Integrale Kennzeichen ukrainischer Großstädte

Der Krieg in der Ukraine steht mehr denn je im Brennpunkt internationaler Politik, insbesondere der des Westens. Anzeichen hierfür sind die Rede der deutschen Außenministerin Baerbock im UN-Sicherheitsrat am 18. Juli, in der es um die Verurteilung des russischen Präsidenten für die Verschleppung Tausender Kinder aus der Ukraine ging, sowie der NATO-Gipfel am 11./12. Juli in Vilnius, wo eine kurzfristige Aufnahme der Ukraine in die NATO abgelehnt wurde. Zurück blieben ungelöste Perspektiven für die weitere Entwicklung der NATO und ihr Verhältnis zu Russland. Nur eines scheint erwartbar zu sein, eine weitere Aufrüstung und intensivierte Entwicklung neuer Waffensysteme. Davon lassen sich die Regierungen auch nicht durch einbrechende Wirtschaftsdaten und zunehmende Armut weiter Bevölkerungsteile abhalten. Umso unverständlicher sind vor diesem Hintergrund Umfrageergebnisse für die AfD, die sich bezüglich der Sonntagsfrage bei 20% stabilisiert haben und sie damit in den Umfragen zur zweitstärksten Partei hinter der CDU mit 28% machen. Aus meiner Sicht könnte die Ursache hierfür in einer Gegenhaltung zur CDU liegen, die insbesondere darin besteht, dass es in der AfD ernstzunehmende Bestrebungen gibt, eine verständnisvollere Haltung gegenüber China und Russland einzunehmen. Noch machen sich diese Bestrebungen an einzelnen Personen fest, sie sind jedoch Hoffnungsträger für jene CDU-Anhänger, die sich nicht von der MerkelCDU und ihrer Russland-Politik lösen können.

In diesem Beitrag möchte ich nach diesen Vorbemerkungen die Beobachtung der Entwicklungen in den ukrainischen Großstädten unter integralen Gesichtspunkten fortsetzen. Von dem Verhalten Russlands und der Ukraine in diesem Krieg wird es entscheidend abhängen, wie „vergiftet“ die politischen Nachkriegsverhältnisse in Europa sein werden. Zur Prognose der Entwicklungen in dieser Hinsicht können die Veränderungen der Werthaltungen und der Wirklichkeiten in den vier Quadranten Hinweise auf die Reaktionen in Russland als Angreifer und in der Ukraine als Angegriffener geben. Dabei habe ich bewusst die Bezeichnung „Opfer“ für die Ukraine vermieden, da dieses Wort auch die Ohnmacht der Menschen einschließt. Es geht aber hier gerade darum festzustellen, wieweit in der aktuellen Situation des Landes von Ohnmacht gesprochen werden kann. Darin einbezogen ist auch die politische Ohnmacht gegenüber der eigenen Regierung, die für das Schicksal des Volkes mitentscheidend ist.

Als geeignete Grundlage für Aussagen zu möglichen Handlungsoptionen der Menschen in der Ukraine haben sich die integralen Techniken der Spiral Dynamics und des AQAL-Ansatzes nach Ken Wilber bewährt. Das hier angewandte Verfahren habe ich an anderen Stellen in diesem Projekt beschrieben. Hier soll deshalb der Hinweis genügen, dass die Datengrundlagen durch Internetabfragen von Schlüsselbegriffen geschaffen werden, die ein nahezu geschlossenes System bilden und dadurch vergleichbar sind.

 Nachfolgend werden die Ergebnisse für die Großstädte der Ukraine bezüglich der Wertememe nach dem System der Spiral Dynamics und dem integralen Ansatz der AQAL nach Ken Wilber in grafischer Form dargestellt.

