Die Ukraine und Russland unter den Folgen des russischen Kriegs – Februar 2023

Dieser Beitrag setzt die monatliche Beobachtung der Entwicklung in den Großstädten der Ukraine aus integraler Sicht für die Zeit von Mitte Januar bis Mitte Februar 2023 fort. Dargestellt wird der Status hinsichtlich der Wertewelten und der Quadranten – also der vertikalen und horizontalen Entwicklungsrichtungen – sowie deren Veränderungen. Aus Anlass des Jahrestags des Krieges stelle ich für die beiden direkten Kriegsparteien auch die Veränderungen für die Ukraine und Russland  als Ganze in den beiden Teilsystemen einer integralen Sichtweise dar.

Bemerkungen zur Entwicklung in der Ukraine und in Russland

Zunächst gebe ich einen Überblick über die Veränderungen in den beiden Ländern als Ganze. Abbildung 1 zeigt den Gesamtstatus der aktiven Wertesysteme nach den Spiral Dynamics. Die Daten basieren auf Google-Abfragen in den jeweiligen Landessprachen und eingeschränkt auf die jeweiligen Top-Level Länderkennzeichen (.ua und .ru) und unter Bezug auf die Länder, so dass die Verfälschung der Ergebnisse durch Einflüsse aus anderen Ländern stark eingeschränkt ist.

Abb. 1: WMeme in der Ukraine im März 2022

In Abbildung 1 ist für die Ukraine eine starke Dominanz des für konservative Ordnungssysteme wie Staat, Kirche oder Militär zu sehen. Solche Systeme sind Garanten für Stabilität und know-how. Daneben sind auf niedrigem und relativ gering abweichenden Niveaus drei weitere Wertesysteme 1. Ordnung – d.h. Welt gestaltende Kräfte vorhanden. Sie werden von den beiden Systemen der 2. Ordnung als ideele „Leitplanken“ austariert.  Das in der Grafik zu sehende Gesamtbild lässt nur geringe Entfaltungsmöglichkeiten für einzelne Individuen zu. Deshalb ist auch in dem relativ stark ausgeprägten Rot ein Gewaltpotential mächtiger Einzelpersonen (z. B. Oligarchen) entstanden.

Abb. 2: WMeme in der Ukraine im März 2023

Im Vergleich zu Abbildung 1 stellt sich die Situation nach einem Jahr Krieg total anders dar. Blau hat seine Dominanz etwa halbiert, Rot ist nahezu auf gleiches Niveau angewachsen und Orange hat seinen Einfluss etwa verdoppelt. Dagegen ist Grün auf dem Stand von 2022 geblieben und auch die zwei Wertesysteme der 2. Ordnung (Gelb und Türkis) haben sich in der Summe kaum verändert und vermutlich eine Verlagerung von kollektiven Strukturen hin zu Individuen vollzogen.

Die beschriebenen Veränderungen lassen das Gesamturteil zu, dass sich die Ukraine in ihren politisch entscheidenden Werthaltungen (Orange) deutlich in Richtung Europa bewegt hat, wobei jedoch zu beachten ist, dass diese zu Lasten von Blau einerseits durch eine Verdopplung der Gewaltbereitschaft und andererseits durch die stürmische Annäherung an die EU erreicht wurde. Diese Bewegungen, die teils durch den Krieg erzwungen wurden und möglicherweise auch in alten Machtstrukturen des Oligarchen-Systems geweckt wurden, zeigen Ähnlichkeiten mit Revolutionen und sind hinsichtlich ihrer Beständigkeit mit Skepsis zu betrachten.

Abb. 3: Quadrantenvergleich Ukraine-Russland; 2022-2023

Das Bild der Werteentwicklung bedarf seiner Ergänzung durch seine horizontale Durchdringung der geistig-materiellen Strukturen, die in einem Quadrantenschema, wie in Abb. 3 zu sehen ist, darstellbar ist. Die Darstellung basiert auf einem theoretischen Modell, bei dem ein geschlossenes System angenommen wird, in dem eine Gleichverteilung der vier Quadranten (4 X 25%) als Idealfall angenommen wird. In der Grafik sind die jeweiligen Abweichungen von diesen Idealwerten in 5%-Schritten dargestellt. Dabei müssen die beiden rechten Quadranten aus abfrage-methodischen Gründen zusammengefasst werden. In der Summe müssen die Quadranten Null ergeben. Abweichungen hiervon sind auf- und abrundungsbedingt.

