Die Affäre Aiwanger – mehr als ein Sommertheater

Die vergangene Woche stand ganz im Zeichen der anstehenden Landtagswahl in Bayern, die durch den Koalitionspartner der favorisierten CSU in Person seiner Leitfigur Hubert Aiwanger eine Bedeutung für die politische Moral in Deutschland bekommen hat. Diese Erkenntnis gewinnt allerdings nur derjenige, der die notwendige Sensibilität für politischen Anstand mitbringt und bereit ist, die besondere Verantwortung für eine führende Rolle im demokratischen Staat zu übernehmen.

Das bayrische Drama offenbart exemplarisch, in welcher Gefahr sich die Demokratie in Deutschland befindet, wenn die seit nahezu 80 Jahren den Staat tragenden Parteien sich in der Krise auf eben diesen Staat zurückziehen und in ihm die Rechtfertigung für politisches Handeln – bzw. unterlassenes Handeln, wie im vorliegenden Fall – suchen. Die Geschehnisse in Bayern fügen sich damit nahtlos an die vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz im Fernsehinterview des ZDF gemachten Andeutungen zu einer Zusammenarbeit mit der AfD an. Darin bewertete er die möglicherweise eintretenden Konstellationen nach Kommunalwahlen als Sonderfall, in dem die Parteitagsbeschlüsse der CDU bzgl. der Unvereinbarkeit einer Zusammenarbeit mit der AfD  nicht gelten könnten. Von einer Zusammenarbeit stattdessen mit jenen Parteien, die nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden – von einer Gemeinschaft der Demokraten – war in diesem Zusammenhang nicht die Rede.

Kaninchen oder Ente? Optische Täuschung als Sinnbild der Aiwangerschen Rhetorik

Die Affäre Aiwanger und die Reaktion des bayrischen Ministerpräsidenten, muss im Zusammenhang mit der Angst von CDU/CSU vor der erstarkenden AfD gesehen werden. So wie Friedrich Merz die Möglichkeit von Bündnissen mit den Verteidigern der Demokratie unterschlägt baut Markus Söder ein Schreckgespenst auf, das die Farbe Grün trägt. Damit sind die ehemals staatstragenden Parteien zu aus dem christlichen Spektrum zu Erfüllungsorganen einer wie auch immer definierten Staatsraison herabgesunken und haben keinerlei Gestaltungskraft, die den globalen Problemen gerecht werden. Staat und Wirtschaft brauchen aber Richtungsvorgaben, die weder mit liberaler Beliebigkeit noch mit bürgerlicher Ordnung allein vereinbar sind.

Nachfolgend werde ich die besondere Konstellation der politischen Verhältnisse in Bayern dazu nutzen, Ursache-Wirkungsbeziehungen aufzuzeigen, die sich aus dem Verhalten der politischen Akteure in der gegebenen Situation ergeben. Als Maßstäbe dazu dienen die in diesem Projekt erprobten Darstellungen der Wertememe (WMeme) im System der Spiral Dynamics und der vier Quadranten nach der integralen Theorie von Ken Wilber. Reaktionen werden durch die Gegenüberstellung der Daten ohne zeitliche Eingrenzung vom Anfang der 35. Kalenderwoche (KW) und der zeitlichen Beschränkung auf die 35. KW – festgestellt und grafisch dargestellt. Eine weitere qualitative Unterscheidung wird durch zwei ungleiche Datenquellen – dem Internet via Suchmaschine Bing und den Printmedien via Datenbank Genios – ermöglicht.

Grafik 1 (unbefristet)

Zunächst gebe ich in Grafik 1 einen Überblick über die Wertesysteme am Beginn der 35. KW in Bayern. Es sind jeweils die Ergebnisse für beide Quellen (Bing und Genios) als Balken in Abstufungen der jeweiligen Farben dargestellt – dunkel / hell Kontrast. Der dunkle Farbton gibt die Ergebnisse nach dem Internet (Bing) wider, der hellere Farbton zeigt die Ergebnisse nach der Pressedatenbank Genios an. Mit dieser Darstellung ist ein direkter Vergleich der Performance im Internet und der Presse für die Parteien und ihre Spitzenkandidaten möglich.

