Wie Putins „Spezialoperation“ die Ukraine zerstört (I)

3. Quadrantenvergleich im Zeitverlauf

Ziel dieses Beitrags ist unter anderem, einen Eindruck von der Wirkung des Krieges auf die Ukraine zu gewinnen. Vom russischen Präsidenten wurde dieser Krieg als „Spezialoperation“ bezeichnet – das klingt nach der Wiederherstellung eines Patienten durch chirurgische Maßnahmen. Es ist deshalb bedeutsam benennen zu können, was die russischen Truppen wirklich mit dem Land machen. Es ist schon jetzt absehbar, dass hier neue Kategorien des Krieges geschaffen werden, wie es auch in anderen Kriegen der letzten Jahrzehnte der Fall war, nur hat man die Bezeichnung „Krieg“ in der Benennung des Waffenganges durch die Angreifer bisher nicht unbedingt gescheut. Diese Kriege hießen dann z. B. „Krieg gegen den Terror“ oder „Befreiungskrieg„. Die große Wende der Namensgebung erfolgte durch die Bezeichnung „arabischer Frühling“ für verschiedene Bürgerkriege und Revolutionen in den arabischen Ländern. Eine Sonderstellung nimmt der „Palästinakonflikt“ ein, der zur Mutter vieler Kriege gekürt wurde und daher einen eigenen Namen rechtfertigt.

Für die Darstellung der Kriegsfolgen innerhalb der Ukraine ist eine Zeitachse notwendig, die nur soweit möglich ist, wie die Einstellmöglichkeiten der verwendeten Suchmaschinen reichen. Konkret bedeutet das für dieses Projekt den Wechsel von der bisher benutzten Suchmaschine Google zur Meta-Suchmaschine MetaGer und die dort gegebene Zeitskalierung auf das zurückliegende Jahr bzw. bzw. den zurückliegenden Monat. Dieser Wechsel wurde notwendig, da die Abfragen in diesem Umfang durch Google praktisch unmöglich gemacht werden, und MetaGer demgegenüber den freien Zugang zu seinen Daten ermöglicht.

Mit der zweiten Untersuchung des Stellenwerts der Kriterien ist gegenüber der eingangs dargestellten Beschreibung auf der Grundlage von Quadranten eine breitere Datenbasis gegeben, da sie mit grundlegenden Schriftsymbolen wie den Personalpronomenich„, „wir“ und „es“ operiert. Hinsichtlich der quantitativen Aussage über die Repräsentanz in der Ukraine hat diese Untersuchung größeres Gewicht. In qualitativer Hinsicht für das jeweilige Kriterium ist der ersten Untersuchung der Vorrang zu geben. Eine Aussage zu dem Kriterium „Europa“ könnte beispielsweise so lauten: „Wir haben in dieser Bedrängnis durch Russland größere Unterstützung durch Europa erwartet. Es lohnt nicht, weiter auf diese Karte zu setzen, wenn auch seine Werte wie persönliche Entwicklung und Erfolg und die Aussichten auf Wohlstand verlockend sind.“ Es sollte also zwischen der Kriegssituation (Datenbasis: Quadranten) und den Werteversprechen Europas (Datenbasis: WMeme) unterschieden werden.

In der folgenden Grafik 3 werden die vier Quadranten nach der Integralen Theorie dargestellt. Dabei sind die beiden rechten Quadranten aus methodischen Gründen zusammengefasst. Die wesentliche Aussage innerhalb des Theoriegebäudes bleibt trotzdem erhalten, da die Grundstrukturen des gegenwärtigen Weltsystems – der Reduktionismus der linken Quadranten auf die rechten Quadranten – nachvollziehbar ist und damit auch eine Verbindung mit den Lehren der „philosophia perennis“ ermöglicht und darüber hinaus an systemtheoretische Darstellungen moderner Philosophen anknüpft. So entspricht die rechte Hälfte des Quadrantenmodells der Welt I (die objektive Welt des Es), der obere linke Quadrant der Welt II (die subjektive Welt des Ich), und der untere linke Quadrant der Welt III (die kulturelle Welt des Wir), in Karl Poppers Drei-Welten-Lehre. In Folge der Reduktion ihrer geistig-psychischen Anteile auf die materiellen Korrelate wird eine fragwürdige Objektivität dieser Fähigkeiten suggeriert, die durch den  linken und rechten Quadranten verkörpert wird. Das geschieht z. B. in der Hirnforschung (oberer rechter Quadrant) oder in der Sozialforschung, wo spirituell begründete Verhaltensweisen auf sozial sinnvolles Verhalten zurückgeführt wird (unterer rechter Quadrant).

