Wie Putins „Spezialoperation“ die Ukraine zerstört (I)

Ein halbes Jahr dauert nun schon der Krieg in der Ukraine und noch niemand – außer Putin selbst? – weiß, welche Ziele diese „Spezialoperation“ verfolgt. Insoweit entspricht diese Art von Krieg durchaus dem Zustand der Welt, die auf eine dunkle Zukunft dahintreibt, ohne erkennbare Steuerung und Konzeption. In solchen Zeiten sind Verschwörungstheorien geradezu notwendig, um den Glauben an die Gültigkeit einer rationalen Welt zu erhalten.

Ohne die Absicht, mich an verschwörungstheoretischen Spekulationen zu beteiligen, werde ich hier einige Entwicklungen in der Ukraine aufzeigen, die auch ohne durchgreifende militärische Erfolge und Geländegewinne zerstörerische Wirkungen auf die Menschen in der Ukraine erkennen lassen.

Mit dem Instrumentarium der Entwicklungsspirale habe ich eine Vielzahl von Daseinsbereichen der Ukraine auf Veränderungen untersucht, aus denen die Richtungen und die Schwere der geistig-seelischen Zerstörungen in dem Land erkennbar werden. Hierzu vergleiche ich Daten, die ich im März dieses Jahres und im Juli/August dieses Jahres ermittelt habe. Es handelt sich um das Spektrum der Quadranten der Integralen Theorie Ken Wilbers, die Wertewelten auf der Grundlage der WMeme nach den Spiral Dynamics und die Darstellung der Gewichte, die den einzelnen Kriterien zu eigen sind.

1. Übersicht der Gesamtentwicklung

Grafik 1: Veränderungen in den Quadranten nach Ken Wilber

In der nebenstehenden Grafik 1 ist die Veränderung der Ukraine als Ganzes in den Quadranten nach der Integralen Theorie dargestellt. Von den Verlagerungen sind alle Quadranten betroffen – am stärksten die beiden rechten Quadranten. Diese haben sich von einem leichten Überschuss im März zu einem Defizit, wie es in westeuropäischen Ländern obligatorisch ist, hin entwickelt. Es kann vermutet werden, dass diese Tendenz mit der durch den Krieg verstärkten Abhängigkeit von der Unterstützung durch NATO-Staaten verursacht worden ist. Damit im Einklang steht der Ausgleich des Defizits im linken unteren Quadranten (UL), der auf den angestrebten bzw. bereits eingetretenen  Zugewinn kultureller Eigenart (gegenüber Russland) hindeutet. In dieses Bild fügt sich eine leichte Stärkung des oberen linken Quadranten (OL) ein, so dass insgesamt das Bild eines westeuropäischen Staates entsteht.

2. Gewichte der untersuchten Kriterien

Es sind gravierende Unterschiede zwischen einzelnen Kriterien wie auch in geringem Maß zwischen der Gesamtgesellschaft und der Zivilgesellschaft zu sehen. Letztere treten deutlich im Bezug auf Kultur, Sport und Wirtschaft auf. Die herausragende Bedeutung der Malerei ist durch einen Ausfall der Datenquelle eine Besonderheit in der ukrainischen Sprache oder die historische Bedeutung von Malern wie z. B. Malewitsch zu erklären und deutet auf den hohen Entwicklungsgrad der ukrainischen Kultur hin. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kunstwelt schon bald nach Beginn des russischen Angriffs im Februar mit Solidaritätsaktionen reagiert hat. Eine vergleichbare Reaktion der Gesamtgesellschaft ist dagegen nicht zu sehen.

Grafik 2: WMem-Gewichte in der Ukraine (Juli 2022)

Aus der vorstehenden Grafik 2 ergibt sich eine Rangfolge folgender – sowohl zivilgesellschaftlich wie gesamtgesellschaftlich etwa gleich bedeutender – Kriterien: Frieden (Rang 8 in Grafik 3), Beruf (Rang 9 in Grafik 3), Europa (Rang 11 in Grafik 3), Russland (Rang 2 in Grafik 3), Gewalt (Rang 12 in Grafik 3), Bildung (Rang marginal in Grafik 3), Familie (Rang marginal in Grafik 3), Schule (Rang 10 in Grafik 3), Natur (Rang 13 in Grafik 3) und Freizeit (Rang marginal in Grafik 3). Geringes Gewicht haben darüber hinaus die Kriterien Reichtum (Rang marginal in Grafik 3), Putin (Rang marginal in Grafik 3) und Künstler (Rang marginal in Grafik 3). Unter den marginalen Kriterien befinden sich solche wie Wissenschaft, Technik, Studium, Arbeit, Freiheit und Konsum.

Es zeigt sich bereits in dieser Aufzählung die Lenkung und Eroberung der Gedankenwelt der ukrainischen Gesellschaft durch den Krieg.

