Bewegte Bürger machen Politik komplex
In der folgenden Übersicht sind die Aktivitäten in den Quadranten der Integralen Theorie für sieben aktuelle und weitverbreitete Protestbewegungen dargestellt. Es handelt sich – in der Reihenfolge von oben links nach unten rechts – um folgende Initiativen:
Es handelt sich um den Protest von Schülern gegen die Ignoranz von Politikern im Bezug auf die zu erwartende Klimakatastrophe, für die der Mensch entscheidend mitverantwortlich ist. Konkret richtet sich die Kritik auf die Untätigkeit verantwortlicher Politiker, kurzfristig Maßnahmen einzuleiten, die die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens gewährleisten. Wesentlicher Bestandteil der Protestform ist das freitägliche Fernbleiben der Demonstrationsteilnehmer von der Schule. Hieran hat sich eine öffentliche Debatte entzündet, die sich haupsächlich auf die damit verbundene Verletzung der Schulpflicht richtet und das politische Anliegen der Schüler weitgehend ignoriert.
Das Quadrantenbild zeigt ein starkes Engagement auf der individuellen emotionalen Ebene (oberer linker Quadrant) und relativ geringe Orientierung an kulturell bestimmten Verhaltensnormen (unten links), wie sie die Schulpflicht im konkreten Fall darstellt. Die objektiv darstellbaren Fakten der rechten Seite werden im Vergleich zum Regelfall nicht berührt., d. h. es ist davon auszugehen, dass die Schüler den Verstoß gegen die Schulpflicht bewusst begehen und eine Werteabwägung zu Gunsten der Meinungsfreiheit und des Versammlungsrechts vorgenommen haben, für die sie persönlich die volle Verantwortung übernehmen.
Save the Internet (englisch)
Die Initiative richtet sich gegen die Urheberrechtsreform der Europäischen Union, die am 26. März 2019 vom Europäischen Parlament beschlossen wurde. „Am 2. April 2019 wurde bekannt, dass die entscheidende Abstimmung über die Urheberrechtsreform im Rat der Europäischen Union für den 15. April 2019 angesetzt wurde und dort die Agrarminister der EU-Staaten für den letzten Beschluss im Gesetzgebungsverfahren verantwortlich sind. Daraufhin wurden im Deutschen Bundestag für den 4. April 2019 zwei Anträge, mit dem Ziel eine Ablehnung der Urheberrechtsreform durch Deutschland zu erwirken, eingebracht. Mit der Mehrheit der Fraktionen CDU/CSU und SPD wurden beide Anträge in Ausschüsse überwiesen, während die gesamte Opposition für eine sofortige Abstimmung gestimmt hatte. Am 10. April 2019 verhinderten die Union und die Sozialdemokraten im Rechtsausschuss des Bundestags eine Abstimmung am Folgetag, womit vor der Entscheidung im EU-Rat kein Beschluss mehr möglich war.“ (Zitat: Wikipedia).
Die Urheberrechtsreform dient dem Ziel, die Einkommenssituation kreativ tätiger Menschen zu verbessern, soweit deren Werke von Dritten auf Internetplattformen zur Nutzung angeboten werden. Die Vergütungspflicht für solche Werke betrifft die Plattformen und nicht die verursachenden Dritten. Daher wird realistisch angenommen, dass in Zukunft die Plattformbetreiber Uploadfilter einsetzen werden, die das Hochladen urheberrechtlich geschützter Werke in einem automatisierten Verfahren verhindern, um so der Zahlungspflicht zu entgehen. Nach Auffassung der Netzaktivisten wird die Meinungsfreiheit hierdurch unzulässig beschnitten. Als Protestformen dienen verschiedene Internetaktivitäten und Demonstrationen.
Die Bewegung stützt sich auf objektiv nachvollziehbare Argumente, die in einem außergewöhnlich starken Anteil der rechten Quadranten zum Ausdruck kommen. Hierin kann ein Hinweis darauf gesehen werden, dass die Initiative wesentlich von wissenschaftlich gebildeten Netzaktivisten getragen wird, die sich hier diametral gegen die in den Parlamenten herrschende Praxis des Lobbyismus stellen (unterer linker Quadrant) und sich mit ihrer Persönlichkeit (oberer linker Quadrant) in den Dienst der Sache stellen.