Zunächst werden die Gewichte der einzelnen Kriterien in der Balkengrafik 3 dargestellt. Die angegebenen Werte beziehen sich auf die Gesamtheit der Kriterien und haben keinen festen Stellenwert. Sie geben lediglich einen Eindruck von der Bedeutung, die das jeweilige Kriterium in dem gegebenen Zeitraum innerhalb der Gesamtheit der Kriterien hat. Die mit 1 und 2 indizierten Kriterien stehen dabei für das vergangene Jahr (1) und den vergangenen Monat (2) und geben eine Entwicklungstendenz an.

Grafik 3

Unter den 29 Kriterien haben fünf eine herausgehobene Bedeutung. In der Reihenfolge handelt es sich um „Ukraine“ (Rang 1 in Grafik 3), „Russland“ (Rang 2 in Grafik 3), „Wissenschaft“ (Rang 3 in Grafik 3), „Technik“ (Rang 4 in Grafik 3) und „Kultur“ (Rang 5 in Grafik 3). Bei diesen Kriterien sind starke Beziehungen zum Krieg vorhanden. Die an der Spitze stehenden Länder stehen für den Gegenstand und Anlass des Krieges, erweitert durch den qualifizierenden Begriff der Kultur. Die hohe Bedeutung der Kultur ergibt sich unter anderem aus den Verlautbarungen des russischen Präsidenten, die den von den USA geprägten westlichen Liberalismus als Strategie zur Zersetzung national-völkischer Kulturen darstellt. Als Putins Ideengeber wird häufig der neu-rechte russische Philosoph Alexander Dugin angesehen. Die von Putin gewählte Bezeichnung „Spezialoperation“ für seinen Krieg deutet möglicherweise auf diesen Hintergrund hin.

Panzerhaubitze 2000 im Afghanistan-Einsatz

Die beiden miteinander verbundenen Kriterien Wissenschaft (Rang 3 in Grafik 3) und Technik (Rang 4 in Grafik 3) stehen für Fortschritt und weisen darauf hin, dass der von der Ukraine geführte Abwehrkampf in hohem Maße auf der Anwendung rationaler Erkenntnisse basiert. Die eindringlichen Forderungen des ukrainischen Präsidenten Selenskyj unterstreichen die Bedeutung, die der Militärtechnik in diesem Krieg zukommt, da dieser Krieg auch als Krieg der technischen Systeme bezeichnet werden kann. Dem stehen Drohungen der russischen Regierung gegenüber, auf die technische Ertüchtigung mit nicht näher spezifizierten Waffensystemen zu antworten – bis hin zum Einsatz von Atomwaffen. In diesem Zusammenhang ist auch auf die aktuellen Auseinandersetzungen um das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja – das größte Atomkraftwerk Europas – hinzuweisen.

Hinsichtlich ihres Wandels in der Zeit ist für die beiden Länder ein deutlicher Rückgang ihrer Bedeutung festzustellen. Ursache hierfür können die anfänglichen Erwartungen beider Seiten sein, die angesichts der hohen materiellen und personellen Überlegenheit der russischen Armee von einer schnellen Entscheidung ausgegangen waren und im Laufe der Ereignisse und der Reaktionen der Staatengemeinschaft zu einer Ernüchterung geführt haben. Dafür spricht auch die deutliche Zunahme der Bedeutung des Kriteriums „Frieden„, das den 8. Rang in der Übersicht einnimmt.

