In der Regel lese ich keine Parteiprogramme oder Ähnliches, da sie etwas von Horoskopen haben – sie sind so formuliert, dass man vieles in sie hinein interpretieren kann und meistens kommt es anders als man denkt. Diese Zugangssperre habe ich nun im Bezug auf das Verhandlungsergebnis von CDU/CSU und SPD zur Aufnahme von Verhandlungen zur Bildung einer großen Koalition überwunden, da ich in dem ablaufenden Szenario der Regierungsbildung eine Dramatik entdeckt habe, die in jedem Fall einen gewissen Unterhaltungswert hat. Doch mein Verantwortungsgefühl als überzeugter Demokrat sagt mir, dass ich es dabei nicht belassen kann und eine sachlich begründete Haltung zu dem vorgelegten Papier entwickeln sollte. So habe ich mich dann dazu überredet, zunächst einen Zugang zu den politischen Schwerpunkten der anvisierten Koalitionsvereinbarungen zu bekommen und ich habe eine Textanalyse erstellt, die ich in Form einer Tabelle mit den am häufigsten vorkommenden Wörtern des Papiers darstelle:
Wortsinn | Textstellen |
Offenheit | 3 |
Vertrauen | 5 |
Betroffenheit | 8 |
Beteiligung | 8 |
Anerkennung | 2 |
Dynamik | 5 |
Verantwortung | 10 |
gerecht | 5 |
Erfolg | 7 |
gemeinsam | 32 |
sozial | 39 |
fortschrittlich | 2 |
neu | 37 |
bewährt | 3 |
modernisieren | 3 |
ausbauen | 15 |
Innovation | 18 |
Gewalt | 6 |
Sicherheit | 18 |
Kriminalität | 3 |
Terror | 3 |
Polizei | 4 |
Wirtschaft | 45 |
Industrie | 2 |
Unternehmen | 16 |
Arbeit | 92 |
Arbeitnehmer | 10 |
Bildung | 44 |
Kultur | 26 |
Technologie | 4 |
Finanzen | 34 |
Energie | 10 |
Steuern | 23 |
Investitionen | 20 |
Europa | 55 |
Familie | 22 |
Kinder | 34 |
Miete | 5 |
Wohnungsbau | 8 |
Verbraucher | 6 |
Landwirtschaft | 10 |
Verkehr | 12 |
Umwelt | 5 |
Ökologie | 1 |
Natur | 4 |
Gesundheit | 6 |
Renten | 9 |
ändern | 7 |
verbieten | 2 |
bekämpfen | 8 |
kontrollieren | 3 |
fördern | 18 |
schützen | 46 |
prüfen | 9 |
muss | 36 |
soll | 30 |
kann | 39 |
wollen | 129 |
werden | 173 |
wenn | 5 |
international | 12 |
Bevor ich auf inhaltliche Aussagen eingehe, einige allgemeine Bemerkungen vorweg: Den Vereinbarungen ist eine Präambel vorangestellt, in der zunächst die erfolgreiche deutsche Wirtschaft hervorgehoben, die auch Ergebnis der erfolgreichen Zusammenarbeit von Unionsparteien und SPD sein soll. Im folgenden Absatz wird dann das Wahlergebnis der Bundestagswahl als Signal einer Unzufriedenheit im Wahlvolk erwähnt, auf die nun reagiert werden solle. Eine politische Interpretation dieses Ergebnisses mit der Einordnung in die politische Landschaft Deutschlands, Europas und der Welt unterbleibt jedoch. Diese wäre jedoch umso dringlicher, als es angeblich dem Wählerwillen entsprechen soll, die große Koalition fortzusetzen – und das, obwohl es noch vor wenigen Wochen der Wählerwille sein sollte, eine Jamaika-Koalition zu bilden. Offensichtlich wird der Wählerwille nach der sprunghaften Befindlichkeit von Herrn Lindner (FDP), den CSU-Oberen, der Demoskopie oder den Medien interpretiert. Schon um diesen Verdacht aus der Welt zu schaffen, wäre speziell Frau Merkel als Verantwortliche für die Regierungsbildung zu raten, eine politische Richtungsbestimmung vorzunehmen, zu der sie nach dem Grundgesetz als (Noch-)Kanzlerin einer Koalitionsregierung mit dem Verhandlungspartner SPD berufen ist. Dieses sollte sie öffentlich tun, damit die Menschen in diesem Land endlich wissen können, woran sie mit ihr sind. Gerade die von ihr immer wieder vorgetragene und oft kolportierte Alternativlosigkeit von Entscheidungen gebietet es im Hinblick auf die zukünftige Zusammenarbeit in der Regierung, den Spielraum für Ressortentscheidungen zu erfahren. Einige Erfahrungen mit den Regierungspartnern der Union zum Ende der vergangenen Legislaturperiode (Glyphosat, Ehe für alle, Flüchtlings- und Energiepolitik) haben zwischen den bisherigen Koalitionspartnern zu Verstimmungen geführt, die auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensverlusts eine Beendigung der Zusammenarbeit nachvollziehbar erscheinen lässt.