Auch hier sind starke Verwerfungen in der Ukraine zu sehen, die eine Verlagerung der Aktivitäten vom wissenschaftlich-rationalen Denken auf die individuelle Psyche zeigen. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dieses eine Abkehr von vernünftigem Handeln hin zu emotional bestimmten Handlungen und von Impulsen ausgelösten Reaktionen, wie sie in Kriegssituationen eingeübt werden. Es zeigen sich hier neben intuitiven Handlungen auch die für die Menschen in der Ukraine  zu veranschlagenden psychischen Schäden und damit die menschenverachtenden Wirkungen von Putins Krieg und jedes modernen Kriegs.

Es gibt jedoch eine Konstante, die sich besonders bei den ins Ausland geflohenen Ukrainern zeigt: Die starke Verankerung in der ukrainischen Kultur, die sich im unteren linken Quadranten zeigt und auch nach einem Jahr Krieg unverändert ist. In der sich daraus ergebenden Situation entsteht die Illusion einer Kultur, die aufgrund des Krieges – durch Zerstörung der Kultureinrichtungen und Unerreichbarkeit – nicht mehr von Menschen getragen werden kann und mehr und mehr zu einer Illusion wird. Die zahlreichen Bemühungen ukrainischer Künstler zur Erhaltung eines Kulturangebots können deshalb nicht hoch genug geschätzt werden.

In Russland hat der Krieg auf anderem Niveau zu den gleichen Verlagerungen – von den beiden rechten Quadranten zum oberen linken Quadranten – geführt. Allerdings kann hier sogar von einem Normalisierungsprozess sprechen, der das 2022 im oberen linken Quadranten bestehende starke Defizit in den Normalbereich gebracht hat und die 2022 im leichten Überschuss befindlichen rechten Quadranten in den – auch in westlichen Ländern obligatorischen – negativen Bereich verringert hat. Möglicherweise zeigt sich hier eines der Motive, die den Entschluss zum Krieg befördert haben. Jedenfalls ist der Zusammenhang zwischen starkem Anstieg der Emotionen und dem Krieg in der großen Fluchtbewegung – die durch junge Männer ausgelöst wurde, die sich nicht im Krieg „verheizen“ lassen wollen – sichtbar geworden.

Abb. 4: Wertewelten in Russland im März 2022

In Abbildung 4 sind die Wertesysteme in Russland zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns im Jahr 2022 abgebildet. Die Situation ist durch dominierendes Grün gekennzeichnet, andere Wertesysteme sind auf äußerst geringem Niveau in einer geringen Schwankungsbreite sichtbar. Der Einfluss von Grün ist in erster Linie dadurch zu erklären, dass die Abfrage unter der Bedingung  stand, dass der Begriff „Russland“ explizit im Ergebnis vorkam. Es zeigt sich in dem Ergebnis die überragende Bedeutung der Volkszugehörigkeit für das Gemeinschaftsgefühl der Russen.

Abb. 5: Wertewelten in Russland im März 2023

Zum Vergleich ist das Ergebnis nach einem Jahr Krieg durch die russischen Streitkräfte in Abbildung 5 abzulesen. Hier ist eine gravierende Verlagerung zu Lasten des Identitätsgefühls, ein Russe zu sein (Grün), zugunsten von Rot und Blau erkennbar. Insbesondere der starke Anteil von Rot lässt darauf schließen, dass die Übergriffe des Staates auf die Privatsphäre der Menschen Putin und seinem Machtzirkel zugerechnet werden und ihn als machthungrigen Egozentriker erscheinen lassen. Erst in zweiter Linie wird der Staatsapparat (Blau) als Akteur der unterdrückten Unruhe identifiziert. Hieraus leitet sich auch eine Erklärung für den starken Bedeutungsgewinn des oberen linken Quadranten (Ich) ab.

Dieses Ergebnis hellt das Bild, das im Westen über die Moral des russischen Volkes im Entstehen ist, etwas auf. Es ist jedoch die Einschränkung notwendig, dass hier lediglich der im Internet repräsentierte Teil der Bevölkerung abgebildet wird und insbesondere die in den Weiten des Ostens lebenden Menschen wahrscheinlich nicht erfasst sind. Als ein Beleg hierfür kann die an der Front offenbar gewordene verbreitete Unkenntnis vieler Soldaten aus diesen Regionen über die Art ihres Einsatzes angeführt werden. 

In kriegstaktischer Hinsicht geben diese Ergebnis zu der Annahme Anlass, dass die im Zeitverlauf zunehmende Aufklärung der Bevölkerung über die Zusammenhänge des Kriegs die Position Putins schwächen und einer Verhandlungsbereitschaft seinerseits förderlich sind.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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