Weitere 8 Kriterien nehmen einen mittleren Rang ein. Es handelt sich um „Ernährung„, „Wirtschaft„, „Frieden„, „Beruf„, „Schule„, „Europa„, „Gewalt“ und „Natur„. Der Rest von etwas mehr als der Hälfte der Kriterien rangiert unterhalb der 2%-Marke. Hiervon sind 9 aufgrund ihres Zahlengewichts noch darstellbar, so dass am Ende 7 Kriterien als bedeutungslos angesehen werden müssen – allerdings nur im statistischen Sinn! Es betrifft „Reichtum„, „Armut„, „Arbeit„, „Oligarch„, „Putin„, „Brüderlichkeit“ und „Gleichheit„. Mit diesen Kriterien sind die materiellen Verhältnisse der ukrainischen Bevölkerung und das soziale Miteinander angesprochen. Mit den Kriterien „Oligarch“ (Rang marginal in Grafik3) und „Putin“ (Rang marginal in Grafik 3) sind zwei Machtfaktoren benannt, die in der Ukraine nicht sichtbar in Erscheinung treten. Zu dem erstgenannten Komplex materieller Verhältnisse ist anzunehmen, dass die unmittelbare Bedrohung von Leib und Leben durch den Krieg so stark empfunden wird, dass ethische Fragen durch Angst weitgehend verdrängt werden, obwohl z. B. große Armut herrscht. Darüber hinaus sind Situationen unmittelbarer Gefahren Momente, in denen ethisches Verhalten nicht berichtet oder diskutiert wird, sondern sich praktisch bewährt. Der Managern wohl bekannte Buchtitel „Tue Gutes und rede darüber“ kann dort, wo das Einzelereignis zum Normalfall wird, abgewandelt werden zu „Tue Gutes und rede nicht darüber„.

Die Ignoranz, die sich bezüglich der Machteliten in der Ukraine und Russland zeigt, deutet auf magisches Verhalten hin, wie es im Verschweigen der Namen von Tyrannen eine lange geübte Tradition hat. Sie wurde bereits in alten Hochkulturen praktiziert und als Damnatio memoriae (lateinisch für „Verdammung des Andenkens“) bis in die Gegenwart praktiziert. Es bedeutet die Verfluchung und demonstrative Tilgung des Andenkens an eine Person durch die Nachwelt, die hier auf noch Lebende erweitert wird und so eine Modernisierung im Mythos des Zombies erfährt. In seiner Anwendung verfügen die Länder der ehemaligen Sowjetunion über einschlägige Erfahrungen. Im Vorgriff auf Ergebnisse, die zu einem späteren Zeitpunkt in Teil II vorgestellt werden, gibt es Hinweise darauf, dass die Kriterien „Konsum“ und „Wirtschaft“ starken Einflüssen des magisch-animistischen WMems Purpur unterliegen.

Die Entwicklungsrichtung der in der mittleren Gruppe angesiedelten Kriterien zeigt für alle 8 Kriterien zunehmende Tendenzen, d. h. größere Sorge um Ernährung, benötigte Güter, Frieden, Ausübung des Berufs, Besuch der Schule, Hilfe von Europa, Natur. Lediglich das Kriterium „Gewalt“ ist nicht eindeutig interpretierbar, es kann sowohl dem Abbau von Aggression dienen, wie auch der Angst vor Gewalt Ausdruck geben.

Diese Ergebnisse lassen erkennen, dass sich mit zunehmender Bedrohung durch Gewalt physischer und psychischer Art Reaktionen der Menschen einstellen, die einer verbalen Bewältigung des Mangels entsprechen. Es ist davon auszugehen, dass es eine abgestufte Reaktionsfolge gibt, wobei die Verbalisierung die erste Reaktion sein wird, gefolgt von verschiedenen Reaktionen, die von den persönlichen und örtlichen Gegebenheiten abhängen. Dazu gehören Flucht, gegenseitige Hilfe, Versorgungsfahrten, psychische Reaktionen und extreme Überlebensreaktionen bis hin zum Kannibalismus.

