Die erste Woche des Krieges zwischen Russland und der Ukraine ist vergangen und hat nun etwas besser erkennbar gemacht, was Russlands Präsident mit dieser Demonstration militärischer Macht bezwecken könnte, nämlich die bis vor einer Woche noch unvorstellbare Einverleibung eines Nachbarstaats, der nach Russland die Liste der Flächenstaaten Europas anführt und damit noch vor Ländern wie Spanien und Frankreich geführt wird. Es handelt sich um einen völkerrechtswidrigen Anachronismus, der militär-strategische Traditionen früherer Jahrhunderte fortzusetzen beabsichtigt.
Mit diesem Krieg offenbart sich Putins Rückwärtsgewandheit, die in der Glorifizierung der materiellen Gewalt feststeckt. Diese Sichtweise hat der britische Journalist Tim Marshall in seinem 2015 veröffentlichten Bestseller Prisoners of Geography: Ten Maps That Tell You Everything You Need to Know About Global Politics (engl.)(in Deutsch erschienen unter dem Titel: Die Macht der Geographie im 21. Jahrhundert: 10 Karten erklären die Politik von heute und die Krisen der Zukunft). In diesem Buch legt Marshall die historisch gewachsenen Sicherheitsinteressen Russlands so überzeugend dar, dass es als Blaupause für die von Putin verfolgten militärischen Ziele gedient haben könnte. Die geostrategische Analyse erfüllt zwar nicht die zivilgesellschaftlichen Erwartungen an ein politisches Krisenmanagement, wie es in Anbetracht der globalen Situation der Menschheit notwendig ist, sie entspricht jedoch der gegenwärtigen realpolitischen Situation, die von den drei Supermächten USA, Russland und China beherrscht wird und nun – nach 30 Jahren der Selbsttäuschung des Westens – um so brutaler in das öffentliche Bewusstsein tritt. Kritische Anmerkungen zu Marshalls Analyse im Bezug auf die Krisenherde an den Rändern des – gefesselten – geopolitischen Riesen Russland schöpfen aus diesem Anachronismus, laufen jedoch ins Leere, da die Welt in britischer Nüchternheit dargestellt wird, wie sie nun mal mit waffenstarrenden Militärapparaten ist. Es trifft sicher zu, dass die aktuelle russische Politik auch etwas mit den gesellschaftlichen Verhältnissen , ihrem wilden Kapitalismus und einer kleptokratischen Elite zu tun hat, wie es in der englischsprachigen Wikipedia von einem deutschen Geographen zitiert wird. Über diese Tatsache kann jedoch nicht weggesehen werden, solange es hochgerüstete Militärapparate gibt, denn jeder Hochrüstung liegt eine Militärstrategie zugrunde, Daran hat uns jetzt Russland erinnert, obwohl es doch schon immer bewusst sein musste, denn wie sollten sonst Kriege in Afghanistan, Syrien und anderswo geführt worden sein? Vielmehr verbirgt sich hinter solchen Kritiken einmal mehr die europäische Blindheit für die Mängel am eigenen „Haus“-
In diesem Beitrag werde ich versuchen, die Aufmerksamkeit auf die in Zeiten des Krieges zur Propaganda gewordenen Aspekte der Beziehungen zwischen den Kriegsparteien zu lenken und damit mögliche Sichtweisen anzuregen, die ein vertieftes Verständnis der geistigen und psychischen Energien auf beiden Seiten der kämpfenden Parteien zum Ziel hat. Dafür werde ich die Wertesysteme im Bezug auf die Länder und ihre Staatspräsidenten mit den Methoden der Spiral Dynamics und dem Enneagramm mit den Methoden dieses Projekts darstellen. Zunächst jedoch möchte ich die Grundzüge der Analyse von Tim Marshall kurz darstellen:
Marshalls Kurzcharakteristik des Landes besagt: Russland ist weit, von großer räumlicher Ausdehnung, unermesslich und riesengroß. Daraus erwachsen konventionellen Armeen große logistische Probleme, wie sie die Armeen Napoleons und Hitlers zu spüren bekommen haben. Andererseits weist er mit einem Zitat Winston Churchilles darauf hin, dass die Russen »nichts so sehr bewundern wie Stärke und nichts mehr verachten als Schwäche, insbesondere militärische Schwäche.« Beides zusammen führt zu der Strategie des „Rückzugs in den Raum“, wie er seit des Napoleonischen Krieges und des Überfalls der Wehrmacht auf Russland praktiziert wurde – im letzteren Krieg auch auf deutscher Seite. Hieraus wird das politische Ziel formuliert, möglichst große Vorländer zu haben, die vor möglichen Überfällen feindlicher Staaten schützen, ohne selbst den Rückzug im eigenen Land in die Tiefe des Raums antreten zu müssen, wie es anlässlich des napoleonischen Russlandfeldzugs geschehen ist. In Marshalls Perspektive kommt der Rolle Polens in der westlichen Ausrichtung russischer Militärstrategie eine Schlüsselrolle zu, da es unter den geografischen Bedingungen Zentraleuropas einen Durchgangskorridor von etwa 500 km Breite bildet, durch den „Russland im Bedarfsfall seine Armee schicken kann, um einen Gegner daran zu hindern, Richtung Moskau vorzurücken. Doch ab da wird der Keil breiter: An der russischen Grenze ist er bereits über 3200 Kilometer breit, und das Land ist bis nach Moskau und dahinter nur flach. Selbst mit einer riesigen Armee hätte man seine Schwierigkeiten, sich entlang dieser Linie erfolgreich zu verteidigen.“ Ähnliche Bedingungen sieht Marshall auch für den asiatischen Teil Russlands, die hier aber nicht dargestellt werden müssen.
