Nachbemerkungen
Der Mythos des „edlen Wilden„, der für die Geschichte des wahren Papalagi leitend zu sein schien, geht wesentlich auf die Philosophie Jean-Jacques Rousseau’s zurück. Neben Immanuel Kant prägte er das aufklärerische Denken im 18. Jahrhundert. Rousseau scheint ein schwieriger Mensch gewesen zu sein, der es fertig brachte, mit jedem Menschen über kurz oder lang Streit zu haben. Er ist unter den neuzeitlichen Philosophen derjenige, dessen Lebensführung neben Karl Marx Anlass zu Zweifeln an der Seriosität ihrer Philosophie gibt. Selbst unter schwierigen Verhältnissen aufgewachsen mutete er seinen eigenen fünf Kindern eine gleichermaßen schlechte Erziehung in Waisenhäusern zu.
Während sein französischer Gegenspieler Voltaire in den Monarchen mögliche Verbündete der Aufklärung sah, die an die Stelle der Kirche und den von ihr verteidigten Mythen treten konnten, glaubte Rousseau einzig an die Freiheit eines jeden Individuums. Er wünschte sich eine Welt ohne Despoten und Monarchien.
„Rousseau zog manche allzu selbstverständliche Grundüberzeugung der Aufklärung in Zweifel. Schon aus der ersten Schrift, mit der er sich einem breiteren Publikum bekannt machte, klang ein den Aufklärern unheimlicher Ton der Zivilisationskritik durch.“ (Jörg Lauster) Die eigentlichen Triebkräfte des neuen Zeitalters rationalen Denkens und Forschens sah er in eher unedlen Zügen des Menschen wie Aberglauben, Eitelkeiten und Bequemlichkeit. Die spekulativen und spektakulären Erfolge der Alchemie und die aus höfischem Leben entstandenen Neuerungen geben ihm bis zu einem gewissen Grad Recht. Die entscheidenden Fortschritte des rationalen Denkens sind jedoch in den Erfindungen und Erkenntnissen eines Galileo Galilei, Tycho Brahe und in der Erweiterung des Raumes zu sehen, wie er im Kopernikanischen Prinzip zum Ausdruck kommt, zu sehen.
Nach wie vor aktuell sind jedoch Rousseaus Überlegungen zur Ermöglichung eines guten Lebens jedes einzelnen Menschen. In seiner Kulturgeschichte des Christentums fast der evangelische Theologe Jörg Lauster diese Gedanken zusammen: Rousseau nahm einen idealen Naturzustand der an sich guten Menschheit an. „Nachdem die Menschheit jedoch fatalerweise damit anfing, aus der Ungleichheit ihrer Begabungen und natürlichen Anlagen unterschiedliche Wertschätzungen abzuleiten, entstanden den Stärkeren, Klügeren und Geschickteren Vorteile. Diese «asymmetrischen Anerkennungsverhältnisse» begründeten die Ungleichheit unter den Menschen als eine soziale Konstruktion und banden die Mehrzahl der Menschen in eine versklavende Bedürfnisproduktion ein, die es ihnen verwehrte, ein freies und ihren natürlichen Anlagen entsprechendes Leben zu führen. Rousseaus schärferer Blick der Vernunft vermochte durchaus auch die Schattenseiten der Zivilisation wie etwa die soziale Ungleichheit zu enttarnen. Seine Verehrung der «edlen Wilden» ist eine bemerkenswerte Kehre in der Selbsteinschätzung westlicher Kultur. Rousseau machte deutlich, dass die Vorzüge der Zivilisation einen hohen Preis haben. Die Konsequenz daraus konnte natürlich nicht «Zurück zur Natur» heißen. Dieses Motto wurde Rousseau angehängt, obwohl es sich nirgendwo in seinen Schriften findet. Für ihn war in allen unbestreitbaren Errungenschaften der Zivilisation auch die leise Spur einer Melancholie der verlorenen Unschuld eingelassen. Aber er nahm die Situation des Menschen auch nicht als ein gegebenes und unabänderliches Schicksal hin, sondern entwarf ein Programm zur Überwindung der bestehenden Strukturen. «Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten», lautete der programmatische Anfang seines berühmten Buches Vom Gesellschaftsvertrag. Er führt darin die seit dem 16. Jahrhundert angestellten Überlegungen weiter, die den Staat auf eine vertragsrechtliche Grundlage stellten. Am Ende des Buches macht Rousseau in der Frage nach der Religion die Türen weit in die Moderne auf. Ein Gemeinwesen bedarf nach seiner Auffassung einer Religion zur Stabilisierung seiner Ideale, aber das Christentum kam für diese «bürgerliche Religion» nicht infrage. In harscher Kritik bemängelte er, Christen verfolgten von der Welt abgewandte und damit für den Staat schädliche Ideale: «Dieses kurze Leben ist in ihren Augen zu wenig wert.» Die bürgerliche Religion hingegen lehre «die Existenz der allmächtigen, allwissenden, wohltätigen, vorhersehenden und sorgenden Gottheit, das zukünftige Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze». Zu dieser bürgerlichen Religion gehört auch das strikte Gebot der Toleranz gegenüber anderen religiösen Auffassungen, sofern diese nicht gegen die Pflichten des Bürgers verstoßen. «Wer aber zu sagen wagt ‹Es gibt kein Heil außerhalb der Kirche›, muss aus dem Staat ausgestoßen werden.» Das waren im Jahre 1762 scharfe Töne. Darin mag auch einer der Gründe liegen, warum die Zensur sofort gegen das Buch vorging. Wegweisend wurde es trotzdem. Die Inhalte von Rousseaus Zivilreligion waren nicht neu, sie entsprachen dem Credo, das die Theisten seit bald hundert Jahren predigten. Neu war vielmehr die Idee einer Zivilreligion an sich. Rousseau eröffnete damit als einer der ersten ein neues Kapitel der Religionsdebatte, das Vor- und Nachteile der Religion über ihre Funktion für die Gemeinschaft definierte. Ihm ging es nicht mehr um die «alten» ontologischen Fragen, ob die Lehren einer Religion auch wirklich wahr seien, auch die Frage des religiösen Individualismus stellte er an dieser Stelle nicht. Ihn interessierte, was eine Religion dem Gemeinschaftsleben brachte. Die Selbstverständlichkeit, mit der diese funktionale Seite in modernen Religionstheorien heute behandelt wird, spricht für das Bahnbrechende in Rousseaus Denken.“