Grafik 4

In Grafik 4 sind die Quadranten einzeln ablesbar. Hier sind auch die Verschiebungen zwischen den Quadranten im Zeitverlauf zu verfolgen. Auf diese Verschiebungen gehe ich – soweit sie aussagekräftig sind – ein.

Im Kriterium „Beruf“ (Rang 9 in Grafik 3) ist es zu einer gravierenden Gewichtsverlagerung innerhalb der Quadranten von dem dominierenden UL-Quadranten (Wir) zu dem individuellen OL-Quadranten (Ich) gekommen. Dieser Vorgang deutet darauf hin, dass der Beruf als traditionelle Grundlage des Selbstkonzepts und Vermittler des Ansehens in der Gesellschaft weitgehend verloren gegangen ist. Die Ursachen hierfür liegen mit hoher Wahrscheinlichkeit in der berufsfremden Verwendung der arbeitenden Bevölkerung in kriegswichtigen Tätigkeiten. Möglicherweise spielt auch die Anpassung an westeuropäische Entwicklungen – in denen im Zuge des Neoliberalismus teilweise vom Berufskonzept Abstand genommen wurde – eine zusätzliche Rolle. Der weitgehende Verlust der berufsvermittelten Identität und das Zurückgeworfensein auf das Ich kann zu psychischen Komplikationen führen.

Das vom OL-Quadranten dominierte Kriterium „Schule“ (Rang 10 in Grafik 3) hat eine Aktivitätsverlagerung vom OL-Quadranten zum UL-Quadranten erfahren. Hierin kommt die Bedrohung der Schule durch Raketenbeschuss und die Erfahrung gemeinsam erlittener Not zum Ausdruck. Es bewahrheitet sich damit auch unter dem modernen Zeitgeist der Individualisierung die uralte Erfahrung, dass Not zusammenschweißt.

Ein besonders auffälliges Ergebnis liegt für die beiden Kriegsparteien – die Kriterien „Russland“ (Rang 2 in Grafik 3) und „Ukraine“ (Rang 1 in Grafik 3) – vor. ihre Quadrantenbilder unterscheiden sich nicht so erheblich, wie es aufgrund der Kriegsrhetorik in den Medien zu erwarten wäre. Sowohl Russland wie die Ukraine zeigen eine moderate Dominanz in den rechten Quadranten an, die dem materialistischen Regime des Krieges entspricht. Im Zeitverlauf hat dabei eine etwas stärkere Zunahme im Bezug auf die Ukraine stattgefunden. Hierin drückt sich wahrscheinlich die technische Aufrüstung der ukrainischen Armee aus, die sich damit stark an den Stand Russlands annähert. Während für die Ukraine im OL-Quadranten ein Gleichstand festzustellen ist hat bezüglich Russland eine deutliche Verlagerung vom UL-Quadranten zum OL-Quadranten stattgefunden. Dieses Ergebnis entspricht Medienberichten, dass die Kampfmoral der russischen Soldaten nachlässt.

An den Ergebnissen zeigt sich, dass trotz der unmittelbaren Bedrohungslage auch globale Entwicklungen wahrgenommen werden. Die für die Wissenschaft (Rang 3 in Grafik 3) aussagekräftigen rechten Quadranten haben im Kriterium „Klimawandel“ (Rang marginal in Grafik 3) deutlich an Dominanz zugenommen und reichen nahezu an die rechnerische Idealverteilung der Quadranten (50%) heran. Darüber hinaus hat auch eine geringere Verlagerung von UL nach OR stattgefunden, die ein Hinweis auf eine zunehmende individuelle Umweltverantwortung ist.

