmigen Veränderungen der grünen und orangenen Kurven in Grafik 5 in abgeschwächter Form zunächst parallel zu Grün, dann aber ab etwa Mai 2020 parallel zu Orange in abgeschwächter Intensität nachvollzieht. Im Unterschied dazu setzt der Abfall der blauen Polynomlinie in Grafik 6 bereits vor dem Lockdown am Jahresanfang 2020 ein und verläuft gleichbleibend auf niedrigem Niveau.

Insgesamt können diese Ergebnisse als Spaltungstendenzen in der Gesellschaft interpretiert werden, deren Trennungslinie zwischen offener internetaffiner Gesellschaft und geschlossener traditionsgebundener Gesellschaft verläuft. Das vermittelnde Wertesystem zwischen diesen Haltungen ist Grün. Dieses kann jedoch nur gelingen, wenn ausreichende Ressourcen aus Blau bereitgestellt werden, die es ermöglichen, einen Übergang von Grün zu Gelb und Türkis als steuernde Wertesysteme zu erreichen. Auf beiden Seiten der Gesellschaft ist Blau gegenwärtig zu schwach, um die Voraussetzungen für die notwendigen Einsichten in die Rolle zu gewinnen, die ihm in der Gesamtentwicklung zukommt. Neue Impulse, die von mutigen Querdenkern aus Rot kommen können – sind daher dringend erforderlich.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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