Seit einem Monat hat sich die militärische Situation in der Ukraine nach den öffentlich zugänglichen Informationen nicht wesentlich verändert. In einer unzugänglichen Situation wie Krieg werden bereits die nicht eingetroffenen Vorhersagen zur militärischen Entwicklung zu Nachrichten, wie am Beispiel Bachmut in diesen Tagen zu lesen und zu hören ist. Überhaupt scheint gerade eine Phase grundsätzlicher Erörterungen zur globalen Entwicklung und der speziellen Entwicklung der Ukraine angebrochen zu sein. In diesen Szenarien spielt der seit dem zweiten Weltkrieg schwelende Konflikt zwischen Taiwan und der Volksrepublik China die Rolle eines Knotens, in dem sich die Zukunftserwartungen der westlichen Mächte verdichten. Daneben steht die bange Frage, welche Situation sich für den Westen aus einem Sieg Russlands oder einem Sieg der Ukraine über Russland ergibt, und was jeweils als Sieg oder Niederlage zu bezeichnen ist. Eine leitende Überlegung dabei ist der hohe Blutzoll, der von beiden Seiten gezahlt wird und schon jetzt erkennbar ist – er wird vielleicht über die Frage der Zugeständnisse in Friedensverhandlungen entscheidend sein. Und was wird sich bei dem einen wie dem anderen Ergebnis schließlich für die Sicherheit Europas als Ganzem ergeben? Möglicherweise werden alle diese Fragen durch die Wahl des amerikanischen Präsidenten entschieden, die zwar erst am 5. November 2024 stattfindet, jedoch ihren langen Schatten bereits jetzt sichtbar werden lässt. Als Schatten eines Schattens wird in den Medien häufig ein anzustrebender Termin für das Ende des Krieges im Herbst 2023 durch die Auguren der Medien anvisiert. Daraus ergibt sich die Frage, wer letztendlich über das Ende des Krieges entscheidet – sind es die USA als Hauptunterstützer der Ukraine, sind es die EU-Staaten als Teilhaber an der Sicherheitsarchitektur Europas oder ist es die Ukraine, als unmittelbarer und hauptbetroffener Staat? Eines kann schon jetzt festgestellt werden: Durch den Krieg sind die politischen Fragen vielfältiger und drängender geworden als sie es vor ihm waren und ein Sieger steht ebensfalls schon fest. Es wird Russland sein, das durch seine militärische Spezialoperation – und nicht etwa durch einen verlorenen Krieg – ein zerstörtes Nachbarland hinterlässt und die EU für Jahrzehnte in ein die Pflicht nimmt, die Ukraine wieder aufzubauen. Ob die USA dann noch bereit stehen, die Scherben, die mit ihrer Hilfe entstanden sind, aufzusammeln erscheint sehr fraglich.
Dieses Szenario vor Augen mag es tröstlicher für die EU sein, den Blick auf das ferne Taiwan zu richten, wo die USA eher selbst im Feuer stehen, wenn sich das aufbrechende China entschließt, nach Jahrhunderte währender Abstinenz über die Weltmeere auszuschwärmen.
Mit der Lieferung moderner westlicher Panzer und der Ankündigung einiger Natostaaten, Kampfflugzeuge an die Ukraine liefern zu wollen, sind die von der Ukraine an die westliche Welt gestellten Forderungen nach Waffenlieferungen – die insbesondere in Deutschland für heftige Kontroversen gesorgt hatten – vorerst aus den Schlagzeilen verschwunden.
Der scheinbare Stillstand militärischer Operationen, aus der Ferne wahrgenommen, täuscht darüber hinweg, dass die zerstörerische Wirkung im Kleinen anhält. Sie reichen von den explodierenden Minen – ukrainischer wie russischer -, die bei den Aufräumarbeiten in den von Soldaten verlassenen Gebieten stattfinden, bis zu den psychischen Schäden, die durch tagelanges Verharren in Kellern und schlaflose Nächte unter Explosionsgeräuschen entstanden sind und dem Verlust der Heimat. Diese Folgen werden noch lange spürbar sein und das politische Leben auch nach dem Krieg beeinflussen. Einen Eindruck hiervon können die Veränderungen in den Werthaltungen der Spiral Dynamics und den Quadranten der Integralen Theorie geben, die ich nachfolgend fortschreibe.
Zunächst gebe ich in Grafik 1 einen Überblick über die Gesamtsituation in der Ukraine und in Russland. Der Vergleich der Ergebnisse vom März mit denen vom April ist nicht 1:1 möglich, da die Daten vom März auf Internetseiten mit der Internet-Ländercode .ru bzw. .ua beschränkt war, im April jedoch lediglich die sprachliche Einschränkung auf die Landessprache zugrunde lag. Hieraus ergibt sich einerseits die Möglichkeit, ein komplexeres Bild der Verhältnisse zu erfassen, wobei die zeitliche Komponente allerdings vernachlässigt wird.