Zusammen mit den Werten Freiheit (Rang marginal in Grafik 3) und Gleichheit (Rang marginal in Grafik 3) wurde die Brüderlichkeit (Rang marginal in Grafik 3) – und somit das Motto der Französischen Revolution – in den Kriterienkatalog aufgenommen. Lediglich das Kriterium „Freiheit“ erreichte in der Übersicht eine beachtliche Größe. Unter dem Gesichtpunkt der Dynamik ist jedoch einzig die Brüderlichkeit von Bedeutung. Sie entwickelte sich im Verlauf des Krieges von einer nahezu homogenen Verteilung der Quadranten zu einer Dominanz der rechten Quadranten. Diese Entwicklung führte zu einer gleichmäßigen Reduktion der linksseitigen Quadranten. Die Interpretation dieser Entwicklung ist nahezu zwingend in der Feststellung zu treffen, dass mit dem Krieg in starkem Maß die in der Vergangenheit gepflegte Brüderlichkeit in das kollektive Bewusstsein getreten ist, vielleicht mit der Erwartung verbunden, ein kurzes Kräftemessen ohne Opfer der Zivilbevölkerung werde die über nahezu ein Jahrzehnt eingefrorene militärische Konfrontation beenden.

Von den beiden anderen Kriterien der bürgerlichen Revolution ist die Gleichheit hervorzuheben. Sie fällt durch eine starke Zunahme des OL-Quadranten auf. Dieser Wert spielt unter Bedingungen des Kriegs eine besondere Rolle, da er die Rollenverteilung der Zivilgesellschaft für eine begrenzte Zeit aufhebt und neue Chancen für die persönliche Entwicklung bringt. Jedoch ist der Preis hierfür sehr hoch, und manche zahlen ihn mit ihrem Leben. Dieser Preis kommt in der Freiheit als drittem Wert der revolutionären Trias zum Ausdruck. Sie zeigt deutlich schwächeres Wachstum als die anderen verbundenen Kriterien.

Als Besonderheit ist im Bild der Kriterien auf zwei rechts dominierte Kriterien hinzuweisen, die im Zeitverlauf relativ stabil bleiben. Es handelt sich um die bereits oben erwähnte Technik (Rang 4 in Grafik 3) und die ukrainische Kultur (Rang 5 in Grafik 3). Sie erreichen beide das Niveau, dass sich rechnerisch bei einer Gleichverteilung in den Quadranten ergibt. Hinsichtlich der Kultur besteht neben ihrer historischen Grundierung eine bindende und gemeinschaftsstiftende Wirkung, die weitgehend auf die populistische Selbstdarstellung von Akteuren zu verzichten scheint. Für die Technik gilt das nicht. Hier besteht in allen Quadranten eine dem rechnerischen Idealmuster entsprechende Verteilung.

Wie wichtig für eine Gesellschaft scheinbar ewig gleich bleibende Einrichtungen und Werte sein können, wird gerade durch den Tod der englischen Königin Elisabeth II. bewusst gemacht. In der deutschen Politik waren es nach dem zweiten Weltkrieg die Rentenpolitik und die Atompolitik, die auf einem überparteilichen Konsens beruhten, bevor die Entwicklung durch höhere Gewalt und unvorhersehbare Ereignisse zur Neuausrichtung zwang. Auch in der Ukraine gibt es offensichtlich Bereiche, die trotz des Krieges Konstanten bilden, die zumindest über das vergangene Halbjahr konstant erscheinen. Hierzu gehören in besonderem Maß die Idee des Fortschritts (Rang marginal in Grafik 3), die Freizeit, die Gewalt, die Ernährung, die Künstler, die Bildung, die Natur und die Familie.