Grafik 1: Wertememe ukrainischer Großstädte, der Ukraine und Russlands auf der Basis von Internet-Abfragen in ukrainisch

In Grafik 1 sind die Wertememe für die 14 ukrainischen Großstädte – unabhängig von deren nicht genau bekannter aktueller Einwohnerzahl – und die Gesamtwerte für Russland und die Ukraine dargestellt. Die Daten in Grafik 1 wurden durch Abfragen in ukrainisch ermittelt und geben den Stand des letzten Monats (Mitte Juni bis Mitte Juli) wider.

Nahezu in allen Städten sind die WMeme Orange und Rot dominierend. Ausnahmen sind Sewastopol, Donezk, Dnipro und Kiew. Auch die Bilder für die beiden Staaten passen nicht in dieses Muster hinein. Russland stellt sich nahezu als vollkommen Blau bestimmtes Land dar, was unter Verwendung der ukrainischen Sprache nicht verwunderlich ist, die Ukraine erscheint jedoch ebenfalls  – wenn auch in erheblich geringerem Maß – durch Blau bestimmt. Auch dieses Bild der Ukraine ist plausibel, da ein Staat im Kriegsregime alle humanitär vertretbaren Ordnungsinstrumente einsetzen muss, um seine Existenz und die seiner Bürger zu erhalten. Das Ergebnis bezüglich Russland deutet jedoch auf ein ukrainisches Bild von Russland hin, dass eben die humanitäre Seite vermissen lässt und auf einen Dualismus von Gut und Böse hindeutet, bei dem das Böse in Russland zu sehen ist.

Die Situation in der Ukraine selbst stellt sich dagegen differenziert dar. Hier spielen Orange und Grün etwa gleich starke Rollen. In Orange kommt die starke Orientierung an westlichen Werten wie Persönlichkeitsentfaltung, Fortschrittsfähigkeit durch wissenschaftliche Bildung und Flexibilität zum Ausdruck. Das WMem Grün zeigt eine aufkommende soziale und ökologische Orientierung in den gesellschaftlichen Strukturen sowie eine aufkeimende Offenheit für spirituelle Praktiken an, wobei aufgrund der Relation zu einem nur wenig stärkeren Orange und einem im Vergleich zu der Mehrzahl der Großstädte schwachen Rot an die Möglichkeit zu denken ist, dass sich unter dem grünen Kleid getarntes Orange oder schlaues, gut geschultes Rot verbirgt, um seine Ziele – die Unterstützung des Volkes für den Krieg – zu erreichen.

Unter den Städten nimmt Sewastopol eine Sonderstellung ein, die sich in einem deutlich herausragenden Blau ausdrückt. Dieses Ergebnis ist mit großer Sicherheit auf die Rolle der Stadt als Heimathafen und Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte zurückzuführen. Im Zusammenhang mit dem aktuellen Kriegsgeschehen, das durch das ausgelaufene Getreideabkommen nun auch das Schwarze Meer zum Kampfplatz macht wird diese Bedeutung noch unterstrichen.

Eine weitere Sonderstellung nehmen die Städte Donezk und Dnipro ein, die in der aktuell umkämpften südlichen Region der Ukraine liegen. Bei der Stadt Dnipro handelt es sich um die viertgrößte Stadt der Ukraine, die über bedeutende Industrien und Technologien verfügt. Hieraus erklärt sich vermutlich der stark dominierende Anteil von Orange vor Blau und Rot, die gleich stark erscheinen, gefolgt von deutlich schwächerem Grün. Ganz anders dagegen stellt sich die Situation in Donezk dar. Aufgrund des herausragenden Rot kann davon ausgegangen werden, dass diese Stadt von der Gewalt des Krieges erfasst worden ist und ein zivilisiertes Leben stark eingeschränkt oder ganz unmöglich geworden ist. Donezk ist ebenfalls eine bedeutende Industriestadt und hatte vor dem Krieg über eine Million Einwohner.

