Die Ukraine in der Gegenoffensive

Seit der Veröffentlichung meines letzten Beitrags zum Thema „Ukrainekrieg“ hat es viele unterschiedliche Ereignisse gegeben, die unmittelbar oder mittelbar mit dem Krieg in der Ukraine in Verbindung stehen. Darunter sind solche dramatischen Ereignisse wie Zerstörung des Wasserkraftwerks Nowa Kachowka nahe der Stadt Cherson am 06. Juni, die Eröffnung des ukrainischen Gegenangriffs zur Rückeroberung russisch besetzter Gebiete in der Ostukraine und ein erneuter Angriff auf die Krimbrücke. Bereits in den ersten Tagen der ukrainischen Gegenoffensive wurde über erhebliche Verluste der Ukraine bezüglich zerstörter oder beschädigter schwerer Waffen berichtet, die nach Schätzungen von Militärexperten bis zu 20% des Bestandes ausmachen sollen. Darüber hinaus gibt es zu wenig Nachschub bei Munitionslieferungen durch die westlichen Unterstützerstaaten. Damit im Zusammenhang steht die nun – nach dringlichen Forderungen der Ukraine – durch die USA erfolgte Lieferung international geächteter Streumunition. Die Hauptlieferanten für Waffen und Munition in diesem Krieg, die USA und Russland wie auch die Ukraine haben die Streubomben-Konvention nicht unterschrieben und begehen deshalb keinen Verstoss gegen internationales Recht.

Die Zerstörung des Staudamms hat eine nicht genau bekannte Zahl von Todesopfern gefordert und eine riesige Evakuierungsaktion erforderlich gemacht, die unter erschwerten Bedingungen des Krieges durchgeführt werden musste. Inzwischen können die ökologischen Schäden und die Gefährdung durch fortgespülte Minen als langfristige Folgeschäden festgestellt werden. Auch das Atomkraftwerk Saporischschja rückte erneut in den Fokus der internationalen Öffentlichkeit. Nach dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive hat der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) bei einem Besuch der Atomanlage die Lage dort als „ernst“ bezeichnet. Duch die Zerstörung des Staudamms habe sich die Sicherheitslage weiter verschärft.

Es erübrigt sich fast zu betonen, dass für alle herbeigeführten Katastrophen gegenseitige Schuldzuweisungen der Kriegsparteien erhoben werden – dabei soll nicht vergessen werden, dass der Angreifer Russland ist, den damit eine generelle Schuld trifft. Darüber hinaus ist jedoch auch die politisch-moralische Wirkung mit zu bedenken, ohne die solche Schuldzuweisungen keinen Sinn ergeben würden. Gerade Russland als globaler Akteur im Wettkampf um die Gunst rohstoffreicher und strategisch wichtiger Länder in Südamerika (z. B. Brasilien), Asien (z. B. Indien) und Afrika, und als solcher Konkurrent gegenüber China und den USA, muss Interesse daran haben, jeden Anschein menschenfeindlicher und rassistischer Motive zu vermeiden. Gerade die Zerstörung von Symbolen des Fortschritts, wie es Kraftwerke und Staudämme sind, können Länder zu Zweifeln an der Verlässlichkeit des Partners Russland führen. Auch die Vorbereitung der Anklage gegen Russland durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und der in gleicher Sache erlassene Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Putin wegen Kindesentführung – besser gesagt Deportation – haben eine solche Wirkung und gäben sonst keinen Sinn, da sich auch in diesem Fall die beteiligten Staaten nicht dem internationalen Recht unterstellt haben.

Als weiteres Ereignis mit weitreichenden internationalen Wirkungen – politischen und lebensweltlichen – ist die Haltung Russlands zu dem von der Türkei zwischen Russland und der Ukraine vermittelten Getreideabkommens. Durch dieses Arrangement wurde es – trotz Krieg im Schwarzen Meer – ermöglicht, dass Schiffe mit ukrainischem Getreide vom Hafen Odessa auslaufen konnten um den Hunger in der Welt – insbesondere in Afrika – zu lindern. Die durch den Ausfall der ukrainischen Lieferungen geringeren Mengen werden voraussichtlich zu einer Erhöhung des Marktpreises für Getreide führen und weltweite Preiserhöhungen nach sich ziehen.