In der Ukraine ist die Situation durch das WMem Rot bestimmt. Hierin drückt sich das Lebensgefühl der Menschen in der Ukraine wie auch der Flüchtlinge in westlichen Ländern aus, die sich der unberechenbaren Gewalt von egozentrischen Gewaltherrschern ausgesetzt sehen. Das für eine – wie immer geartete – Ordnung stehende Blau folgt mit großem Abstand und lässt den Schluss zu, dass die staatliche Ordnung in der Ukraine insgesamt weitgehend wirkungslos ist. An dem unterschiedlichen Verhältnis der WMeme Blau und Rot zueinander lässt sich im Zeitvergleich das große Gewicht der Zivilgesellschaft und der Flüchtlinge der Ukraine ermessen, dass die roten Kommandostrukturen – militärische oder oligarchisch-politische – repräsentiert. Dem steht ein schwaches zivilgesellschaftlich-demokratisch orientiertes Orange zur Seite. Unter diesen Gegebenheiten ist das gegenüber Blau nahezu gleich stark ausgeprägte Grün als Lichtblick für einen politischen Neuanfang nach dem Krieg zu werten. Der Einfluss der Flüchtlinge macht sich ebenfalls in einem doppelt so starken Anteil von Beige gegenüber dem Ergebnis vom März bemerkbar. Auch im Verhältnis von Gelb zu Türkis hat sich eine Verlagerung der Gewichte ergeben, die zu einem etwas stärkeren Türkis geführt hat. Das im März noch zu sehende magisch-mythische Purpur ist im erweiterten Bild des April nicht zu sehen, vermutlich weil durch die Flucht vieler Menschen die mit Purpur verbundenen Hoffnungen gegenstandslos geworden sind.
Die Verschiebungen zu Gunsten von Grün durch Verluste in Blau, Gelb und Orange sind möglicherweise durch die in den letzten Wochen stattgefundenen Besuche westlicher Politiker (u.a. US-Präsident Biden, EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen, Vizekanzler Habeck, NATO-Generalsekretär Stoltenberg) zurückzuführen.
Ein Blick auf die Wertewelten in Russland zeigt, dass dort vergleichsweise größere Verschiebungen eingetreten sind, die bisher noch nicht an die politische Oberfläche gelangt sind. Einige politisch motivierte spektakuläre Festnahmen und Verurteilungen in den vergangenen Wochen können neben dem erweiterten Datenpool eine zusätzliche Reaktion bewirkt haben. Offensichtlich ist die politische Führung in Russland dünnhäutiger geworden und reagiert heftiger auf kritische Stimmen.
In Russland ist in dem erweiterten Bild das nationalistisch geprägte Gemeinschaftsgefühl erheblich schwächer ausgeprägt. Neben den oben erwähnten Änderungen in der Datengrundlage werden auch die in die Nachbarländer geflohenen sowie die seit längerem im Ausland lebenden Russen zu diesem Ergebnis beitragen.
Die gravierendsten Veränderungen in dem neuen Bild zeigen auch in Russland einen dominanten Anteil des WMems Rot zu Lasten von Grün und Blau. Daraus folgt ein annähernder Gleichstand von Rot, Blau und Grün, wobei Rot die größte Aufmerksamkeit verdient. Es kann vermutet werden, dass auch in Russland ein Bewusstsein vom Krieg als Gefahr durch unberechenbare Machthaber vorhanden ist. Das nahezu gleich starke Blau kann als Gegengewicht dazu gesehen werden. Entscheidend wird jedoch der Verlust an nationaler Identität sein, die sich nun auf rote Oligarchen überträgt. Hieraus werden Herausforderungen für die blauen Ordnungsstrukturen erwachsen, die zu heftigen Reaktionen (siehe oben) führen können. Bemerkenswert ist nun das deutlich sichtbare magische Purpur, in dem ein Beleg für die Hoffnungen der Menschen auf ein persönliches Überstehen der Krise gesehen werden kann.
Strukturell haben sich die Wertewelten der Russen an die Ukraine angenähert. Das gilt insbesondere für das Verhältnis von Blau, Orange und Grün zueinander. Auch das ist eine Folge des Krieges, die diametral der russischen Kriegspropaganda entgegen steht und weder einer Annäherung an die EU noch dem russischen Interesse an einer Wiederherstellung des russischen Imperiums entgegen kommt.
Im Vergleich der Quadranten ist für die Ukraine festzustellen, dass sich in der erweiterten Perspektive ein Bild ergibt, dass sehr nah an einer theoretischen Gleichverteilung in den Quadranten heranreicht. Der Unterschied zum März ergibt sich ausschließlich aus der Angleichung der rechten Quadranten (rationale Welt) mit dem unteren linken Quadranten (kulturelle Welt). Das neu entstehende Bild ist für die westlichen europäischen Länder nicht typisch, da hier in der Regel die kulturellen Aspekte überwiegen. Es ist zu vermuten, dass die erhöhte Rationalität in der Ukraine dem auf strikten Regeln basierenden militärischen Vorgehen geschuldet ist, von dem die in relativer Sicherheit lebenden Auslands-Ukrainer und die Bewohner der Westukraine garnicht oder nur schwach betroffen sind.
Das neue Bild der russischen Welt zeigt nun Defizite in den linksseitigen Quadranten, die das individuelle und kollektive Leben der Menschen betreffen, gegenüber der stark hervortretenden rationalen Sicht, wie sie besonders in autoritären und militärisch hoch entwickelten Staaten typisch ist. Von einer strukturellen Ähnlichkeit zur Ukraine kann hier nicht gesprochen werden.
Das Quadrantenbild ergibt in der Zusammenschau mit den Wertewelten der Spiral Dynamics mehr Klarheit in der Frage, welche horizontalen Strukturen (Quadranten) Träger der vertikalen (Werte-) Entwicklung sind. Im Klartext heißt das: Die beiden dominierenden Wertememe Blau und Rot nutzen die in den rechten Quadranten verfügbaren Ressourcen des wissenschaftlich-technischen Vermögens in der Entwicklung personaler Fähigkeiten (oberer rechter Quadrant) und kollektiver (unterer rechter Quadrant) Potentiale. Genau dieses sind die Fähigkeiten, die für die Kriegführung benötigt werden. Dieses vorausgesetzt bedeutet das Ergebnis der Ukraine eine Schwäche, die nach Lage der Dinge durch die Hilfe anderer Staaten ausgeglichen werden muss.