Das deutlich aufkeimende Gelb kann Zeichen einer Einsicht in das Ende der industriellen Moderne und das Anbrechen eines neuen Zeitalters sein. Die vom Krieg zerstörte Landschaft ist nun mit den Trümmern der ersten sechs menschlichen Systeme von Beige bis Grün übersät und man spürt, dass die erfolgreichen Lebensweisen der alten Ordnung alles gefährden. Es deuten sich hierin möglicherweise jene Empfindungen an, die der Krieg auf sensible und spirituell aufgeschlossene Menschen haben kann, wie sie von Ernst Jünger in seinem Buch „In Stahlgewittern“ angedeutet wurden aber vor allem von dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin in seinen Kriegsbriefen verarbeitet wurden. Jünger sieht den Soldaten dem Geist des deutschen Idealismus verpflichtet und leitet seine moralische Pflicht gegenüber seinen Kameraden und seinem Volk hieraus ab, sieht diese aber im Widerstreit zum sich ausbreitenden Materialismus. Er schreibt: „Du kauerst zusammengezogen einsam in deinem Erdloch und fühlst dich einem unbarmherzigen, blinden Vernichtungswillen preisgegeben. Mit Entsetzen ahnst du, daß deine ganze Intelligenz, deine Fähigkeiten, deine geistigen und körperlichen Vorzüge zur unbedeutenden, lächerlichen Sache geworden sind. Schon kann, während du dies denkst, der Eisenklotz seine sausende Fahrt angetreten haben, der dich zu einem formlosen Nichts zerschmettern wird. Dein Unbehagen konzentriert sich auf das Gehör, das das Heranflattern des Todbringers aus der Menge der Geräusche zu unterscheiden sucht. Dabei ist es dunkel. Du mußt alle Kraft zum Aushalten aus dir allein schöpfen. Du kannst nicht einmal aufstehen und dir mit blasiertem Lächeln eine Zigarette anzünden, dich an den bewundernden Blicken deiner Kameraden aufrichtend. Du wirst nicht ermutigt durch deinen Freund, der sich das Monokel einklemmt, um einen Einschlag auf der Schulterwehr neben dir zu betrachten. Du weißt, wenn es dich trifft, wird kein Hahn danach krähen. Ja, warum springst du nicht auf und stürzt in die Nacht hinein, bis du in einem sicheren Gebüsch wie ein erschöpftes Tier zusammenbrichst? Warum hältst du noch immer aus, du und deine Braven? Kein Vorgesetzter sieht dich.

Und doch beobachtet dich jemand. Dir selbst vielleicht unbewußt, wirkt der moralische Mensch in dir und bannt dich durch zwei mächtige Faktoren am Platze: die Pflicht und die Ehre. Du weißt, du bist zum Kampfe an diesen Ort gestellt und ein ganzes Volk vertraut darauf, daß du deine Sache machst. Du fühlst, wenn ich jetzt meinen Platz verlasse, bin ich ein Feigling vor mir selbst, ein Lump, der später bei jedem Worte des Lobes erröten muß. Du beißt die Zähne zusammen und bleibst.

Dagegen stellt sich die Situation bei Teilhard als Erkenntnis eines höheren Sinnes dar, der den Krieg nicht zum „Vater aller Dinge“ macht, wie Jünger es im Vorwort seines Buches in der Urfassung schreibt. Teilhard schreibt: „Mir scheint, man könnte zeigen, dass die Frontnicht nur die Feuerlinie ist, die Korrosionsoberflache der Völker, die sich bekämpfen, sondern auch in gewisser Weise die »Front der Woge«, die die menschliche Welt ihren neuen Geschicken entgegenträgt. Wenn man nach einem bewegteren Tag beim Scheine der Leuchtraketen in die Nacht hinausblickt, scheint es, als befände man sich an der äußersten Grenze dessen, was verwirklicht ist, und dessen, was im Entstehen ist. Nicht nur die Aktivität erreicht dann etwas wie einen ganz stillen Paroxysmus (Anm.: analog zu einer Folge sich steigernder Vulkanausbrüche), der sie weit macht entsprechend dem großen Werk, an dem sie mitarbeitet, sondern auch der Geist beherrscht ein ganz klein wenig den totalen Marsch der menschlichen Masse, in dem er sich so weniger ertrunken fiihlt. In solchen Minuten lebt man im wahrsten Sinne des Wortes »kosmisch« – mit einem greifbaren Interesse, das so weit ist wie das Herz

