Deutschland im politischen Umbruch

Die Situation des Systems „Deutschland“ im Juni 2019

Die Wahl zum Europaparlament am 26. Mai 2019 hat etwas amtlich verbindlich werden lassen, was sich bereits in den letzten Jahren in verschiedenen politischen Entscheidungen und Kommentaren, nicht zuletzt auch in Ergebnissen, die in diesem Projekt veröffentlicht wurden, angekündigt haben: Die politischen Verhältnisse in Europa, und besonders in Deutschland, beginnen sich grundlegend zu wandeln. Was bisher in dem rasch wechselnden Tagesgeschäft der Politik – und dem entsprechend der Medienberichte – nur schwache Eindrücke hinterließ bleibt nun längere Zeit im Bewusstsein haften. Gleichzeitig nehmen die Empfindlichkeiten der regierenden politischen Formationen zu. Konnten in den 1980er und 1990er Jahren Demonstrationen Hunderttausender Menschen keinen politischen Einfluss ausüben, so sind es nun wesentlich geringzahligere friedliche Demonstrationen z. B. der Bewegung „Fridays for future“, die für hektische Reaktionen in Parteizentralen und Redaktionen sorgen. Auf der anderen Seite reichten bereits einige Hundert enttäuschte und abtrünnige konservative Politiker dafür aus, dass sich die Haltung Deutschlands zu wesentlichen Fragen der Menschenrechte in die entgegengesetzte Richtung drehte.

Die Ereignisse und die Reaktionen hierauf ähneln stark den Phänomenen, die den Anfang der Spiral Dynamics beschreiben. Es wächst das Gespür für die besonderen Herausforderungen, denen sich das Gesamtsystem gegenübergestellt sieht. Für die Ausrichtung des Handelns auf die erwartete Zukunft reicht es nicht mehr aus, die Trends aus der Vergangenheit zu verlängern, sondern es zeichnet sich ein neuer Komplexitätsgrad ab, dem die notwendigen Problemlösungen genügen müssen. Dazu reicht nicht die Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen aus, zusätzlich sind neue Organisationsmodelle erforderlich, die zukünftig den Rahmen der bestehenden Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern, Wirtschaft und Politik sowie zwischen Wissenschaft und Spiritualität sprengen werden. Diese nur schwer aufzubrechenden bzw. neu zu schaffenden Strukturen geben oft im Hintergrund die Begründungen dafür ab, warum etwas als notwendig erkanntes, jedoch noch (vermeintlich) zeitlich aufschiebbares, jetzt nicht, wohl aber zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden soll. Dabei spielt auch das Sankt-Florian-Prinzip in abgewandelter Form eine Rolle, indem verdienstvollen Entscheidungsträgern die Auseinandersetzung mit ungewöhnlichen Problemlösungen und neuen Zuständigkeiten nicht zugemutet werden. An vielen Stellen des bürokratischen Apparats in Wirtschaft und Staat sind politisch austarierte Netzwerke tätig, die aus rein systemischen Gründen erhalten werden, da sie keiner demokratischen Kontrolle unterliegen und die Durchlässigkeit von der Betroffenenebene zur Verantwortungsebene verhindern. In traditionellen Begriffen geht es um Staats– bzw. Beamtenreform, Wirtschaftsreform, Finanzreform, Gesundheitsreform und Kulturreform. Es sind jene Bereiche, an denen sich oft der Unmut der Bürger entzündet und die das Verhältnis zwischen Staat und Bürger bestimmen.

