Bedeutet der Krieg in der Ukraine eine Zeitenwende?

Am 20. September 2001 war in der Wochenzeitung DIE ZEIT zu lesen, was der Schriftsteller Stefan Zweig an einem schönen Sommertag auf einer Bank sitzend im Kurpark zu Baden bei Wien empfand, als plötzlich die Kurkapelle mitten im Takt verstummte. „Auch die Menge, die als eine einzige flutende helle Masse zwischen den Bäumen promenierte, schien sich zu verändern, auch sie stockte plötzlich in ihrem Auf und Ab. Es mußte sich etwas ereignet haben„, schrieb er später in seiner Autobiografie.

Es war der 28. Juni 1914 als die Nachricht von der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgerpaares in Sarajewo bekannt wurde und damit der Anlass für den bereits erwarteten Krieg geschehen war. Weiter heißt es in dem Artikel: „ Das Entsetzen über die Mordtat verband sich mit der dunklen Ahnung, an der Schwelle einer Zeitenwende zu stehen, die das Ende aller Sicherheiten bedeuten würde. Nichts wird mehr sein wie zuvor: Das war auch die Empfindung, als am Dienstag vergangener Woche die ersten Meldungen über die Terrorangriffe auf das World Trade Center und das Pentagon verbreitet wurden und man die Bilder des Infernos auf allen Fernsehkanälen verfolgen konnte.

Was als Reaktionen auf die beiden Ereignisse folgte, waren im ersten Fall der erste Weltkrieg und der daraus folgende zweite Weltkrieg sowie im zweiten Fall der „Krieg gegen den Terror“, der von den USA ausgerufen wurde und neben einer Vielzahl begrenzter militärischer Attacken auch zu Kriegen in Afghanistan und im Irak führte und bis heute anhält. In beiden Fällen handelt es sich – mit dem notwendigen zeitlichen Abstand betrachtet – um historische Zäsuren. Vor diesem Hintergrund ist auch die Verwendung des Begriffs „Zeitenwende“ im Bezug auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu beurteilen. Die Frage lautet hier: Welche Aussagekraft hat der Begriff „Zeitenwende“ in der gegenwärtigen Situation?

Zunächst suggeriert seine Verwendung ein hohes rhetorisches Gewicht, indem er das Thema in eine Reihe mit den epochalen Ereignissen der beiden Weltkriege und des internationalen Terrorismus stellt, doch stellen sich hinsichtlich seiner faktischen Angemessenheit sofort Zweifel ein, da er ein im Werden begriffenes Ereignis bezeichnet, zu dem ein abgewogenes Urteil der Geschichte als Zweig der Wissenschaft (noch) nicht möglich ist. Es ist daher zu klären, worauf sich das verwendete Schlagwort substantiell beziehen soll. Dazu kann das folgende Zitat aus der Rede des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022 dienen:

„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen. Aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Das ist menschenverachtend. Das ist völkerrechtswidrig. Das ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen.“

Aus der Rede des Bundeskanzlers Olaf Scholz am 27. Februar 2022 in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestags zum Ukraine-Krieg

Anders, als von verschiedenen politischen Beobachtern kommentiert, geht hieraus eindeutig hervor, dass es beabsichtigt ist, mit der Verwendung des Begriffs ein geschichtliches Urteil über das Verhalten des russischen Präsidenten zu fällen um hierdurch eine Schärfe in der Ablehnung des kriegerischen Verhaltens auszudrücken. Gestützt wird die moralische Verurteilung durch das Völkerrecht und die Absage an den menschenverachtenden Materialismus des russischen Regimes. Durch die Bezugnahme auf den europäischen Kontinent wird damit eine programmatische Aussage verbunden, die eine grundlegende Neubewertung der europäischen Politik – und insbesondere die der Bundesrepublik – behauptet, soweit bereits Reaktionen der EU-Staaten erfolgt sind, bzw. für die Zukunft angekündigt, soweit die weitere Entwicklung der russischen Politik dieses rechtfertigt.