Insgesamt ist festzustellen, dass dem WMem Orange unter den 8 Wertesystemen – wie aufgrund der Gesamtsituation in Deutschland nicht anders zu erwarten ist – die größte Bedeutung zukommt. Hierbei ist zwischen Parteien und Kandidaten stark zu differenzieren. Der Hauptgrund hierfür liegt in der unterschiedlichen Aussagespezifik. Während im Ergebnis der Parteien deren Orientierung an dem von der jeweiligen Farbe repräsentierten Wertesystem im Vordergrund steht, kommt bei den Kandidaten und Kandidatinnen deren Wahlchancen wesentlich stärker zum Ausdruck. Hieraus erklärt sich der wesentlich größere Abstand zwischen Internet und Printmedien für den mit Amtsbonus ausgestatteten CSU-Kandidaten Söder im Vergleich mit allen anderen Kandidaten.

Auffallend gering sind dabei die Ergebnisse für den SPD-Kandidaten von Brunn und den Kandidaten der Freien Wähler Aiwanger. Eine der Ursachen hierfür könnte eine geringere Internetaffinität der SPD-Wähler bzw. der bürgerlichen Landbevölkerung als Potential der Freien Wähler sein.

Im Vergleich dazu fallen die Ergebnisse im WMem Orange für die Presseperformance gut aus, obwohl – überraschend – der Kandidat der Freien Wähler vor dem CSU-Kandidaten und den Kandidaten von Grünen und FDP an der Spitze liegt.

Das Bild der Parteien zeigt bezüglich Orange wesentlich geringere Abstände zwischen Internet- und Presseperformance. Hier zeigt sich die Stärke der CSU, die in der Internetperformance und gleichfalls damit insgesamt einen Spitzenwert erreicht. Bei den anderen Parteien überwiegt dagegen deren Presseperformance, die nur geringe Unterschiede aufweist.

In den Ergebnissen für die Kandidaten und Kandidatinnen fallen darüber hinaus folgende Besonderheiten auf:

  • Die Kandidaten Aiwanger und Söder weisen relativ starke Anteile von Grün in der Internetperformance auf. Dem stehen bei Aiwanger ein schwaches Orange und bei Söder ein etwa gleich starkes Orange zur Seite. Dieses Ergebnis spricht für eine starke Verwurzelung der Kandidaten in den örtlichen Gemeinschaften, worin insbesondere die Struktur der Freien Wähler zum Ausdruck kommt. Damit kann festgestellt werden, dass die oben angesprochene Möglichkeit geringer Internetaffinität wohl kaum zutrifft.
  • In den Profilen des FDP-Kandidaten und der Grünen-Kandidatin fallen relativ starke Anteile von Blau auf – sowohl in der Internet- wie auch in der Presseperformance. Selbst der amtierende CSU-Ministerpräsident als Kandidat und Verteidiger des Amtsbonus weist keine wesentlich stärkeren Anteile des für Ordnungsstrukturen stehenden Blau auf. Spitzenwerte erreichen hier jedoch die beiden AfD Kandidaten in ihrer Presseperformance, zu der allerdings nicht geklärt werden kann, ob sich diese mehr auf die Ordnung in der Partei oder auf deren Programmatik bezieht.
  • Von besonderem Interesse müssen die starken Anteile von WMemen der zweiten Ordnung bei den AfD-Kandidaten (Gelb und Türkis), Rupp (Linke) in Türkis, von Brunn (SPD) in Gelb und Türkis und Hartmann (Grüne) in Türkis sein. Zum Ausschluss von groben Fehlern in der Methodik wurden die Biografischen Angaben aus der Wikipedia zur Hilfe genommen. Daraus ergeben sich keine Hinweise, die das Bild fortgeschrittener Werteorientierung stören müssten. Damit ist allerdings nichts über die politische Ausrichtung der Personen gesagt, vielmehr ist damit eine höhere Ebene innerhalb der Entwicklungsspirale erreicht, die in der Kommunikation zu berücksichtigen ist.
  • Innerhalb der ersten Ordnung der Spirale sind noch Rot, Purpur und Beige von Interesse. Sie geben Hinweise auf verbale oder physische Gewalt, sowie exzentrisches Verhalten (Rot), animistisches oder magisches Denken, wie es als Aberglaube oder in der Abhängigkeit von Gegenständen und in Mythen oder Ahnenkult zutage tritt und Relikte aus der kindlichen Entwicklung aufweist (Purpur) und in Beige auf die Gefährdung der nackten Existenz hinweist. Hinweise auf erhöhte Anteile von Rot finden sich bei Böhm und Ebner-Steiner (beide AfD), von Brunn (SPD) und Aiwanger (Freie Wähler). Hinweise auf Purpur finden sich bei Böhm (AfD), Rupp (Linke), von Brunn (SPD), Hartmann (Grüne) und Aiwanger (Freie Wähler). Allen unter diesem Aufzählungspunkt genannten Einzelergebnissen ist gemeinsam, dass sie sich ausschließlich auf die Internetergebnisse beschränken. Es handelt sich also mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um Selbstauskünfte der genannten Personen, sondern aus Meinungen, Wünsche, Hoffnungen oder Behauptungen von Internetnutzern, wie sie auch in sozialen Netzwerken verbreitet sind. Es soll aber auch nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass sich in diesen Ergebnissen auch Hinweise auf reale Empfindungen mit Bezug auf die jeweiligen Kandidaten handelt, die ernstzunehmen sind und als politische Willenserklärungen aufgefasst werden können.