Am 11. Juli fand in der litauischen Hauptstadt Vilnius ein Gipfeltreffen der 31 Staats- und Regierungschefs statt. Wichtigste Tagungspunkte waren die Aufnahme Schwedens in die NATO, nachdem die Türkei die gleichzeitige Aufnahme des Landes mit dem bereits aufgenommenen Finnland blockiert hatte. Während der Tagung gelang es dem NATO-Generalsekretär Stoltenberg, durch einige Zugeständnisse Schwedens an die Türkei eine Einigung zu erzielen, so dass die Aufnahme Schwedens während der Tagung erfolgen konnte. Der zusätzlich eingeladene Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, vertrat die Forderung seines Landes nach mehr Munition und Waffen, löste hiermit jedoch Unverständnis der meisten NATO-Länder aus, die in diesen ständig wiederholten Forderungen eine Überforderung sahen und aufgrund der erheblichen Belastungen der eigenen Staaten eher Dankbarkeit erwarteten.

Wie abgeschirmt das russische Universum ist und wie unberechenbar die Reaktionen des Regimes Putin sind wurde am 23. Juni offenbar, als der Chef der in der Ukraine eingesetzten Söldnertruppe Wagner zum Aufstand und zum Marsch auf Moskau aufrief. Was daraufhin geschah, wird in der Wikipedia wie folgt beschrieben: „Vom 23. bis 24. Juni 2023 kam es vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine zu einem Aufstand der Gruppe Wagner in Russland. Jewgeni Prigoschin, Chef der paramilitärischen Organisation Gruppe Wagner, kündigte an, Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Generalstabschef  Waleri Gerassimow aus ihren Ämtern zu entfernen bzw. in einem „Marsch der Gerechtigkeit“ auf Moskau vorzurücken, sollten sie nicht freiwillig von ihren Machtpositionen zurücktreten. Am 24. Juni besetzte die Gruppe Wagner kampflos Militäreinrichtungen in Rostow am Don und rückte über Woronesch auf die russische Hauptstadt vor. Der russische Präsident Wladimir Putin verurteilte die aufständischen Bestrebungen als Verrat an Russland. Nach Vermittlungen durch den belarussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka brach Prigoschin am Abend des 24. Juni den Marsch auf Moskau ab; den Aufständischen sei Straffreiheit zugesagt worden; Prigoschin werde nach Belarus ins Exil gehen.“ Was daraufhin folgte kann nur aus unterschiedlichen Quellen rekonstruiert werden und kann keinen Anspruch auf Authentizität erheben. Rückschlüsse auf die militärische Lage in der Ukraine und die Machtstrukturen des Kreml daraus zu ziehen ist nicht angezeigt, da sie die Lage noch unübersichtlicher machen und auch einen Rückfall in die Kremlastrologie in der Zeit des „Kalten Kriegs“ bedeuten würde.

Die durch die Medien erzeugten Eindrücke vom Ukrainekrieg verdichten sich bei mir zu einem surrealen Gesamteindruck mit dem ukrainischen Präsidenten in olivgrüner Arbeitskleidung als Elefant im Raum, der rastlos die internationale Bühne bespielt und die sterilen Gespräche der staatstragenden Politiker mit Militärsprech infiziert. Das NATO-Treffen in Vilnius hat gezeigt, dass diese Auftritte Abwehrreaktionen bei den Anzugträgern erzeugen und damit eine demaskierende Wirkung erzeugen. Hatte die westliche Ukraine-Allianz die rhetorische Überrumpelung, mit der sich die Ukraine an die Spitze der europäischen Werteverteidiger setzte, eher stillschweigend hingenommen, so scheint nun der Zeitpunkt gekommen, die militärische, wie auch die politische Lage nüchterner einzuschätzen. Hierzu gehört auch der Eindruck, dass die Vertretung der Ukraine durch eine einzelne Person stattfindet, die damit in die Rolle des Gegenspielers zum russischen Autokraten gerät. Daran ist bemerkenswert, dass von Selenskys Seite auch keine Versuche unternommen werden, den Eindruck eines zumindest kollektiven Führungssystems aufrecht zu erhalten.