In der nebenstehenden Tabelle sind eine Reihe von Schlüsselbegriffen aufgeführt, die nach den Themen Grundhaltung, Werteordnung, Intentionen, Politikfelder, Interventionstiefe und Verbindlichkeit ausgewählt wurden. Die Schlüsselbegriffe, die auf bestimmte Werteordnungen hindeuten sind in der Tabelle farbig hinterlegt und geben mit diesen Farben die Beziehung zu den entsprechenden Wertememen der Spiral Dynamics an. Von den insgesamt 8 Wertesystemen der Spiral Dynamics sind Rot, Blau, Orange und Grün direkt angesprochen. Hierbei ist Grün als charakteristische Werteordnung für die Sozialdemokratie sehr stark vertreten, gefolgt von Blau, das für die Wahrung von Tradition, Recht und Ordnung steht, Orange als System für wirtschaftlichen Erfolg, Innovation, Demokratie und persönliche Entfaltung sowie Rot als geistige Heimat für extrovertierte Persönlichkeiten, die auch vor unkonventionellen Mitteln bis hin zur Gewaltanwendung nicht zurückschrecken. Die Beziehungen zwischen diesen Wertesystemen ergeben ein Gesamtbild, das so nicht funktionieren kann, da die regelnden Kompetenzen aus Blau gegenüber den Ressourcen verbrauchenden Aktivitäten in Grün bei geringer Dynamik in Orange zu gering sind. Hinzu kommen möglicherweise Störungen des sozialen Friedens aus dem relativ stark ausgeprägten Rot. Dieses Bild kommt hinsichtlich des schwachen Orange dadurch zustande, dass die für Orange maßgebenden Strukturen der Wirtschaft außerhalb des unmittelbaren Einflussbereichs der Politik liegen und nur indirekt über Steuern Einfluss nehmen. Hierin offenbart sich eine Schwachstelle des Volkswirtschaftlichen Gesamtsystems, das ohne staatliche (politische) Intervention in wirtschaftliche Zusammenhänge nicht funktionieren kann. Hierzu bieten sich in dem geschilderten Bild jedoch mit dem zu schwachen Blau keine Alternativen.
- Im Ergebnis ist die starke Betonung von Grün als Entgegenkommen an die SPD zu werten, die bereits jetzt absehbar eine Nagelprobe in der Regierungskoalition nicht bestehen könnte. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die Hinweise zur Verbindlichkeit der Aussagen hilfreich. In der Sprache von Juristen und Verwaltungsbeamten – und diese sind höchstwahrscheinlich die Urheber dieser Formulierungen – geben in Gesetzen und Vorschriften verwendete Begriffe wie muss, soll und kann Auskunft über die Reichweite der entsprechenden Aussage. In der Tabelle sind diese Begriffe noch um die Begriffe „wollen“ und „wenn“ ergänzt. Die drei erstgenannten Begriffe bedeuten hierbei
- „Muss“ bezeichnet die wichtigsten Ziele im Projekt. Werden sie nicht erreicht, gilt das Projekt als gescheitert.
- „Soll“ bezeichnet Ziele, die bei Nichterreichung das Projekt nicht zum scheitern bringen, aber die Zufriedenheit mit dem Projektergebnis beeinträchtigen.
- „Kann“ bezeichnet Wunsch-Ziele deren Erreichung den Erfolg eines der Vertragspartner unterstreichen. Oft wird daran nur gearbeitet, wenn die Erreichung nicht aufwändig ist und wenig Kosten verursacht. Die Durchsetzung ist von günstigen Umständen im Laufe der Zeit abhängig (Beispiel: Ehe für alle, s.o.).
Diese drei Zielarten umfassen insgesamt 105 Nennungen, von denen lediglich 36 in der Kategorie „muss“ angesiedelt sind. Die daneben bestehenden Absichtserklärungen in der Form “ wir wollen“ und „wir werden“ sind dagegen wesentlich zahlreicher. Sie betragen zusammen 302 Nennungen und sind wenig konkret. Darüber hinaus bestehen viele Verweise auf überstaatliche und nachrangige Zuständigkeiten, die ebenfalls die Erreichbarkeit einzelner Ziele infrage stellen. Diese Bedingungen sind jedoch nur in 5 Fällen durch eine Bedingung in der Form „wenn“ erkennbar gemacht.