Carl Gustav Carus: Mondscheinlandschaft

Teilhard beschreibt hier einen Prozess, der eine Transzendierung archaischer Gefühle der Unsicherheit darstellt. Mit solchen Prozessen hat sich die Psychoanalyse beschäftigt und sie definiert sie als Reaktionen, wie sie in Krisen auftreten. Der sperrige Begriff hierfür ist „Ambiguitätstoleranz“ und er hat vermutlich dafür gesorgt, dass er nicht zum Allgemeingut geworden ist. Je nach Bedrohungsgrad durch Unsicherheit kommt es von der Steigerung einzelner Emotionen wie Liebe, Hass, Wut und Enttäuschung, bis hin zur Schockstarre (Handlungsunfähigkeit), in der nur noch blinde Reaktionen möglich sind. Die archaischen Wurzeln des Gefühls von Unsicherheit werden bereits in den Mythen alter Kulturen und indigener Völker beschrieben und sind dem kollektiven Gedächtnis eingeschrieben. In ihrem Zentrum steht die Wahrnehmung der Nacht, die in vielfacher Hinsicht Gefühle der Unsicherheit hervorruft, wie sie von Kindern regelmäßig geäußert werden.

Ein überdurchschnittlicher Anteil des gelben WMems ist auch in den Profilen von Kiew, Odessa und Lwiw zu sehen und gibt Anlass zu der Hoffnung, dass sich hierin eine systemübergreifende Öffnung zeigt, die für die Aufnahme von Verhandlungen erforderlich ist.

Nachfolgend gruppiere ich zur besseren Lesbarkeit die Städte nach den dominierenden WMemen in der Reihenfolge ihrer Stärke:

Wie bereits oben erwähnt stellt Orange die Werte zur Verfügung, die für die europäisch geprägte Kultur prägend sind. In Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) sind sie für die Staaten, die ihr angehören oder in sie aufgenommen werden wollen bindend: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Minderheitenrechte. Es handelt sich um Städte, die außerhalb der Ostukraine liegen und bisher nicht im Schwerpunkt der Kämpfe lagen. Mit Ausnahme von Kiew sind in diesen Städten neben dem dominierenden Orange deutliche Anteile von Rot und Blau zu sehen, wobei Rot gegenüber Blau dominiert. Allein in Kiew als Hauptstadt und Machtzentrum ist Blau gegenüber Rot bestimmend. Bei allen sechs Städten sind deutliche Anteile von Grün vorhanden, am stärksten in Odessa und Winnyzja und am schwächsten in Krywyj Rih. Es kann in den Städten mit ausgeprägten Anteilen von Grün von relativ stabilen sozialen Bindungen und großer Aufgeschlossenheit für kulturelle Vielfalt und spirituelle Entwicklungen ausgegangen werden.

Die Gruppe der drei Städte mit zwei führenden Wertesystemen besteht aus Saporischschja, Mariupol und Luhansk. In allen Städten liegen Orange und Rot nah beieinander  und weisen ähnliche Profile mit deutlich ausgeprägten Beigeantelen auf. Übersetzt in eine politische Sichtweise stellen sich diese Städte als Kampfplätze dar, auf denen demokratische Strukturen einen Abwehrkampf gegen rohe Gewalt – militärisch oder strukturell – führen. Deutliche Anzeichen des aktiven Kampfes sind auch durch das deutliche Beige gegeben, dass den Überlebenswillen der orangenen Strukturen anzeigt.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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