Dieser Eindruck bekommt eine Grundierung durch die widersprüchlichen und widersprochenen Berichte der Medien, die einerseits von massenhaften Opfern in den Städten mit Bildern massiver Zerstörungen berichten und andererseits der Logik chirurgischer Kriegführung – ganz im russischen Sinne – mit der Zählung einzelner Todesopfer (tragische Unfälle? Kollateralschäden?) folgen. Es zeigt sich hier, dass die von NATO-Militärs ausgebildete Führungsebene der ukrainischen Armee in ihrer Vorgehensweise ganz dem Konzept des „Embedded Journalism“ (integrierten Journalismus) folgt, der die berichtenden Journalisten zu Werkzeugen des Militärs macht und damit auch den die politischen Systeme übergreifenden Mythos von der „chirurgischen Kriegführung“ aufrecht zu erhalten. Damit wird dem russischen Kalkül entsprochen, mit der „Spezialoperation“ in der Ukraine könne der Einsatz militärischer Mittel an die militärische Philosophie des Westens angeknüpft werden und der Anschein des „Normalen“ gewahrt bleiben.

Offizieller Beitrag der Ukraine zur Biennale in Venedig 2022: PAVLO MAKOV,
 »Brunnen der Erschöpfung«  Er darf nicht versiegen

Die Situation der Ukraine wäre aus deutscher Sicht zu lückenhaft dargestellt, wenn der Blick der kulturellen Eliten ausgeblendet bliebe. Der britische Intellektuelle und Osteuropa-Kenner Timothy Garton Ash schreibt in seinem Buch „The Uses of Adversity“ (deutsch etwa „Der Nutzen von Widerständen“), die Intellektuellen Osteuropas erinnern uns daran „dass es auf Ideen, auf Worte ankommt, dass sie Konsequenzen haben. Es gibt Dinge, für die es sich zu leiden lohnt. Es gibt absolute moralische Werte.“ In einer Reportage des Journalisten Jörg Lau in der ZEIT berichtet er über die Intellektuellen in Kiew, die er als Begleiter von Garton Ash kennenlernte. Er berichtet unter anderem von der Eröffnung der ersten Kunstausstellung seit Kriegsbeginn, die unter dem Titel „Sieg der Würde“ steht. Sie wurde von der eleganten Besitzerin des bekanntesten französischen Restaurants in Kiew, „Citronelle„, im sonst geschlossenen Nationalen Kunstmuseum organisiert und führte nach Laus Worten den „schmalen Rest der feinen Gesellschaft“ zusammen. Die Hauptaktivitäten der verbliebenen Intellektuellen bestehen nach dem Tenor seiner Reportage in der Dokumentation der Greueltaten des Krieges und ihrer psychischen Bewältigung im Verbund mit der Neubewertung der ukrainischen Kultur in Abgrenzung zu Russland. Er zitiert das impulsive Statement des ukrainischen Philosophen Vakhtang Kebuladze: Russlandpolitik habe nur ein Ziel – dafür zu sorgen, dass die Russen ihre Nachbarn nicht mehr bedrohen können. „Ich gehe noch weiter. Wir müssen beginnen, uns eine Welt ohne Russland vorzustellen.“ Dem widersprach Garton Ashs, der eine globalere europäische Haltung formulierte und dem Verschwinden Russlands widersprach: „unsere Ukrainepolitik ist auf absehbare Zeit unsere Russlandpolitik„. 

Lau beendet seine Reportage mit der verständnisvollen Beobachtung zum gesellschaftlichen Rahmen der Vernissage: „Die schöne Frau Didkowska  (Anm.: die Besitzerin des Citronelle) hat eine Sonderedition ihres bevorzugten Champagners auflegen lassen, auf den Etiketten sind die Bilder der ukrainischen Künstler aus der Ausstellung zu sehen, auch das von Bilous (Anm.:  der Maler und Künstlerstar der Ausstellung, Mykola Bilous). Ein bisschen frivol fühlt es sich an, die Kiewer Gesellschaft beim Zuprosten zu sehen. Aber geht es beim Kampf der Ukraine am Ende nicht um das Recht auf Glück – um das Recht auf Momente des selbstvergessenen Genießens?