Begriffe wie fortschrittlich, modern, neu, Innovation, bewährt und ausbauen bezeichnen die Intention, mit der eine bestimmte politische Maßnahme durchgeführt werden soll. In dieser Hinsicht dominieren die vielsagenden Begriffe „neu“ und „Innovation“ mit 37 bzw. 18 Nennungen vor „ausbauen“ des Bestehenden mit 15 Nennungen und weit dahinter liegen die anderen Begriffe. Die Botschaft lautet hier: Was bereits besteht ist nur im Ausnahmefall für die Zukunft tauglich. Was die Zukunft bringt wissen wir jedoch nicht. Die verbirgt sich hinter Begriffen wie „Industrie 4.0“ oder „Digitalisierung„. Dort, wo es dann konkret wird, tauchen alte Hüte wie z. B. „Meister-BAföG“ auf.
Die Intervention durch den Staat berührt grundsätzlich die Ideologie des „selbstregulierenden Marktes“ und ist in der Wahl der Instrumente berücksichtigt. Entsprechend schwach sind Ordnungsbegriffe wie verbieten, bekämpfen, kontrollieren und prüfen vertreten. Sie kommen zusammen 22 mal vor. Nimmt man noch „ändern“ hinzu, so sind es 29 Nennungen. Dagegen sind die stützenden Begriffe „fördern“ und „schützen„, die in der Regel keine strukturellen Veränderungen nach sich ziehen, mit zusammen 64 mal genannt. Es hat sich jedoch im Rahmen der Agenda 2010 gezeigt, dass z. B. auch „fördern“ bedeuten kann, dass sich dieses in sozialer Hinsicht keineswegs förderlich auf die damit „beglückten“ Menschen auswirken muss. Es ist also auch hier auf die Umsetzung und die Situation im Einzelfall zu schauen.
Begriffe, aus denen Grundhaltungen zur demokratischen Kultur und zum Verhandlungspartner abzuleiten sind kommen nur in geringer Zahl vor. Das hängt mit den eingangs angesprochenen Defiziten zusammen. Die für Koalitionsverhandlungen erforderliche Offenheit wird nur dreimal erwähnt und hierbei nur einmal mit Bezug auf den vorhandenen Wert einer demokratischen Gesellschaft und nicht einmal mit Bezug auf die Regierungsbildung. Vertrauen und Anerkennung werden lediglich fünf bzw. zwei mal erwähnt und keinesweg mit Bezug auf die Verhandlungen selbst. Dieses sind aber die Voraussetzungen, um überhaupt Verhandlungen auf Augenhöhe führen zu können.
Aus dem beschriebenen Defiziten ist bereits an dieser Stelle der Eindruck entstanden, dass die Gespräche zwischen den Unionsparteien und der SPD nicht unter gleichberechtigten Partnern geführt wurden und es drängt sich der Verdacht auf, dass die ermahnenden Worte des Bundespräsidenten an die SPD ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Daran schließt sich die Frage an, ob diese Ermahnungen eine Art Dankesgeschenk des Bundespräsidenten an Frau Merkel dafür sind, dass sie ihm die Wahl zum Bundespräsidenten ermöglicht hat.
Abschließend noch ein kurzer Blick auf die Bedeutung einzelner Politikfelder. Nach wie vor ist Arbeit das Leitmotiv politischen Handelns, wie es im Zuge der Agenda 2010 uni sono von allen Regierenden bis hinauf zum Bundespräsidenten verkündet wurde. Gerade in diesem Politikfeld sind jedoch neue Ideen gefragt, wie sie z. Zt. von der IG Metall in die Diskussion gebracht werden. Mit Abstand folgt das Thema Europa mit vielen Unwägbarkeiten und vielen unbestimmten Zielsetzungen. Weitere Schwerpunkte sind wirtschaftliche Themen und das Politikfeld Kinder und Familie. Am Ende stehen Ökologie, Umwelt– und Naturschutz. Darüber hinaus sprechen die Zahlen der Tabelle für sich selbst.
Aus meiner Überzeugung handelt die SPD keinesfalls verantwortungslos, wenn sie unter den dargelegten Bedingungen einer Koalition mit den Unionsparteien aus dem Wege geht. Voraussetzung ist jedoch, dass sie die daraus erwachsende Verpflichtung erkennt, nachvollziehbare und durchgreifende Vorschläge für neue Politikangebote zu machen, die in ein besseres Verhandlungspapier einmünden können und möglichen Koalitionspartnern zur Diskussion gestellt werden. Dabei könnte es sich bei realistischer Betrachtung der politischen Gesamtsituation gleichzeitig um ein Wahlprogramm zu wahrscheinlich bald anberaumten Neuwahlen handeln. Hierin liegt für die SPD aus meiner Sicht die einzige Chance, neue politische Größe und darüber hinaus neue Hoffnung und Sinngebung für die politische Landschaft Deutschlands und Europas zu gewinnen.