Russlands Mobilmachung – Eine neue Eskalationsstufe im Ukrainekrieg

Nach der Blockade ukrainischer Häfen und der damit verbundenen Gefahr weltweiter Hungerkatastrophen, der Greultaten an der Zivilbevölkerung und der Bedrohung ukrainischer Atomkraftwerke bedeutet die nun vom russischen Präsidenten ausgesprochene Einberufung von ca. 300 Tsd. Reservisten eine weitere Verhärtung der Fronten im Ukrainekrieg. Putins Rede an das russische Volk erfolgte zu einem Zeitpunkt, wo die Bühne der Weltpolitik gerade in New Yorck bei der UNO bespielt wurde. Bei dem dort in der Vollversammlung veranstalteten Schaulaufen war für die russische Politik nur Ablehnung und im günstigsten Fall Zurückhaltung zu registrieren und so wirkte Putins Rede eher als Trotzreaktion gegenüber der einhelligen Auffassung der globalen Staatengemeinschaft. Damit ist die verschärfte Gangart Russlands auch als Angriff auf die von der Ukraine immer wieder eingeforderte Solidarität der im europäischen Geist verbundenen Staaten der EU zu verstehen. Hierauf nimmt Putin in seiner Begründung gegenüber den russischen Menschen ausdrücklich Bezug.

Eine immer drängender werdende Frage stellt sich angesichts dieser Entwicklung nach der Verantwortung des russischen Staates als Ganzem und seiner Legitimation durch die Haltung seiner Wähler. Mit diesem Beitrag werde ich einen weiteren Versuch unternehmen, etwas mehr Licht in diese Zusammenhänge zu bringen. Hierzu stelle ich die Reaktionen innerhalb der Wertewelten und der Quadranten der Integralen Theorie für drei der im Krieg engagierten Staaten – Russland, Deutschland und Ukraine – grafisch dar. Die in den Ergebnissen zum Ausdruck kommende Haltung ergibt sich dabei aus einem Vergleich der Ergebnisse vor und nach der Rede Putins. Als Status vor der Rede dient die Abfrage der Wochenwerte, als Status danach der Tageswert nach der Rede (Referenztag). Ein aussagekräftiger Vergleich ist nur in der Prozent-Darstellung möglich. Zur Absicherung und Ergänzung stelle ich den Ergebnissen einen zweiten Wert zur Seite, der die unterschiedlichen Gewichte in den untersuchten Kriterien abbildet.

Erläuterungen zu den Grafiken

Grafik 1

In Grafik 1 sind die jeweiligen Anteile der Einzelergebnisse für den Tag nach der Rede Putins im Verhältnis zu dem arithmetischen Mittel aus dem Wochenergebnis vor der Rede als Vielfache der Mittelwerte dargestellt. Dieses Verfahren wurde sowohl für die Quadranten (obere Hälfte der Grafik) als auch für die WMeme (untere Hälfte der Grafik) durchgeführt. Es lassen sich so zusätzliche Abschätzungen des Vertrauensbereichs der in den Grafiken 2 und 3 jeweils in der unteren Hälfte dargestellten Ergebnisse erzielen. Als Beispiel lese ich das Ergebnis für die rechtsseitigen Quadranten ab: In der unteren Hälfte von Grafik 2 ist das grün dargestellte Ergebnis für die Ukraine mit annähernd 6%-Punkten Zunahme – also verstärkendem Effekt der Rede Putins – abzulesen. Damit korrespondiert das in der oberen Hälfte der Grafik 1 abzulesende Ergebnis für die Veränderung der hier gelb dargestellten rechten Quadranten auf ein etwas mehr als 6-faches. Die Zunahme um 6%-punkte erscheint somit plausibel, wenn man den Abstand zu den anderen Quadranten und die Gesamtstruktur mit betrachtet. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass in den beiden Darstellungen der Grafik 1 zusätzlich zu den Quadranten bzw. den WMemen der Gesamtwert aller drei bzw. 8 Einzelwerte in grün bzw. schwarz dargestellt ist. Damit ist eine Abschätzung der Bedeutung der Ränder in der Entwicklungsspirale möglich. Insbesondere die extremen Steigerungen in den WMemen Beige, Purpur und Türkis sowie in geringerem Maß von Gelb sind aufgrund ihres geringen Vorkommens erklärbar. Für die verwendeten Vielfachen als Dezimalzahlen ist zu beachten, dass Werte, die kleiner als 1 sind, als Minuswerte zu gelten haben. Abhängig vom Ausgangswert können jedoch auch Werte >1 zur Verminderung führen. Abweichend von der sonst verwendeten Prozentangabe wurde diese Angabe von Vielfachen zum Vergleichswert aus Gründen besserer Skalierung gewählt.