Mehr Fortschritt (Rang marginal in Grafik 3) wagen“ lautet das Motto der gegenwärtigen Regierungskoalition in Deutschland aus SPD, GRÜNEN und FDP. Die Bedeutung dieses als Aufruf zu verstehenden Mottos erschließt sich aus der Geschichte des modernen Fortschrittsbegriffs, die eng mit der im 17. Jh. begonnenen Entwicklung der auf Experimente und Berechnungen gestützten Wissenschaft verbunden ist. Ihre Dynamik entsteht aus dem Versprechen, den Menschen zunehmend Glück und Zufriedenheit zu schenken. Fortschritt ist das Mittel, den Menschen aus der Vorbestimmung durch höhere Mächte zu befreien und ihn zu befähigen, seinen Lebensweg selbst zu bestimmen. In der Unübersichtlichkeit der so entstehenden vielen Wege bemerkt er erst in seinen Krisen, dass er in einem Labyrinth steckt, aus dem ihn niemand befreien kann, außer er selbst. Diese Erkenntnis wächst gegenwärtig angesichts globaler Krisen und bietet neue Möglichkeiten für Heilsversprechen, die nun politisch motiviert sind und lediglich neue Wege in dem Labyrith eröffnen und die Verwirrung nur noch größer machen. Aus diesen Irrungen und Wirrungen geht die Erkenntnis hervor, die in der Wikipedia so formuliert ist: „Es gibt keine allgemein anerkannte Definition des sehr unterschiedlich konnotierten Begriffs; eine spezifischere, aktuell anmutende Definition lieferte etwa der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Ferdinand Tönnies 1926, der Fortschritt als zunehmende Überwindung von Mangelzuständen ansah.[1] Gegenbegriffe sind Rückschritt oder Stillstand.“ Die Elastizität des Begriffs macht ihn zum idealen Schlagwort für politische Kampagnen und lädt sich immer neu aus Mangelzuständen auf, die mal von dieser Partei und dann wieder von der anderen Partei herbeigeführt wurden. Die Situation in der Ukraine zeigt, dass diese Prozesse auch nicht in Kriegszeiten zum Stillstand kommen obwohl die zunehmende Zerstörung eher für die Gegenbegriffe steht. Scheinbar hat sich der Begriff des Fortschritts als Metapher für den unaufhaltsamen Strom der Zeit durchgesetzt, dem sich der Mensch unterzuordnen hat. Eine treffendere Bezeichnung für diese Auffassung wäre allerdings „Fatalismus„.

Ein nicht weniger dehnbarer Begriff ist „Freizeit“ (Rang marginal in Grafik 3). Allgemein wird sie als Gegenbegriff zur Arbeit (Rang marginal in Grafik 3). empfunden. Versuche zu einer positiven Definition müssen zwangsläufig ausufern – soweit wie die vielfältigen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung reichen. Es sollte in Zeiten des Krieges allerdings bewusst werden, dass die Negativumschreibung des Begriffs die vielen Missbrauchsmöglichkeiten des Begriffs verschleiern. So manches Hobby in der „Freizeit“ hat sich schon zum Zweitberuf oder zum Nebenverdienst ausgeweitet. Hierzu gehören auch Freizeitsoldaten, die nach der beruflichen Arbeit in ihre Uniformen steigen und sich bewaffnen um im Rahmen von Bürgerwehren oder – wie in der estnischen Armee – dem Kaitseliit tätig zu werden. Solche Formationen haben in der Regel Freiwilligencharakter und weitgehende Selbstbestimmung. Sie unterliegen jedoch kaum einer demokratischen Kontrolle und können auch zum Problem staatlicher Macht werden.

Henri Rousseau: Der Krieg

An den Begriff der Freizeit schließt sich der ebenfalls stabile Stellenwert der Gewalt (Rang 12 in Grafik 3) an. Er spielt im Krieg eine Hauptrolle und prägt die Aufgabenwahrnehmung der Regierung. Er bezieht alle Maßnahmen des Staates ein, die gegenüber Bürgern angewandt werden. Der Krieg führt Demokratien an ihre Grenzen und ist häufig ein Übergangsstadium zu autoritären Staaten. Auch unter parlamentarischer Kontrolle macht der Staat von seinem Gewaltmonopol Gebrauch (Polizei, Ordnungskräfte, Hilfsdienste, Geheimdienste). Gewalt gehört somit zum Wesensgehalt eines Staates und nimmt unter Kriegsbedingungen erwartungsgemäß zu. In der Ukraine ist eine moderate Zunahme jedoch auf den OL-Quadranten beschränkt.

Eine weitere Konstante ist in dem Grundbedürfnis nach Ernährung (Rang 6 in Grafik 3) zu sehen. Auch diesbezüglich hat sich die Quadrantenstruktur nicht verändert. Im dominierenden OL-Quadranten ist eine geringe Zunahme zu verzeichnen. Es bedarf keiner Erläuterung, wie wichtig dieses Kriterium ist, allerdings ist hierin indirekt eine Bedrohung der Zivilbevölkerung gegeben, die militärgeschichtlich als Einkesselung von Großstädten, Zerstörung und Blockade von Versorgungswegen und Plünderung von Nahrungsmittel-Lagern umfasst und bereits im derzeitigen Krieg zum Tragen kamen.