Pegida ist die Abkürzung für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes„. Bereits der Name der Bewegung lässt eine politisch-kulturelle Ausrichtung erkennen, die sich selbst an den rechten Rand politischer Bewegungen stellt und nach weit verbreiteter Auffassung als rechtspopulistisch bezeichnet werden muss. Die von Pegida regelmässig genutzte Protestform sind Demonstrationen, die seit Oktober 2014 in Dresden und später auch in zahlreichen anderen Städten Deutschlands – oft unter abgewandelten Namen – gehäuft stattfinden.
Das Profil der Bewegung ist nah an der politischen Mitte Deutschlands angesiedelt und gekennzeichnet durch relativ schwache Perönlichkeiten (oberer linker Quadrant) und vergleichsweise unauffällige Anbindung an kulturelle Gepflogenheiten (unterer linker Quadrant). Aufgrund der Nähe zur gesellschaftlichen Mitte ist in dieser Bewegung ein ständig bereites Auffangbecken für politisch Unzufriedene zu sehen.
Der Name der Bewegung leitet sich von den gelben Warnwesten ab, die von den Protestierenden in der Öffentlichkeit als Erkennungszeichen getragen werden. Die Bewegung hat ihren Ursprung in Frankreich, wo sie durch Steuererhöhungen der Regierung ausgelöst wurde und seit dem 17. November 2018 jeweils an Samstagen teils in gewalttätiger Form in verschiedenen französischen Städten demonstriert. Der politische Forderungskatalog hat sich inzwischen erheblich erweitert und reicht an die Grundfesten des politischen Systems in Frankreich heran. Eine eindeutige politische Ausrichtung ist hierbei jedoch nicht zu sehen.
Der diffuse Charakter der Bewegung hat in einigen Ländern Nachahmer gefunden. In Deutschland wurde das Motiv von der Protestbewegung gegen Dieselfahrverbote in Stuttgart verwendet. Auch die Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht verwendete es im Zusammenhang mit der von ihr gegründeten Initiative „Aufstehen“ in einem Internetvideo.
Die Aufnahme des Begriffs in Deutschland zeigt nahezu die gleichen Einflüsse wie sie im Quadrantenbild von Pegida zu sehen sind. Der einzige Unterschied besteht in einem geringfügig höheren Gewicht des unteren linken Quadranten (kultureller Einfluss). Auch hier kann von einer nahe der politischen Mitte gegebene Positionierung im politischen Koordinatensystem ausgegangen werden, die diese Bewegung zu einem dauerhaften Bestandteil des politischen Systems macht.
Bei dieser Bewegung handelt es sich um eine Initiative, die aus dem Spektrum der Protestbewegungen herausfällt. Sie wurde 2016 von engagierten Einzelpersonen in Frankfurt am Main als überparteiliche und unabhängige Bürgerinitiative gegründet. Pulse of Europe stellt bis heute keine konkreten Forderungen, sondern versteht sich als proeuropäische Veranstaltung, die dem zunehmenden Nationalismus in Europa begegnen will und für mehr europäisches Denken eintritt.
Nach anfänglich guter Resonanz und öffentlichen Auszeichnungen für das Spitzenpersonal hat die Beteiligung an den Veranstaltungen der Bewegung stark nachgelassen.
Im Quadrantenbild sind starke Ähnlichkeiten mit der Bewegung „Save the Internet“ zu sehen. Wie dort sind es auch hier an wissenschaftlichem Denken orientierte Einzelpersonen, die „Überparteilichkeit“ anstreben und sich hierdurch eine besondere Glaubwürdigkeit und Kompetenz versprechen. Das ist jedoch offensichtlich ein Trugschluss, da „Objektivität“ bei allen Interessengruppen nachgewiesen werden kann, weil es auch keine Wissenschaft ohne Interessen geben kann. Darüber hinaus wirkt die Form, in die die Anliegen verpackt werden oft sehr nüchtern, schwer verständlich und langatmig.
Abschließend zu dieser Art Bewegungen noch der Hinweis: Auch die in Italien, Frankreich, Griechenland und Deutschland durchgeführten Regierungsprogramme von Technokraten haben nicht den erwarteten Erfolg gebracht. Ähnliches wird auch früher oder später von der EU zu sagen sein.
Hier handelt es sich um einen Zusammenschluss von Landwirten, Umwelt-, Natur- und Tierschutzverbänden gegen die Agrarindustrie, gegen Massentierhaltung und für eine Agrarwende. Die größte Demonstration findet seit 2011 jährlich im Januar anlässlich der Grünen Woche in Berlin statt. Die Protestveranstaltungen werden gemeinsam von 46 Organisationen getragen und haben einen großen Aufmerksamkeitswert.