Grafik 2

In Grafik 2 sind die Verlagerungen in den Quadrantensystemen der drei Länder zu erkennen. Zwischen den hierfür verwendeten Farben und den selbsterklärenden Farben der WMeme in Grafik 1 besteht kein Zusammenhang. Die obere Hälfte der Grafik bildet die Veränderungen zwischen den beiden Abfragen als Prozentpunkte ab. Hierbei bleiben ungleiche Verteilungen in den Wochenergebnissen unberücksichtigt. Um diesen Mangel annähernd auszugleichen habe ich die in Grafik 1 zu sehenden durchschnittlichen Tageswerte errechnet. Bei der Beurteilung der Ergebnisse sollten beide Werte betrachtet werden.

In Grafik 3 sind die WMeme für die Woche vor Putins Rede (Länderindex 1) und den Tag nach dessen Rede (Länderindex 2) angegeben. Darunter sind die Differenzen zwischen diesen Werten als Prozentpunkte dargestellt. Wie oben dargestellt, sollte für die Interpretation die Darstellung in der unteren Hälfte von Grafik 1 mit herangezogen werden.

Grafik 3

Ergebnisse

Zunächst gehe ich auf die Entwicklung in den Quadranten ein. In Grafik 1 ist eine sehr starke Reaktion festzustellen, die sich in der Ukraine wesentlich stärker zeigt als in Russland. Für Deutschland ist trotz teilweise heftiger Presseberichte nur eine verhaltene Reaktion im Internet zu sehen. Für die Ukraine hat Putins Reaktion auf die aktuellen militärischen Erfolge der ukrainischen Armee wesentlich zu einer Stärkung der rechtsseitigen rational ausgerichteten Quadranten beigetragen. Es kann anhand der Grafik nachvollzogen werden, was der Berater der ukrainischen Regierung, Michailo Podoljak, in einem aktuellen Interview mit der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ sagte: „Uns hilft alles. Damit können wir die Verluste ukrainischer Soldaten und Zivilisten minimieren. Das ist sehr wichtig. Wir gehen an diesen Krieg sehr pragmatisch heran, wir schauen uns die Mathematik des Schlachtfelds an: Was brauchen wir, welche Waffen fehlen, um schnellstmöglich die besetzten Gebiete zu befreien?“ Die hierfür benötigten menschlichen Ressourcen werden nach der Grafik zu gleichen Teilen aus den beiden linken Quadranten bereitgestellt. Diesbezüglich sind die Ergebnisse von Grafik 1 oben mit den Ergebnissen von Grafik 2 kompatibel.

Die Reaktion in Russland kann als Gegenstück zur Ukraine gelesen werden. Die rational-pragmatische Sichtweise der rechten Quadranten – die bereits im Wochenwert sehr schwach war – hat weitere dramatische Einbußen erlitten und zu einer ebenso starken Zunahme des OL-Quadranten (Individuum) geführt. Der UL-Quadrant (Wir) bleibt hiervon nahezu unberührt.

Dieses Ergebnis kann als Zusammenbrechen der bisher von Putin verbreiteten Argumentation zur Notwendigkeit der „Spezialoperation„, der er nun auch formal mit der Mobilmachung – einem für Kriege reservierten Begriff – selber widerspricht. Es beginnt damit die eigentliche politisch-russische Sicht auf die Ereignisse in der Ukraine, die nun auch in der Bevölkerung weite Kreise zieht. Erste Reaktionen aus dem kritischen Spektrum der Russen waren bereits am Tag der Rede auf den Straßen von 36 russischen Städten zu sehen und es ist zu hoffen, dass dies nur der Anfang war. Dennoch wirft diese Situation auch neue Fragen auf, etwa wie ist mit russischen Flüchtlingen umzugehen, die vor ihrer Einberufung in nördliche und westliche Länder fliehen oder wird Putin als in die Enge getriebener Präsident schließlich seine wiederholt ausgesprochenen Drohungen einer Verwendung atomarer Waffen wahr machen?

Wie bereits angedeutet sind die unmittelbaren Reaktionen auf Putins Rede in Deutschland eher gering. Hier ist eine – durch beide Darstellungen – bestätigte Aktivitätsverlagerung vom OL-Quadranten (Ich) zum UL-Quadranten (Wir) zu sehen. Hierin kommt die zunehmende Erkenntnis zum Ausdruck, dass die von Putin eingeleitete Strategie zunehmend auf die Zerstörung der Wertegemeinschaft Europas und darüber hinaus auf die freiheitliche Weltgemeinschaft zielt, der nur durch Zusammenhalt Widerstand geleistet werden kann. Das schließt die durch Wirtschaftssanktionen bedingten negativen Folgen grundsätzlich ein. Auch hierdurch werden gravierende Fragen ausgelöst, die auf die gerechte Lastenverteilung zwischen Reichen und Armen abheben.

Die relativ verhaltene Reaktion in Deutschland ist möglicherweise Folge der Vielzahl an Krisenerscheinungen, deren Wechselwirkungen nicht mehr erfasst werden können und zur Lähmung individueller Aktivitäten und der Selbstvergewisserung in kollektiven Strukturen führt. Dieses Verhalten schafft andererseits Raum für Spekulationen seitens Politik und Medien, die den beschriebenen Trend weiter verstärken und damit zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden. Die Reaktion in Deutschland kann so gesehen durchaus auch als „Ruhe vor dem Sturm“ betrachtet werden.