In nahezu allen Bereichen liegen Gutachten und Konzepte für Reformen vor. Sie kranken jedoch in der Regel daran, dass sie vorgegebene Rahmensetzungen zu beachten haben und die Optimierung innerhalb dieses Rahmens, der oft ideologisch – wie z. B. bei der Privatisierung öffentlicher Aufgaben – bestimmt ist. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die aktuelle Problematik hinweisen, die im Zusammenhang mit dem von einer wachsenden Zahl der Städte ausgerufenen Klimanotstand auftritt – er läuft in vielen Städten ins Leere, wo Bäder, Stadtwerke und Fuhrparks privatisiert sind und kein politischer Einfluss auf die Betriebsführung dieser Einrichtungen mehr möglich ist. Hierin offenbart sich einmal mehr der Irrtum, der Markt (die „unsichtbare Hand„) regele alles selber.

Die unter dem Einfluss des Neoliberalismus seit dem Amtsantritt der englischen Premierministerin Margaret Thatcher im Jahr 1979 betriebene Politik der Deregulierung hat letztlich zu einer Selbstentmachtung demokratischer Institutionen und zu einer Unübersichtlichkeit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse geführt, ohne die solche Katastrophen wie der Abgasskandal der Autoindustrie und die Finanzkrise kaum möglich gewesen wären. Unübersichtlichkeit erzeugt Ängste vor dem Unbekannten und weckt die Sehnsucht nach neuer Sicherheit, die bei neuen Heilsbringern oder „unschuldigen“ Parteien gesucht wird. Ein geräuschloser Übergang wird in diesem Prozess nicht möglich sein, wie bereits der frühere Präsident der Tschechischen Republik, Václav Havel, anlässlich der Verleihung des Freiheitsordens von Philadelphia am 4. Juli 1994 in seiner Dankesrede über den Zeitgeist sagte: „Viel weist darauf hin, dass wir durch eine Übergangszeit gehen, in der anscheinend etwas verschwindet und etwas anderes unter Schmerzen geboren wird. Es ist, als würde etwas zerbröckeln, vergehen und sich erschöpfen, während etwas anderes, noch Unbestimmtes, aus dem Schutt hervorginge.

Bedingungen für den politischen Umbruch in Deutschland

Voraussetzung für einen der Gesamtsituation angemessenen Wandel im Sinne der Entwicklungsspirale ist das Vorhandensein eines Veränderungspotentials, das auf einer Skala von „offen“ über „blockiert“ bis „geschlossen“ dargestellt werden kann. Daneben müssen sechs weitere Bedingungen erfüllt sein, um die Chance auf eine dauerhafte Weiterentwicklung wahrnehmen zu können:

  1. Das biologische Potential und eine effiziente Struktur dieses Potentials müssen vorhanden sein. Hierzu ist eine ausreichende Offenheit für das Denken in neuen Begriffen erforderlich. Das schließt die Ausschöpfung brachliegender individueller und intellektueller Fähigkeiten ein. Zur Verfügung stehende kreative Intelligenz muss der komplexer werdenden Umwelt angemessen sein. Die Situation darf nicht durch unbewältigte Probleme der Vergangenheit und ungeklärte Störungen der Funktionen im System belastet sein.
  2. Gegenwärtige und vorangegangene Probleme müssen auf der gegenwärtigen Ebene gelöst sein, bevor ein weiterer Schritt in die Zukunft getan werden kann. Andernfalls führt die andauernde Bedrohung durch diese Probleme zu noch mehr Angst und Blockadehaltungen.
  3. Ein Bewusstsein der Unstimmigkeit zwischen den Anforderungen der Lebenssituation und dem Unvermögen, diesen mit den üblichen Mitteln gerecht zu werden. Darüber hinaus muss genügend Unruhe – die dem Gefühl entspringt, dass etwas nicht in Ordnung ist – vorhanden sein, Gescheiterte Versuche, mit den althergebrachten Mitteln der gegenwärtigen Entwicklungsebene neue komplexere Lebenssituationen zufriedenstellend zu lösen, können für die Entstehung neuen Denkens hilfreich sein.
  4. Hindernisse, die einer Weiterentwicklung im Wege stehen, müssen erkannt und überwunden werden. Voraussetzungen hierfür sind die offene Annahme und Benennung der Hindernisse, bevor ihre Ausräumung, Umgehung, Neutralisierung oder ihr Umbau zu etwas anderem erfolgen. Das Vorgehen muss dabei von der Peripherie des Systems zu seinem Kern hin erfolgen. Aus der Reaktion der Peripherie entsteht schließlich der Dialog, der zur Aufhebung des Hindernisses führt. Dieser Vorgang kann als „Aufräumen“ der äußeren und inneren Welt gesehen werden, wodurch Einstellungen und Verhalten auf individueller wie auf kollektiver Ebene geändert werden. Das kann mit Risiken, unbeabsichtigten Folgen und Schmerzen verbunden sein. Umsetzungsdefizite innerhalb dieses Prozesses müssen benannt und offensiv behoben werden.
  5. Analyse der derzeitigen Situation und Ursachenforschung. Bevor ein Schritt zu einer höheren Stufe der Entwicklungsspirale getan wird, muss das aktuelle System von allen Beteiligten vom Ursprung her verstanden sein und Einvernehmen über die Ursachen für die eingetretene Unangemessenheit herbeigeführt werden. So wird es möglich, die alten Probleme im Blick zu halten und die neuen Probleme zu klären. Verschiedene Muster und Modelle sind ebenso wesentlich wie schrittweise Prozesse ihrer Umsetzung, wenn man in ein neues System wechselt. Diese alternativen Szenarien müssen im kollektiven Bewusstsein vorhanden sein, bevor sie in Erwägung gezogen werden können. Die Menschen müssen sich bildlich vorstellen können, was die Neuerungen für ihre eigenen Lebensbedingungen bedeuten könnten.
  6. Über den dynamischen Entwicklungsprozess hinaus ist auch eine unterstützende Begleitung in der Übergangsphase notwendig. In dieser Phase treten Fehler zutage, die korrigiert werden müssen. Ein passendes Bild für diese Vorgänge ist die Bildung neuer Verschaltungen im Gehirn, die erst durch wiederholtes Training verfestigt werden. In dieser Zeit passieren Fehlstarts, es gibt lange Lernphasen und unbeholfene Anpassungsversuche, während sich die neue Denkweise konsolidiert.

Die Bereitschaft zu Veränderungen ist auf individueller wie auf kollektiver Ebene breit gestreut. Zwar kann der natürlich gegebene biologische Zustand von Lebewesen ganz allgemein als offen bezeichnet werden, doch tritt mit zunehmender Reife das Bestreben ein, sich in einer Komfortzone – einem scheinbar geschlossenen Zustand – einzurichten. Daher muss der offene Zustand dahingehend relativiert werden, dass es sich um einen potenziell offenen Zustand handelt. Dieser Zustand kann nur durch eine von außen hervorgerufene Aufmerksamkeit durchbrochen werden. Damit ist jedoch noch keine Veränderung des Denkens und Verhaltens gewährleistet, da die Reaktionen auf aktivierende Reize sehr unterschiedlich sein können.

In der nebenstehenden Grafik ist eine Übersicht über die oben beschriebenen Bedingungen für das System „Deutschland“ dargestellt. Absolute Maßstäbe für die sechs dargestellten Kriterien gibt es nicht. Eine Bewertung ist daher lediglich im Verhältnis zu anderen Systemen innerhalb eines logischen Bezugs möglich. Die Kriterien Offenheit und Sicherheit bilden eine Ausnahme, da sie im Verhältnis zu ihrem Gegensatz eindeutig beschreibbar sind. Der Wert für Offenheit ist daher als Verhältniswert aus Offenheit und Blockade (Offenheit / Blockade) dargestellt. Im Vergleich mit anderen Systemen in Deutschland wird für das Kriterium Offenheit ein hoher Wert erreicht (siehe unten). Alle angegebenen Werte sind als dimensionslose Kennzahlen zu verstehen.