In den Grafiken 2 und 3 sind die Ergebnisse für die Kandidaten und ihre Parteien nach der unbefristeten Abfrage gegenübergestellt. Damit werden Verhältnisse dargestellt, die nicht von Wahlkämpfen und den damit verbundenen rhetorischen Zuspitzungen beeinflusst werden und eine Art „Ruhezustand“ oder „Normalfall“ darstellen.

Der Vergleich zwischen Markus Söder und der CSU zeigt für Orange in der Presseperformance eine etwas stärkere Ausprägung für Söder, jedoch seine halb so starke Präsenz in der Internetperformance. Seine realpolitische Wirklichkeit als Ministerpräsident bildet sich vor allem in Blau ab. Hier tritt Söder im Internet deutlich stärker in Erscheinung als seine Partei. Dagegen liegt seine Presseperformance etwa auf gleichem Niveau wie das Internetergebnis. Darüber hinaus tritt Söders Internetpräsenz in Beziehung zu Grün besonders stark hervor und erreicht nahezu das Niveau von Orange. Dieses lässt den Schluss zu, dass Söder im Gegensatz zur CSU wesentlich präsenter in den vielfältigen Gemeinschaften des Flächenstaates Bayern ist als seine Partei. Ein Grund hierfür kann in der Konzentrationswirkung zu suchen sein, die seine Person im Unterschied zu den vielfältigen lokalen Parteigliederungen, die durch die Herausforderungen der örtlichen Gegebenheiten geprägt sind, hat. In noch stärkerem Maß ist dieser Effekt bei dem Kandidaten der Freien Wähler zu sehen, wie bereits oben erwähnt.

Im Hinblick auf die Freien Wähler und ihren Kandidaten Hubert Aiwanger stellt sich die Situation in dem allgemein bedeutendsten Wertesystem Orange als zwiespältig dar. Zwar erreichen die Freien Wähler in der Presseperformance ein etwas höheres Niveau als die CSU, jedoch bleiben sie in der Internetpräsenz deutlich dahinter zurück. Einer Erklärung hierfür kommt man näher, wenn das Ergebnis für den Spitzenkandidaten Aiwanger in die Betrachtung einbezogen wird. Seine Internetperformance im WMem Orange liegt im Vergleich zu allen anderen Kandidaten – mit Ausnahme des SPD-Kandidaten – am niedrigsten. Es scheint so, dass es eine Frage des Selbstverständnisses der Freien Wähler ist, ob sie personell an der Regierungsverantwortung beteiligt sein wollen. Das Motto für das Profil der Freien Wähler könnte lauten „Unterstützung dezentraler Politik durch Herrn Aiwanger ja (starkes Grün), Vertretung durch Herrn Aiwanger aller dezentralen Gruppen nein (schwaches Orange). Hierin spiegelt sich die Kritik an der Politik „freier Wählervereinigungen“ wider. Ein zusätzlicher Hinweis auf diese Programmatik ist darin zu sehen, dass die Freien Wähler die einzige Partei sind, bei der die Wertesysteme der zweiten Ordnung (Gelb und Türkis) deutlich in Erscheinung treten.

Mit dem letzten Hinweis ist für die WMeme der zweiten Ordnung die Frage angeschnitten, wie sich die Profile der Kandidaten in dieser Hinsicht zu denen ihrer Parteien verhalten. Von den marginalen Wertesystemen finden sich bei allen Parteien lediglich Spuren von Rot – besonders schwach bei den Freien Wählern und der CSU, etwas betont bei der SPD

Von besonderem Interesse müssen die Ergebnisse des WMems Blau sein, da sich hierin die Qualitäten abbilden, die für die Gestaltung der politischen Realität erforderlich sind. Zunächst gebe ich einen Überblick über das diesbezügliche Verhältnis der Kandidaten zu ihren Parteien:

  • Blau hat – mit Ausnahme von CSU und Freie Wähler – die Position an zweiter Stelle der Spirale inne. Bei den beiden Kandidaten der AfD ist Blau nach Orange das stärkste WMem-System. Ihre Performance ist nahezu gleich. Sie zeigt schwache Internetergebnisse und starke Pressepräsenz, die jedoch im umgekehrten Verhältnis zu dem Ergebnis ihrer Partei steht. Vergleichbare Verhältnisse bestehen auch im Bezug auf die Kandidatin der Partei Die Linke. Ein besonderes Bild ergibt sich für den Kandidaten der FDP. Bei ihm sind Internet- und Presseperformance gleich stark bei vergleichbarem Bild seiner Partei im Verhältnis zu anderen Parteien. Für den SPD-Kandidaten zeigt sich eine Ähnlichkeit mit der Partei Die Linke, jedoch mit etwas stärkerer Presseperformance. Die beiden Kandidaten der Grünen ähneln sich in ihrer blauen Performance und zeigen im Vergleich zu ihrer Partei nur geringe Abweichungen. Bei den Freien Wählern und der CSU spielt Blau nur eine verhältnismäßig schwache Rolle, die vor allem im Vergleich zur Internetpräsenz weit hinter Grün zurück fällt. Diese Feststellung gilt auch für die CSU, nicht jedoch für die Freien Wähler.
  • In diesem Schritt werde ich die Ergebnisse unter dem Aspekt des Antagonismus von Grün und Blau darstellen. Beide Wertesysteme sind für einen Staat von grundlegender Bedeutung und repräsentieren in Blau das praktische Wissen für die Ordnung von Systemen und in Grün die Herstellung von Harmonie im Inneren komplexer Systeme. In Blau werden die Mittel bereitgestellt, damit die grünen Harmonien hergestellt werden können. Beide sind aufeinander angewiesen und können sich gegenseitig blockieren (wie gegenwärtig in der Ampelkoalition zu sehen ist).  Die Verhältnisse für die Kandidaten der AfD stellen sich nahezu gleich dar und zeigen ein etwas stärkeres Blau gegenüber Grün. Dieses Verhältnis tritt bei der Partei deutlich stärker hervor als bei den Kandidaten. Bei der Kandidatin der Linken besteht hinsichtlich der Internetperformance etwa Gleichstand mit Grün, hinsichtlich der Presseperformance jedoch ein starkes Übergewicht von Blau. Insgesamt besteht dieses Übergewicht auch bei ihrer Partei, allerdings ist hier die Internetperformance wesentlich stärker als Grün. Im Profil des FDP-Kandidaten erscheint Blau insgesamt etwas stärker als Grün, jedoch übernimmt dabei die Presse die leitende Funktion. Diese Verhältnisse fallen für die Partei deutlicher aus und bestätigen den Eindruck für den Kandidaten. Auch für den SPD-Kandidaten ergibt sich im Gesamteindruck ein Übergewicht von Blau, das vor allem bei der Partei im Internet hervortritt. Die Kandidaten der Grünen zeigen im Gesamteindruck ein geschlossenes Bild im Einklang mit der Partei und leichtem Überschuss bei Blau. Für den Kandidaten Aiwanger wird auf die Ausführungen oben hingewiesen und hier dahingehend ergänzt, dass der Gesamteindruck für den Kandidaten und seine Partei ein leichtes Übergewicht von Grün ergibt, das jedoch bei Aiwanger vor allem durch das starke Gewicht des Internets bei Grün zustande kommt. Eine ähnliche Situation findet sich auch bei dem CSU-Kandidaten, sie stellt sich allerdings für die Partei mit einem annähernden Gleichstand von Grün und Blau bei insgesamt niedriger Bedeutung und einem Übergewicht von Grün dar, das vor allem durch das Internet getragen wird.

Grafik 4 (35. KW)

In Grafik 4 ist die Fortschreibung der Daten für die Wertememe in der 35. KW abzulesen. Neben den Parteien sind lediglich die beiden Spitzenkandidaten der CSU und der Freien Wähler aufgeführt. Bereits durch den einfachen Vergleich mit den Augen sind gravierende Unterschiede zwischen den Grafiken 2 und 4 erkennbar. Eine genauere Bilanzierung der Verschiebungen in den Wertememen für die Parteien erfolgt im nächsten Abschnitt.

Hierzu auch hier der Hinweis, dass die angegebenen Prozentwerte als Prozentpunkte zu lesen sind, also durch einfache Subtraktion der in den Grafiken 2 und 4 angegeben Prozentwerte ermittelt wurden.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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