Weitere „empfindliche“ Zonen im militärischen Verständnis Russlands sind die baltischen Staaten, sie sich an die Argumentation bezüglich Polen anschließen und Moldawien, das ebenfalls als russischer Pufferstaat gilt. Hier geht es insbesondere um die Kontrolle über das Flachland am nördlichen Ufer des schwarzen Meers und den Zugang zur Donau, der Russland in Folge des Krimkriegs (Transnistrien) verloren ging. Die Reiserouten des amerikanischen Außenministers sind Beleg dafür, dass diese Sicht weitgehend der Einschätzung der USA entspricht.
Insgesamt gesehen hängen die Konflikte an den Rändern des Riesenreiches mit den sehr eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten zum Meer über eisfreie Häfen und die in großem Ausmaß erfolgten Umsiedlungsmaßnahmen in der Regierungszeit von Josef Stalin zusammen. Sie verfolgten das Ziel ethnischer Teilungen in den Sowjetrepubliken, um die zentrale Macht abzusichern. Nach dem Zerfall der Sowjetunion werden sie nun in den „selbständigen“ Staaten in Form von Bürgerkriegen sichtbar.
Wie sehr die geostrategische Ausrichtung Russlands und die autoritäre Reglementierung der Kultur dem Nationalstaatsdenken des 19. Jahrhunderts ähnelt, wird am Beispiel des bereits erwähnten Napoleon Bonaparte und seiner Beziehung zur Kunst deutlich.
Noch unter der Feudalherrschaft der Könige von Frankreich wurde eine Reglementierung der Kunst durch die königliche Akademie für Malerei und Skulptur eingeführt. Alle zwei Jahre führte diese sogenannte Salons durch, auf denen nur ausgewählte Bilder zum Verkauf angeboten wurden. Damit waren die Künstler gezwungen, sich mit den Anforderungen dieser Akademie auseinanderzusetzen und es lag der Kunstmarkt in ihrer Hand. Als Folge der Französischen Revolution wurde die Akademie zwar 1793 aufgelöst, jedoch schon zwei Jahre später als „Akademie der schönen Künste“ neu gegründet. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jh. nahm auch sie einen vergleichbaren Platz im Kunstbetrieb ein. Ihre Ausrichtung wurde durch den Maler Jacques-Louis David geprägt, der als glühender Anhänger der Revolution das Vertrauen des Nationalkonvents besaß.
Die Aufgabe der Kunst sah man weiterhin in der moralischen Erziehung der Bürger zu Staatsbürgern. Aus kritischen Malern gegenüber der absolutistischen Macht wurden nun „Erzieher“ im Sinne des Nationalstaats. In der Motivwahl vollzog sich ein Wandel von der Sinnenfreude des Rokoko mit seiner Vorliebe für pikant-erotische Bilder hin zu Freude an der stillen Schönheit der Dinge im lichterfüllten Raum, die an Stillleben erinnern.
Das dargestellte Gemälde zeigt den französischen Kaiser hoch zu Pferde innerhalb einer Gruppe gefangener und verwundeter Soldaten. 25.000 Tote und Verwundete hat diese Schlacht mit der russischen Armee bei Preußisch-Eylau im damaligen Ostpreußen nahe dem russischen Kaliningrad (früher Königsberg) verursacht – genau in jenem Korridor, der auch heute noch Russland so wichtig ist. Damit war der knappe Sieg der Franzosen teuer bezahlt und dennoch – oder gerade deshalb – ließ Napoleon einen Wettbewerb für ein Erinnerungsbild an die Schlacht ausschreiben, dessen Inhalt bis ins Detail vorgeschrieben war. Besonders wichtig war hierin der tröstende Blick des Siegers, der damit seine Menschlichkeit demonstrieren wollte. Diese Geste wird im Bild von einem litauischen Offizier erwidert, der sich gerade anschickt, aus Dankbarkeit für die Hilfe des Kaisers das Adleremblem auf dessen Stiefel zu küssen. Neben der persönlichen Dankbarkeit mag hierin jedoch auch eine Anerkennung der Rolle des Befehlshabers der Grande Nation mitschwingen, die mit seinen militärischen Erfolgen in der Zeit von 1790 bis 1800 verbunden ist und aus der Napoleon selbst seine Motivation bezog.
In dieser Szene hebt sich Napoleon von dem pflichtgemäß handelnden Sanitätspersonal ab, indem er seine Barmherzigkeit, die er gegenüber den „barbarischen“ feindlichen Soldaten übt, glorifiziert. Damit erscheint der Krieg als unvermeidliches Schicksal der Staaten, das selbst der Verursacher und Sieger des Krieges als Übel beklagt. Der Maler, dem dieses auszudrücken gelungen war, wurde mit dem Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet.
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