In gleicher Weise wurde der nicht in der Grafik abgebildete Wert für Sicherheit ermittelt. Der eindeutig beschreibende Gegenbegriff ist hier „Unsicherheit“. Im Vergleich mit den anderen untersuchten Systemen stellt sich das Bewusstsein im Bezug auf Sicherheit durchschnittlich dar. Die Vergleichbarkeit der Bedeutung ist auf Grund der unterschiedlichen Bezugsgröße lediglich mit „Offenheit“ möglich. Aus dem obigen Tabellenauszug ist ersichtlich, dass die Abbildung in der Säulengrafik aus Maßstabsgründen nicht sinnvoll ist.

Der Ausprägungsgrad der vier Bedingungen „Probleme“, „Alternative“, „Hindernis“ und „Konsolidierung“ wurde als Verhältnis zu der Summe aller Wertememe ermittelt. Diese Verfahrensweise ermöglicht eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse untereinander. Darüber hinaus stellt die Bezugsgröße „Summe aller WMeme“ die Abbildung eines nahezu geschlossenen Systems dar und gewährleistet eine zeitunabhängige Konsistenz der Bezugsgröße. Die Kriterien „Alternative“ und „Hindernis“ sind durchschnittlich stark ausgeprägt. Etwas unterdurchschnittlich ist der Begriff „Probleme“ im Bewusstsein verankert. Am unteren Ende der Vergleichsskala ist „Konsolidierung“ angesiedelt.

Für Deutschland ergibt sich aus den ermittelten Bedingungen ein Gesamtbild, dass große Übereinstimmung mit der Gesamtgesellschaft darstellt und von einem sehr hohen Sicherheitsbedürfnis gekennzeichnet ist. Diese Bedingung gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen und wirkt sowohl in den anderen Bedingungen mit, wie auch als bestimmendes Kennzeichen von Wertesystemen. Als probates Mittel kann Sicherheit gegen angsterzeugende ungelöste Probleme wirken (Bedingung 2, siehe oben), der Analyse interkultureller Konflikte dienen und Ängste in kulturell gemischten Gesellschaften abbauen. In den Wertesystemen Blau und Grün hat Sicherheit auf unterschiedliche Weise charakteristische Bedeutung. Feste Regeln vermitteln Sicherheit unter dem Einfluss des kollektiv orientierten WMems Blau, wogegen im ebenfalls kollektiv orientierten Wertesystem Grün ausgehend von einer charakteristischen „Nestwärme“ die in Blau bestehende Ordnung dynamisiert wird und das Individuum für den Übergang in eine höhere – vor allem geistige – Ordnung befähigt.In der oben stehenden Grafik ist die Entwicklung der Wertesysteme für Deutschland im Zeitraum von 2010 bis 2019 dargestellt. Es sind darin zwar keine grundstürzenden Veränderungen zu sehen, doch ist eine deutliche Steigerung des Anteils von Gelb zu sehen und eine Verschiebung des Verhältnisses von Blau zu Grün zwischen 2010 und 2012. Die gravierendste Veränderung hat in einer Schwächung des Anteils von Orange stattgefunden. Für die Interpretation können sowohl innenpolitische, außenpolitische wie auch wirtschaftliche Gründe angeführt werden. Hierzu kann ich nur einige kurze Hinweise geben, da die Beschreibung der Zusammenhänge ein Buch füllen würde.

Für die Darstellung des Wertebildes 2010 kann die bis 2009 bestehende große Koalition aus CDU /CSU und SPD als politisch bestimmender Faktor angenommen werden. Da in der neuen Koalition aus CDU / CSU und FDP lediglich der Koalitionspartner der politischen Zwillinge CDU und CSU durch die FDP ausgetauscht wurde, kann die in der Grafik für 2012 zu sehende Veränderung weitgehend dem Einfluss der FDP zugeschrieben werden.