Die breit angelegten Kampagnen haben im Quadrantenbild eine weitgehende Übereinstimmung mit dem Gesamtbild der deutschen Gesellschaft zur Folge.
Als Beleg ist das Qudrantenbild aus dem Jahr 2016 für Deutschland wiedergegeben. Trotz dieser Übereinstimmung kann von politischen Erfolgen kaum gesprochen werden. Es stellt sich vielmehr die Frage, wann und wo der Punkt in der Dynamik politischer Bewegung kommt, an dem sie erstarren und langsam abebben? In der Zuspitzung kommt es zur entscheidenden Frage: Warum bewegt nur der etwas, der Gewalt anwendet? Diese Frage stellt sich um so mehr, je weiter die Handlungsoptionen aus der persönlichen Sphäre herausgerückt sind. Im Fall der Agrarpolitik bestehen für den Verbraucher wie für den Landwirt gangbare Wege zu Alternativen im Bereich der Bio-Landwirtschaft. Im Vergleich dazu ist jedoch der Handlungsrahmen des Einzelnen im Bezug auf die Rettung des Weltklimas verschwindend klein. Anders ausgedrückt: Die Herrschaft über den ökologischen Fußabdruck, den der Einzelne hinterlässt, liegt nur zu einem geringen Teil in seiner Macht. Hier ist der Punkt, an dem politisches Denken einsetzen muss.
Politische Bewegungen sind in vielen Fällen der Beginn neuer politischer Entwicklungen, wie es am Beispiel von Bündnis 90 / Grüne nachzuvollziehen ist. Damit ist jedoch gleichzeitig auf die Gefahr hingewiesen, in die diese neue Partei geraten ist und der sie weitgehend erlegen ist: Die Korrumpierung durch die Macht und die Austrocknung ihres Nährbodens. Deshalb ist es immer wieder wichtig, außerparlamentarische Bewegungen als Kontroll- und Korrekturinstanzen im System der Demokratie zu erhalten. In diesem Zusammenhang ist auf den verfassungsrechtlich begründeten Minderheitenschutz hinzuweisen.
Mit mehreren Demonstrationen in verschiedenen Städten und dem Beginn eines Volksbegehrens in Berlin haben am 6. April 2019 Tausende Menschen gegen steigende Mieten protestiert. Die größte Demonstration an dem deutschlandweiten Aktionstag fand in Berlin mit ca. 40.000 Teilnehmern statt. Diese Demonstration stand unter dem Motto «Gemeinsam gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn». Die Demonstration war der Auftakt zu einer Unterschriftensammlung für ein Volksbegehren zur Enteignung von Wohnungskonzernen.Damit wurde ein neues polarisierendes Thema in die öffentliche Diskussion gebracht, das sehr schnell an die politischen Eliten in Deutschland herangebracht wurde. Eine Ursache hierfür ist wahrscheinlich in der Verankerung des Themas in der Verfassung zu sehen, die es damit zu einem zeitlich unbefristeten Prüffall für die Verfassungswirklichkeit macht und damit direkt an die Sphäre praktischer Politik heranreicht.
Das Quadrantenbild zeigt, dass dieses Thema in idealer Weise die Rolle als Lackmustest für den Zustand der deutschen Gesellschaft erfüllen kann. Wie Pegida und die Gelbwesten-Bewegung wird hier auf das kulturelle Selbstverständnis gebaut, ohne das persönliche Interesse zu sehr in den Vordergrund zu stellen. Ob die Ähnlichkeit jedoch auch gleiche politische Wirkungen erzielt und ob sie für ein breiteres Publikum anschlussfähig ist, wird sich im folgenden Abschnitt zeigen. An dieser Stelle ist lediglich darauf hinzuweisen, dass die Zielsetzung von „Mietenwahnsinn“ im Gegensatz zu Pegida und Gelbwesten-Bewegung klar bestimmt ist – nämlich als das Grundbedürfnis der Wohnung aus der Spekulationsmasse des Kapitalismus herauszulösen – und das realpolitische Instrumentarium hierzu bereits vorhanden ist und „lediglich“ angewendet werden muss. Wie im Fall der „Fridays for Future“ ist hier auch ein Prüffall für die Ernsthaftigkeit behaupteter Politik gegeben.