Das Recht auf Bildung (Rang marginal in Grafik 3) gehört zu den Menschenrechten und hat sich in der ukrainischen Gesellschaft offensichtlich zum unumstößlichen Wert verfestigt. Wieweit dieses Recht in der staatlichen Ordnung verwirklicht ist, kann jedoch hieraus nicht abgeleitet werden. Es kann jedoch vermutet werden, dass der starke Anteil des OL-Quadranten und die weit dahinter zurückbleibenden rechten Quadranten und der UL-Quadrant nicht dem Bedarf entsprechend ausgeformt sind. Eine vergleichbare Situation stellt sich für die Künstler dar.

Zu den Grundkonstanten eines Staates und der Gesellschaft gehört auch die Natur (Rang 13 in Grafik 3). Bei diesem Kriterium ist eine starke IchDominanz zu sehen, die sich im Zeitverlauf nur geringfügig verstärkt hat. Es folgen die rechten Quadranten mit einer – an der rechnerischen Idealverteilung gemessenen – schwachen Ausprägung und der UL-Quadrant als schwächstes Glied. Aus der weitgehenden Beschränkung auf individuelle Interessen ist zu vermuten, dass die Natur hier stark von ihrer Eignung für Erholung und ästhetische Erbauung beurteilt wird. Dagegen erscheinen die Abhängigkeiten der staatlichen Stellen und kulturelle Einrichtungen noch wenig durch Kriegseinwirkungen auf die Natur berührt zu sein.

Die Familie (Rang marginal in Grafik 3) als Grundkonstante bürgerlicher Gesellschaften stellt in der Gesamtübersicht eines der stärksten Kriterien dar. Das gilt allerdings nur hinsichtlich der Entwicklung der Quadranten. In der eingangs gezeigten Übersicht über die Gewichte der Kriterien in Grafik 2 nimmt die Familie einen Platz unter den mittelstarken Kriterien ein.

Besonders einzugehen ist auf die Rolle Europas, die sich in Grafik 2 als sehr bedeutend darstellt, in Grafik 3 jedoch einen geringen Rang einnimmt. In dieser Spannung zwischen Werteorientierung und horizontaler Ausdehnung der Entwicklungsspirale in der Ordnung der vier Quadranten drücken sich die Haltungen einer Minderheit (vermutlich der politischen Elite) aus, die einer ablehnenden zumindest aber einer desinteressierten Haltung in der Bürgerschaft gegenüber steht. Das Ergebnis spitzt sich noch dadurch weiter zu, daß auch in den Quadranten das individuelle Interesse an Europa bei weitem überwiegt und durch die Kriegseinwirkungen noch deutlich gestiegen ist. In diesem Ergebnis drückt sich die Problematik aus, die im Beitrittsprozess der EU an harten Fakten abgeprüft wird und nach allgemeiner Einschätzung eher lang als kurz sein wird.

Im Zusammenhang mit dem beantragten Beitritt zur EU kommt den Verhältnisse in der ukrainischen Wirtschaft besondere Bedeutung zu. Diese sind durch ein System von Oligarchen geprägt, die im Rahmen der Privatisierung des Staatseigentums nach Auflösung der Sowjetunion in den Besitz großer Teile der Unternemen gekommen ist und ihre dadurch gewonnene Macht politisch zur Geltung bringt. In Grafik 2 nimmt die Wirtschaft bezüglich der Gesamtgesellschaft einen geringen Rang ein, und ist bezüglich der Zivilgesellschaft nur marginal von Bedeutung. Es ist hier also kaum eine Wertorientierung zu erwarten. In Grafik 3 nimmt sie jedoch Rang 7 ein und verfügt über einige Technologien der Schwerindustrie und des Maschinenbaus.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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