Mit der hier vorgestellten Methode lässt sich nach meiner Auffassung ein Bild der Wirklichkeit erzeugen, das näher an die aktuelle Wirklichkeit heranreicht, als es etablierte Verfahren der Sozialwissenschaften vermögen. Ausschlaggebend hierfür ist die indirekte und spontane unwillkürliche Erfassung von Antworten auf grundlegende Fragestellungen. Allerdings beinhalten diese auch Ergebnisse der Sozialwissenschaften, sie entfalten jedoch keine ausschließliche (objektivistische) Wirkung und sind als solche auch Bestandteil der Wirklichkeit.

In der folgenden Betrachtung der Wertewelten gehe ich von Grafik 3 aus und ziehe die in der unteren Hälfte von Grafik 1 zu sehende Struktur hinzu. Dabei gehe ich wieder in der Reihenfolge Ukraine, Russland und Deutschland vor.

Grafik 3 zeigt für die Ukraine einen nahezu totalen Rückgang des Wertemems Rot. In absoluten Zahlen bedeutet dieses einen Rückgang von 7.857 Nennungen an einem durchschnittlichen Wochentag auf 46 Nennungen am Tag nach Putins Rede. Dieses erstaunliche Ergebnis erklärt sich aus dem starken Anstieg des blauen WMems, das auf das 4,7-fache gestiegen ist. Zur Erklärung ist hierzu darauf hinzuweisen, dass Rot im System der Spiral Dynamics nicht gleichzusetzen ist mit Gewalt, sondern mit der spezifischen Gewalt, die von Clanchefs, Gangbossen und ähnllichen ausbeuterischen Gewaltherrschern, zu denen auch Oligarchen gehören können, ausgeht. Die Verlagerung von Rot zu Blau, dem WMem konservativer Ordnungsstrukturen, bedeutet einen Fortschritt in der Effizienz der ukrainischen Kampfverbände, der durch die erfolgten Geländegewinne belegt ist. Darüber hinaus partizipieren auch Grün und Orange in beträchtlichem Umfang an dieser Entwicklung. Insgesamt zeigt sich eine günstige Entwicklung iin der Ukraine, die auch für manche etwas wunderbar magisches zu haben scheint – wie der marginale Anstieg von Purpur andeutet. Aber auch neuer Mut zum Überleben in katastrophalen Verhältnissen deutet sich mit einem marginalen Anstieg von Beige an.

Zu diesem Bild der Wertewelten in der Ukraine stellt sich die Wertewelt Russlands als Negativkopie dar. Hier hat eine Verlagerung von Grün, Orange und Blau zu Gelb und Rot stattgefunden. Diese Entwicklung führt hinsichtlich Orange – der Quelle des westlichen Liberalismus – zu einem Totalausfall und hinsichtlich der anderen WMeme zu Verstärkungen bzw. Reduktionen vorhandener Ansätze. Von besonderer Bedeutung ist die Stärkung von Putins Rolle als rotem Gewaltherrscher, der nicht staatliche Interessen vertritt, sondern das Land für seine eigenen Interessen ausbeutet. Entsprechend deutlich ist der Rückgang des blauen WMems zu sehen. Von besonderem Interesse muss die Verstärkung von Gelb als systemisch agierendem WMem sein. Sie zeigt an, dass Putins Strategie zur Verschleierung seiner Motive durchaus Früchte trägt. Indem er die westliche Ideologie zum Gegner erklärt und Russland als Vormacht Asiens für sein Handeln reklamiert, verbirgt er seine aus Rot stammenden Antriebe hinter eine gelbe Fassade. Diese funktioniert jedoch nur solange, wie er solcher Art Handeln auch in seiner Kriegführung nachweisen kann. Die als Reaktionen auf die Mobilmachung stattfindenden Proteste sind erste Warnzeichen und Hinweise auf diese Achillesferse. Für diese Proteste bleibt allerdings nur wenig Spielraum, wie der starke Rückgang von Grün und die harten Polizeimaßnahmen dagegen zeigen.

Die Rede Putins hat ihre Wirkung in Deutschland nicht verfehlt – jedoch nicht in Putins Sinn, sondern als Beleg für Putins wahren Charakter als Gewaltherrscher in eigener Sache. Allerdings hat dieser Zugewinn an Erkenntnissen auch zu einem Vertrauensverlust in die politische Führung Deutschlands beigetragen, die sich mit Blick auf die vergangenen Jahrzehnte deutscher Russland– und Energiepolitik immer mehr als fahrlässig erweist. Es ist daher nicht auszuschließen, dass auch der Zorn über die Folgen dieser Politik – die zu harten Einschnitten führt und für die nähere Zukunft nicht absehbar sind – zu dem deutlichen Anstieg von Rot beiträgt. Es wird hier einmal mehr deutlich, wie stark das globale Netz jeden Einzelnen einbezieht und von existentieller Bedeutung ist.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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