Durch die Lieferung von Waffen – nach der aktuellen Beschlusslage auch schwerer Waffen – und die Bereitstellung von Geldern für den Kauf von Waffen hat Deutschland einen angemessenen Beitrag zur Selbstverteidigung der Ukraine geleistet. Damit hat Deutschland in diesem Krieg eine moralische Verpflichtung zur Verbesserung der Selbstverteidigung der Menschen in der Ukraine eingelöst, die im Deutschen Bundestag breite Unterstützung – über die Regierungsfraktionen hinaus – gefunden hat. Eine weiter gehende militärische Unterstützung durch Nato-Staaten ist – wenn auch von der ukrainischen Regierung und amerikanischen Militärs gefordert –  ohne die Gefahr eines ganz Europa überziehenden Krieges – nicht möglich.

Andererseits besteht die Gefahr, dass Russland seine militärische Präsenz weiter an die Grenze zu den NATO-Staaten verlagert, indem es die Ukraine als Ganzes erobert und die ehemalige Sowjetrepublik Moldau ebenfalls unter seine Herrschaft bringt. Zur Abwendung einer solchen Entwicklung bestehen sowohl diplomatische wie auch militärische Optionen. Die schlechteste Lösung wäre hierbei das Beharren auf waffentechnischen Festlegungen, die so unpräzise sind wie die aktuelle Klassifizierung „schwere Waffen“, die sich als politische Nebelkerzen eignen, jedoch nicht den militärischen Notwendigkeiten folgen, um die „normative Kraft des Faktischen“ soweit wie möglich auszuschließen.

Normative Kraft des Faktischen bedeutet, dass durch die tatsächliche Entwicklung ein Zustand geschaffen wird, den die Rechtsordnung anerkennt, z.B. unvordenkliche Verjährung, Durchsetzung einer durch Revolution an die Macht gelangten Regierung.

Es ist eine auf den Rechtsgelehrten Georg Jellinek (1851-1911) zurückgehende Wendung, die den Geltungsgrund des Rechts – in Abkehr von naturrechtlichen Traditionen (Naturrecht) – nicht in der gleichbleibenden Natur des Menschen oder in der Vernunft, sondern in den tatsächlichen Gewohnheiten des geschichtlich-sozialen Lebens sieht. In der modernen Industriegesellschaft ist das Gewohnheitsrecht, das die n.K.d.F. verkörpert, durch staatlich gesetztes Recht fast vollständig verdrängt worden. Allerdings beeinflusst die soziale Wirklichkeit insoweit den Rechtsetzungsprozess, als sich auch das Recht an ihr u. den sie prägenden Wertvorstellungen stets von neuem bewähren muss.

Quelle: Rechtslexikon.net

Wegen der genannten Gefahren ist jenen Kritikern beizupflichten, die eine Fixierung der Hilfeleistungen auf den militärischen Sieg der Ukraine – als dem zwar im Recht befindlichen, jedoch von vorn herein militärisch schwächeren Staat – ablehnen. Dabei ist auch bei einer begrenzten Erobereung von Gebieten innerhalb der Ukraine zu berücksichtigen, dass in diesem Fall ebenfalls von der „normativen Kraft des Faktischen“ (siehe Kasten) auszugehen ist, da sie sich in Verhandlungen zur Herbeiführung eines Waffenstillstandes und zur Lösung des Konfliktes zur Geltung bringen wird. Entgegen der herrschenden Berichterstattung über den Konflikt in den Massenmedien, die weit überwiegend den militärischen Entwicklungen folgt, mit der zwangsläufigen Konsequenz einer Parteinahme für die Ukraine, ist eine vom Ende her gedachte Lösungsstrategie erforderlich, die den Weg zurück an den Verhandlungstisch ermöglicht.