Da die von der rot-grünen Koalition durchgeführten Richtungsentscheidungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Grundrichtung der schwarz-gelben Regierung weitgehend entsprachen, ergab sich aus Sicht der CDU / CSU wenig Erneuerungsbedarf. Der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber drückte dies als staatspolitische Verantwortung aus, es müsse eine „stabile, handlungsfähige Regierung“ geben. Außenpolitisch blieb die deutsche Politik hinter den Erwartungen befreundeter Länder zurück, so dass auch diese stabile Regierung den unstabilen Entwicklungen internationaler Politik weiter ausgeliefert blieb. Dagegen ging es in der Innenpolitik unter dem Innenminister Wolfgang Schäuble wesentlich engagierter zu. Er verfolgte das Ziel, die verfassungsmäßige Ordnung in erster Linie mit innerer Sicherheit zu identifizieren und er kämpfte für neue Rechte der Polizei und der Geheimdienste, mehr Datenbanken zur Erfassung der Bürgerinnen und Bürger und den Einsatz der Bundeswehr im Innern. Den finanzpolitischen Ambitionen des SPD-Finanzministers einen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung vorzulegen, machte die Weltfinanzkrise einen Strich durch die Rechnung und es war allein im Jahr 2010 ein Haushaltsloch von 100 Milliarden Euro zu stopfen. Diese Finanzkrise blieb auch für die Realwirtschaft nicht ohne Folgen: Investitionsprogramme, Rettungsfonds, Kurzarbeit und Abwrackprämie wurden zu Schlagworten der täglichen Nachrichten.

Im Jahre 2012 war in Berlin seit der Wahl im Herbst 2009 eine von CDU/CSU und FDP geführte Regierung an der Macht. Von den 17 Ministern dieser Koalition wurden fünf von der FDP gestellt. Damit wäre eine relativ starke Einflussnahme neoliberalen Gedankenguts auf die Politik in Deutschland möglich gewesen, wenn nicht Angela Merkel die Kanzlerin gewesen wäre. Sie dämpfte den aus dem furiosen Wahlerfolg der FDP mit in die Regierung gebrachten Schwung des kleineren Koalitionspartners mit ihrem ambitionierten Pragmatismus in krisenhaften Zeiten, der wenig Angriffsflächen bot. Von der versprochenen neuen politischen Zeitrechnung der FDP mit einer großen Steuerreform und Steuersenkungen, dem Subventionsabbau, der Lockerung des Kündigungsschutzes und den Sparprogrammen zur Sanierung der öffentlichen Finanzen blieb in der Bilanz der „Zusammenarbeit“ am Ende nicht viel übrig. Dem beharrlichen Streben der FDP konnte die Kanzlerin in wichtigen Entscheidungen standhalten, da sie sich auf die Unterstützung durch die Opposition verlassen konnte. Dennoch wurden in dieser Zeit wichtige Weichenstellungen für die Zukunft Deutschlands durchgeführt, die auf Grund der disharmonischen Stimmung in der Koalition politisch nicht nachvollziehbar erscheinen und eher einem machterhaltenden Impuls der Kanzlerin ähneln. So wurde der gerade erst rückabgewickelte Atomausstieg der rot-grünen Koalition unter dem Eindruck technischen Versagens, das zur Atomkatastrophe in Japan geführt hatte, in einem neuerlichen Atomausstieg Deutschlands als zukunftsweisende Entscheidung nachträglich anerkannt. Die zweite Entscheidung war die Aussetzung der Wehrpflicht, die unter dem Druck der Haushaltskonsolidierung und der zunehmenden Kriegseinsätze der Bundeswehr beschlossen wurde, sowohl finanzpolitisch wie auch wahlstrategisch auf der Habenseite in der Bilanz der schwarz-gelben Koalition verbucht wurde. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht hatten sich die Rahmenbedingungen durch sinkende Arbeitslosenzahlen und steigende Steuereinnahmen günstig entwickelt. Unter diesen Bedingungen kam es zu einer Abnahme des ordnungspolitischen Einflusses aus der blauen Werteordnung und einem relativ schwachen Anstieg von Orange, der auf die Erfolgsmeldungen des neuen Koalitionspartners FDP zurückzuführen ist.