Doch auch in Deutschland reflektieren Künstler das Kriegsgeschehen in der Ukraine. Im Kölner Museum Ludwig läuft vom 03. Juni bis zum 24. September die Ausstellung

Alexander Bogomazow: Nachfeilen einer Säge, 1927

Ukrainische Moderne 1900-1930 & Daria Koltsova„. Die Ausstel­lung ver­sam­melt rund achtzig Gemälde und Ar­beit­en auf Pa­pi­er, die zwischen den 1900er und den 1930er Jahren ent­s­tan­den sind. Auf der Webseite zur Ausstellung heisst es u.a.:“Die Ausstel­lung stellt die Viel­s­tim­migkeit der kün­st­lerischen Stile und kul­turellen Iden­titäten in der Ukraine zu Be­ginn des 20. Jahrhun­derts dar. Sie konzen­tri­ert sich auf die Städte Kyjiw und Charkiw und erzählt die Geschichte der ukrainischen Kün­stler*in­nen der Mod­erne und ihr­er Ver­suche, auf un­ter­schiedlichen We­gen die kul­turelle Iden­tität und Ei­gen­ständigkeit zu prä­gen.“

Die Frankfurter Schirn Kunsthalle widmet der US-ameri­ka­ni­schen Konzept­künst­le­rin und Pionie­rin des kriti­schen Femi­nis­mus Martha Rosler eine Einzelausstellung, die vom 6. Juli bis zum 24. Septem­ber 2023 zu sehen ist. In der Pressemitteilung zur Ausstellung heisst es u.a. „Roslers poli­ti­sches Werk befasst sich mit Fragen von Macht, Gewalt und sozia­ler Unge­rech­tig­keit, mit Kriegs­be­richt­er­stat­tung sowie mit gesell­schaft­lich veran­ker­ten Frau­en­bil­dern und deren Dekon­struk­tion. Für ihre gesell­schafts­kri­ti­schen Foto­mon­ta­gen und Videos nutzt sie viel­fäl­tige Medien wie Foto­gra­fie, Text oder raum­grei­fende Instal­la­tio­nen.“ In einem aktuellen Interview mit der Kunstzeitschrift Art stellt sie ihre Arbeit in den Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine: 

ART: Ihre ersten Antikriegs-Fotomontagen aus der Serie House Beautiful: Bringing the War Home Mitte der sechziger Jahre haben Sie im Haus Ihrer Mutter am Esstisch gefertigt?

Martha Rosler: Ich sah in einer Boulevardzeitung ein inzwischen berühmtes Bild, das für mich alles veränderte. Es war das Foto einer jungen vietnamesischen Frau mit einem Säugling und Kindern, die in einem Fluss auf der Flucht waren. Ich hatte eine plötzliche Eingebung: Ich konnte mit Kriegsbildern die gleiche Montagestrategie einsetzen, die ich damals bereits für meine Fotomontagen über Frauendarstellungen verwendet hatte.

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Die Serie ist mit dem Krieg in der Ukraine wieder hochaktuell.

Nun, es scheint mir notwendig, den Menschen etwas zu zeigen, das ihre Sensibilität erschüttert. Die Welt wird üblicherweise vereinfacht dargestellt, als gäbe es nur Gut und Böse. Aber meiner Meinung nach gibt es nicht »die anderen« und uns. Es gibt nur uns. Selbst wenn wir die Handlungen anderer Gruppen oder Nationen massiv ablehnen müssen, vielleicht sogar mit Gewalt – wie es bei den Nazis notwendig war oder gegenwärtig gegen die Invasion der Ukraine. Trotz allem müssen wir die Teilung in Gut und Böse überwinden, sonst gibt es keine Zukunft.

Ist das der Grund, warum Sie damals wie heute den Krieg in die Wohnzimmer der Menschen bringen?

Es muss so nah wie möglich an Heim und Herd sein. Ich muss den Betrachter darauf aufmerksam machen, dass Krieg und Gewalt unsere eigenen sicheren Räume durchdringen und dass wir tief und direkt in diese Ereignisse verwickelt sind, egal wie weit wir entfernt sind.

Die beiden zitierten Beispiele für die Stellungnahmen des Kunstbetriebs zum Krieg in der Ukraine zeigen, dass es auch in der Zeit totaler Kommerzialisierung noch möglich ist, Signale in die Welt zu setzen.

 

 

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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