Bedeutet der Krieg in der Ukraine eine Zeitenwende?

Der militärisch-industrielle Komplex

Solche Fragen haben unter den Bedingungen des modernen Kriegs keine Bedeutung mehr. Die Kriegführung ist der Globalisierung der Kapital- und Warenströme gefolgt. Die Supermächte USA und Russland – erstere leichter als Russland – können innerhalb kürzester Zeit an jedem Ort der Erde todbringende Operationen ausführen. Diese Fähigkeit erfordert hohe technische und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und gilt daher als besondere Hervorhebung innerhalb der Staatengemeinschaft. In einer analytischen Bemerkung hatte US-Präsident Obama Russland zu einer „Regionalmacht“ herabgestuft, worauf Analysten der späteren Annexion der Halbinsel Krim durch Russland die Vermutung stützten, er habe damit die Aggression Putins hervorgerufen, die zur Besetzung der Krim geführt habe.

Der frühere General und US-Präsident Eisenhower hat die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, Waffentechnik und Aufrüstung warnend in seiner Abschiedsrede vom 17. Januar 1961 hervorgehoben und ausdrücklich vor den Verflechtungen und Einflüssen des militärisch-industriellen Komplexes in den USA gewarnt:

Wir in den Institutionen der Regierung müssen uns vor unbefugtem Einfluss – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – durch den militärisch-industriellen Komplex schützen. Das Potenzial für die katastrophale Zunahme fehlgeleiteter Kräfte ist vorhanden und wird weiterhin bestehen. Wir dürfen es nie zulassen, dass die Macht dieser Kombination unsere Freiheiten oder unsere demokratischen Prozesse gefährdet. Wir sollten nichts als gegeben hinnehmen. Nur wachsame und informierte Bürger können das angemessene Vernetzen der gigantischen industriellen und militärischen Verteidigungsmaschinerie mit unseren friedlichen Methoden und Zielen erzwingen, so dass Sicherheit und Freiheit zusammen wachsen und gedeihen können.

US-Präsident Dwight D. Eisenhower in seiner Abschiedsrede vom 17. Januar 1961

Bereits 1958 hatte der bedeutende Soziologe C. Wright Mills eine „bestechend klare, schonungslose Analyse der angespannten Weltlage aus der die Drohung eines totalen Dritten Weltkriegs erwächst“ (Zitat: Klappentext der deutschen Ausgabe „Politik ohne Verantwortung“, Verlag Kindler 1959) vorgelegt. Die Weltlage damals war eine entschieden andere als heute, das heute drohende finale Ende und die Gefahr seines baldigen Eintritts ist jedoch größer als je zuvor. Die Strukturen in Militär, Politik und Wirtschaft haben sich verfestigt und über den gesamten Globus ausgedehnt. Um so gültiger wird hierdurch die zentrale These in Mills’ Analyse wo er schreibt: „Die unmittelbare Ursache des dritten Weltkriegs ist seine Vorbereitung“. Dafür verantwortlich macht er in gleichem Maße die USA und die (damalige) Sowjetunion und er benennt die Faktoren, die diese Gleichsetzung rechtfertigen:

Der Schlüssel zur Macht ist in beiden Fällen die technische und technologische Entwicklung. Der »Materialismus« der Sowjetunion ist kein bedeutsamerer geistiger Faktor als der Materialismus des Westens — besonders in den Vereinigten Staaten, wo die Religion an und für sich bereits zu einem durchaus weltlichen Tätigkeitsgebiet geworden ist. In beiden Ländern sind die Produktionsmittel so angeordnet, daß ihnen, im Namen der Leistungsfähigkeit, die Arbeit entfremdet ist; in beiden dienen die Konsumtionsmittel der kulturellen Ausbeutung. Weder hier noch dort zeigen sich bei der Arbeit ein besonderes Können oder in der Freizeit ein Talent zur Muße.“ Weitere Übereinstimmungen sieht er im Bezug auf die unpersönliche Bürokratie, die alles durchdringt und keine Erfindung der Bolschewiken ist, in der fetischartigen Wertschätzung von Wissenschaft und Vaterlandsliebe, die in den Dienst von Kriegen und Kriegsvorbereitungen gestellt werden. Entscheidend ist für Mills folgender Punkt: „Kleine herrschende Zirkel in den beiden Überstaaten gehen von der Annahme aus, Waffengewalt und das dazu gehörende Ethos einer überentwickelten, auf den Krieg eingestellten Gesellschaft seien kluge, praktische, unausweichliche und realistische Konzepte.

Zitate: „Politik ohne Verantwortung“, Verlag Kindler 1959

Aufbauend auf diese Schlussfolgerungen prägte der britische Historiker Edward P. Thompson 1980 in der europäischen Diskussion um die atomare Nachrüstung in Europa den Begriff des Exterminismus als letztem Stadium der Zivilisation (Link zum Artikel im Internet-Archiv). In einem programmatischen Zeitschriftenartikel forderte er eine „theoretische und Klassenanalyse der gegenwärtigen Kriegskrise“. Der Exterminismus stellt einen Konkretisierungsversuch dessen dar, was Mills „den Drift und Drang in Richtung Dritter Weltkrieg“ nennt.

»Der Begriff des Exterminismus kennzeichnet diejenigen Züge einer Gesellschaft – sie können in verschiedenen Graden in ihrer Volkswirtschaft, in ihrer politischen Ordnung und in ihrer Ideologie auftreten -, die als Schubkraft in eine Richtung wirken, deren Resultat die Auslöschung riesiger Menschenmassen sein muss. Das Resultat wird die Auslöschung sein, aber es wird nicht zufällig dazu kommen (selbst wenn der endgültige Auslöser zufällig sein mag), sondern es wird aus früheren politischen Handlungen, aus der Anhäufung und Perfektion der Mittel zur Vernichtung und aus der Strukturierung ganzer Gesellschaften auf dieses Ende hin folgen.«

E.P. Thompson »Der Exterminismus als letztes Stadium der Zivilisation« in: Argument 127, 1981, 326-51; zitiert nach Ulrich Albrecht in HKWM 3, 1997, S. 1187-1192

Der Friedens– und Konfliktforscher Ulrich Albrecht nannte die hieraus abgeleitete These Thompson’s eineIsomorphiedie »Identität von Form und Arbeitsweise« zwischen amerikanischen und sowjetischen Rüstungskomplexen. Er zog in den 1980er Jahren daraus die Schlussfolgerung für die Friedensbewegung, Gegner seien sowohl die amerikanische wie die sowjetische Rüstungspolitik, eine der Zeit vorauseilende Sichtweise.“ (ebd.)

Der Begriff „Exterminismus“ wurde von Rudolf Bahro als Leitbegriff für seine Auffassung von einer zeitgemäßen neuen politischen Bewegung übernommen, die er in seinem 1987 erschienen Buch „Logik der Rettung“ umriss. Darin erweitert er den Begriff indem er den geistigen Zusammenhang, die Verwurzelung der drohenden Menschheitskatastrophe wie der möglichen Rettung im menschlichen Wesen aufzeigt und so die Verantwortung der Menschen als Individuen und in Gemeinschaft betont.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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