Seit dem Dezember 2013 regiert auf Bundesebene erneut eine große Koalition aus CDU / CSU und SPD. In dieser Phase erreichten die Wertesysteme der Entwicklungsspirale nahezu das gleiche Bild, wie es vor der schwarz-gelben Koalition zu sehen ist – mit einem wesentlichen Unterschied: Nun sind auch deutliche Anteile von Wertesystemen der zweiten Orsnung zu sehen, zunächst als Türkis, dann als Gelb. Diese beiden WMeme stehen für ein „neues Paradigmas“, das im Bereich des Möglichen erscheint.  Hierbei steht Gelb für Flexibilität und Integration die auf Wissen basieren, sowohl was die Struktur als auch was seine Prozesse angeht, während Türkis holistisch und global in seiner Struktur sowie fließend und mehrdimensional in seinen Prozessen ist. Aufschlussreich ist dabei die Abfolge ihres Auftretens in der Entwicklungsspirale: Es widerspricht den eingangs erläuterten Grundbedingungen, dass – wie hier geschehen – ein höherstufiges WMem zeitlich vor einem vorausgehenden WMem entwickelt werden kann. Im konkreten Zusammenhang ist die spontane Entscheidung der Bundeskanzlerin zur unbürokratischen Aufnahme gestrandeter Flüchtlinge, die über die Balkanroute nach Europa kamen, fand ohne hinreichende Kenntnis von den Problemen statt, die sich hieraus ergeben können. Es offenbart sich in diesen Vorgängen einmal mehr ein grundsätzlicher Mangel an außenpolitischer Aktivität, wie bereits oben erwähnt. Nur durch eine aktive Außenpolitik können die Informationen und internationalen Abstimmungen getroffen werden, die schließlich auch zur Vermittlung von politischen Entscheidungen im eigenen Land führen müssen.

Die Situation 2019 ist gekennzeichnet durch ein deutlich abgeschwächtes Orange und ein gestärktes Grün bei relativ starkem Blau. Darüber hinaus sind leitende Impulse aus Gelb möglich, so dass insgesamt ein stabiles Gesamtsystem mit Entwicklungspotential zu weiter zunehmendem Grün möglich erscheint.

In der nebenstehenden Grafik ist ein Überblick über die vier Quadranten in der Betrachtungsweise der Integralen Theorie nach Ken Wilber wiedergegeben. Hierin bestätigt sich der aus der Entwicklungsspirale gewonnene Gesamteindruck einer über lange Zeitabschnitte stabilen Situation in allen Sektoren der Holarchie – dem hierarchischen Gesamtsystem aller Holons. Dabei ist die Ausgewogenheit der beiden linken Quadranten (oben links = Psyche; unten links = Kultur) untereinander zu betonen. Die im Verhältnis dazu schwachen rechten Quadranten (die objektive Realität) deuten auf die seit der Aufklärung bestehende Spaltung in äussere (materielle) Welt und innere (geistige) Welt hin. Jedes Holon (oder Ganzheit) hat eine Entsprechung in allen vier Quadranten. Das in dieser Betrachtung auffällige Defizit der rechten Seite deutet darauf hin, dass viele Hervorbringungen der Individuen und sozialen Gruppen ohne Bezugnahme auf bewusste objektiv feststellbare Tatsachen ins Werk gesetzt und betrieben werden. Diese Feststellung beruht auf der Privilegierung der akademisch betriebenen Wissenschaft, ausschließlich zur Feststellung objektiver Tatsachen berechtigt zu sein. Die Überwindung dieser Spaltung muss als Daueraufgabe an den Wurzeln der notwendigen Weiterentwicklung der Menschheit betrachtet werden.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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