Eine solche Lösungsstrategie hat die Klärung des Konfliktgegenstandes zur Voraussetzung, die schwerlich aus dem Verlauf des Krieges selbst erfolgen kann. Bisher wurde auf beiden Seiten – aus unterschiedlichen Ursachen – eine Desinformation der Bevölkerung betrieben, wie sie für die moderne Kriegführung typisch ist. Auf russischer Seite ist es die befohlene Vermeidung des Wortes Krieg in der Berichterstattung, um den Mythos vom geschundenen Volk aufrecht zu erhalten, auf ukrainischer Seite das unmögliche Eingehen auf die russische Bedrohung, da die Kriegsziele Russlands nicht klar benannt werden können. Grundsätzlich gilt jedoch die Erfahrung: „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“. Eine der fatalsten Lügen ist die Erweckung des Anscheins, als könnte der moderne Krieg ohne Tötung und Verletzung von Zivilisten durchgeführt werden bzw. ausschließlich unter militärischen Kräften erfolgen. Mit dieser Erzählung verselbständigen sich Gewalt und Krieg als dauerhafte Mittel zur Austragung von politischem Streit. Das zur Verfügung stehende Arsenal an Waffen verspricht die technischen Möglichkeiten zur Einhaltung dieses Versprechens. Nachfolgend eine kurze Übersicht auf der Basis von Wikipedia-Artikeln über einige wesentliche Merkmale moderner Kriegsführung, ohne hier auf die militärische Situation in der Ukraine eingehen zu können:

Psychologische Kriegsführung. Als Methoden der psychologischen Kriegsführung zählt alles, was die Moral der gegnerischen Kräfte stört, vermindert oder zerstört oder deren Wahrnehmung verfälscht. Als häufige – und auch im Ukrainekrieg zu sehende – Methoden sind zu nennen Propaganda, Missbrauch an der Zivilbevölkerung, brutale Abschreckungsbeispiele, Manöver an der Grenze zum potentiellen Gegner, Überfälle im Hinterland zur Verunsicherung gegnerischer Truppen, Aufrufe durch verschiedene Medien (Lautsprecher, Flugblätter, Rundfunk).
Konventionelle Kriegführung. Es handelt sich um den klassischen Einsatz militärischer Großverbände, die verschiedenen Waffengattungen (Panzer, Artillerie, Infanterie) und Teilstreitkräften (Heer, Luftwaffe, Marine) angehören. Bis zur Erfindung des Giftgases als Massenvernichtungswaffe waren alle Kriege konventionell. Nach dem Einsatz der ersten Atombomben gegen Japan am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde es notwendig, zwischen konventioneller und atomarer oder nuklearer Kriegsführung zu unterscheiden.
Militärroboter sind unbemannte militärische Systeme oder Robotic Combat Systems, autonome, semi-autonome oder ferngelenkte Systeme, entwickelt für den militärischen Einsatz. Dazu gehören unter anderem Beobachtung, Aufklärung, Spionage, Minenräumung, Wachaufgaben und Zielbekämpfung. Lethal Autonomous Robot (LAR) oder Lethal Autonomous Weapon System (LAWS) sind Bezeichnungen für ausdrücklich offensive Systeme.
Luftkrieg. Es handelt sich um eine Form der Kriegsführung, bei der militärische Operationen hauptsächlich durch Luftstreitkräfte und Luftkriegsmittel anderer Teilstreitkräfte ausgeführt werden. Die Bombardierung unverteidigter Städte, Gebäude und Wohnstätten verstößt gegen das Kriegsvölkerrecht. Eine neue und sich entwickelnde Form des Luftkriegs ist der Einsatz ferngesteuerter Kampfdrohnen, die als Mittel chirurgischer Kriegführung eingesetzt werden. Sie zählen ebenfalls zu den Militärrobotern.
Asymmetrische Kriegführung (unkonventionelle Kriegführung). Diese Art des Krieges trifft auf den gegenwärtigen Ukrainekrieg zu. Es handelt sich um Kriege, die zwischen Parteien geführt werden, die waffentechnisch, organisatorisch und strategisch stark unterschiedlich ausgerichtet sind. Hierunter fallen auch Guerilla– und Partisanenkriege sowie Terrorismus. Typische Kriegsmittel sind auf der schwächeren Seite unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen, Sprengfallen, Hinterhalte oder Feuerüberfälle, Panzersperren, seltener Handstreiche, die durch Selbstmordattentäter und Autobomben ausgeübt werden.
Chirurgische Kriegführung. Der Begriff Chirurgische Kriegführung ist ein militärischer Euphemismus, der eine gedankliche Verbindung zu einem lebenserhaltenden chirurgischen Eingriff der Medizin herstellt, um die obligatorisch zerstörende Wirkung des Krieges zu verschleiern. Er bezeichnet eine Kriegführung, bei der ausschließlich militärische Ziele angegriffen werden sollen, um Kollateralschäden vorzubeugen. Dieser Begriff gehört zum Arsenal der Kriegspropaganda.
Massenvernichtungswaffen. Zu dieser Kategorie von Waffen gehören chemische, biologische, radiologische und nukleare Waffen (CBRN-Waffen). Der Einsatz solcher Waffen ist durch internationale Konventionen verboten bzw. begrenzt. Dennoch bleiben sie als Gefahren aus geheimen Laboren weiter bestehen. Auf dem vorhandenen Arsenal an strategischen Nuklearwaffen der Atommächte basiert das Konzept der Atomaren Abschreckung (Gleichgewicht des Schreckens). Ihr Einsatz im herkömmlichen Gefecht des Militärs ist nicht vorgesehen, da ihre Zerstörungswirkung beide Seiten vernichten würde. Dagegen handelt es sich bei taktischen Nuklearwaffen um Waffen mit deutlich geringerer Vernichtungswirkung, die als Granaten und Raketen mit kurzer Reichweite verschossen werden können, als Bomben aus der Luft abgeworfen werden können oder als Minen an bestimmten Orten platziert und ferngezündet werden können. Darüber hinaus sind spezielle taktische Nuklearwaffen für den Seekrieg entwickelt worden.
Cyberkrieg ist zum einen die kriegerische Auseinandersetzung im und um den virtuellen Raum, dem Cyberspace, mit Mitteln vorwiegend aus dem Bereich der Informationstechnik. Cyberkrieg bezeichnet zum anderen die hochtechnisierten Formen des Krieges im Informationszeitalter, die auf einer weitgehenden Computerisierung, Elektronisierung und Vernetzung fast aller militärischen und zivilen Bereiche und Belange basieren. Da der Angreifer häufig nicht eindeutig zu identifizieren ist, existiert hier eine Grauzone mit der Cyberkriminalität, die meistens auf die Erpressung von Geldzahlungen ausgerichtet ist.
Wirtschaftskrieg wird meistens in Verbindung mit oder zur Vorbereitung von militärischen Kriegen geführt, wobei neben ökonomischen oft auch juristische, politische und/oder geheimdienstliche Instrumente Verwendung finden.

Die Auflistung lässt erkennen, dass die Waffen, und damit die Möglichkeiten zur Kriegführung, im Lauf der letzten 150 Jahre ständig dem technischen Fortschritt angepasst wurden und ein enormes Vernichtungspotential darstellen, dass sich auch an den enormen Rüstungsausgaben der Staaten ablesen lässt. Es ist ebenso erkennbar, dass die Möglichkeiten von Angreifern gegenüber Verteidigern weit überwiegen. Wie unter diesen Bedingungen die Einhaltung des Humanitären Völkerrechts gewährleistet werden soll wird damit immer fraglicher, so dass Zweifel daran bestehen, ob die Waffenproduktion und Bereithaltung dieser Waffen in ihrer Summe nicht von vornherein menschenrechtswidrig sind. So wie der einzelne Mensch das Recht hat, über seinen Tod selbst zu bestimmen, muss er auch das Recht haben, im Kampf um sein Leben oder in Ergebung in sein Schicksal zu überleben oder auch zu sterben. Letzteres wird ihm jedoch durch die anonymisierte Kriegführung genommen.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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