Dazu sind folgende Hinweise erforderlich:

Die große Bedeutung des Berufs ergibt sich unmittelbar aus der militärischen Situation der Ukraine. Durch die kurzfristig erfolgte und noch erfolgende Ausstattung mit modernsten Waffensystemen ist bei der ukrainischen Armee ein enormer Ausbildungsbedarf entstanden, der am schnellsten und leichtesten durch die Verpflichtung einschlägiger Berufsgruppen befriedigt werden kann. Auf der anderen Seite ist eine Zurückhaltung betroffener Fachkräfte verständlich, da mit der Kriegsverwendung ihres Wissens hohe Einbußen für ihre Familien besondere Gefahren für ihr Leben verbunden sind.

Der Hauptadressat als Kriegsgegner ist Russland und nur am Rande Putin. Diese Erkenntnis hat große Bedeutung im Hinblick auf ein baldiges Ende des Krieges. Erst wenn es gelingt, einen Stimmungsumschwung innerhalb der russischen Bevölkerung herbeizuführen steigen die Aussichten auf einen Waffenstillstand. Dabei können die vom Westen verhängten Sanktionen hilfreich sein, jedoch nicht ohne eine Bereitschaft der Ukraine, zu ihrer gemeinsamen Vergangenheit mit Russland zu stehen.

Ilja Repin (1844 – 1930): Die Saporoger Kosaken schreiben einen Brief an den türkischen Sultan

Der Maler stammte aus dem Nordosten der heutigen Ukraine und war auf der Suche nach der russischen Identität, wie sie von den russischen Dichtern in den Kosaken dargestellt wurde.

Der große Erzähler Nikolai Gogol sah sie als „Symbol der russischen Natur“ und rühmte sie als Krieger, „die nur den freien Himmel und ein ewiges Verlangen nach ewigen Festen und Feiertagen in ihrer Seele trugen“. Aber das war alles Vergangenheit. Sie wurde verklärt als Gegenbild zur Zarendiktatur in der Gegenwart des Malers. Repin stellte auf der Grundlage seiner Recherchereisen fest: „Alles, was Gogol über sie geschrieben hat, ist wahr! Ein Teufelsvolk! Niemand auf der ganzen Welt hat so tief die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gefühlt!“ Gerade diese, für das europäische Bürgertum konstitutionellen Werte sind jedoch in der heutigen Ukraine nach den Ergebnissen dieser Untersuchung nur noch schwach ausgeprägt.

Bezüglich Russland sind sowohl gesamtgesellschaftlich wie zivilgesellschaftlich relativ starke Reaktionen zu sehen, die jedoch deutlich hinter denen bezüglich Europa zurück bleiben. Hierin ist dennoch ein deutlicher Hinweis darauf zu sehen, dass ein Frieden nicht ohne intensive Auseinandersetzung mit der Rolle Russlands sinnvoll und möglich sein wird. Entgegen der Darstellung in den deutschen Medien wird hier die Bedeutung Putins stark relativiert. Darin ist ebenfalls der Vorrang einer historischen Perspektive ausgedrückt, die dem Volkscharakter eher gerecht wird, als die Unterwerfung eines Landes unter die Launen und den Zynismus eines Gewaltherrschers.

In der obigen Übersicht der Gewichte nimmt das Kriterium „Frieden“ (Rang 8 in Grafik 3) den ersten Rang ein. Dieses Ergebnis steht in Konkurrenz zu den angriffslustigen Äußerungen des ukrainischen Präsidenten und seiner Regierungsmitglieder. Wichtigste Voraussetzung für den Frieden ist die überwältigende Sehnsucht danach. Sie ist der Boden, auf dem Verhandlungen gedeihen können. Entscheidend für das Zustandekommen von Verhandlungen ist die bedingungslose Bereitschaft zu ihrer Aufnahme. Verlautbarungen ukrainischer Politiker, die sich Verhandlungen nur dann vorstellen können, wenn Russland sich aus dem Süden der Ukraine und aus den Separatistengebieten im Osten zurückzieht -wobei auch die weitergehende Forderung nach Rückgabe der Halbinsel Krim immer im Hintergrund mitschwingt – sind nicht hilfreich.

Bemerkenswert ist der etwa mit Russland vergleichbare und dem Kriterium „Frieden“ weit untergeordnete Stellenwert der Gewalt, die im Kriterienspektrum neben Russland für den Krieg steht.

Der hohe Stellenwert, der Europa in der obigen Übersicht zukommt, ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die ukrainische Wirtschaft in diesem Krieg keine Rolle spielt und für den Nachschub kriegswichtigen Materials ausfällt. Diese Situation lässt die politische Haltung Europas als Garant der Kriegsfähigkeit der Ukraine fragwürdig erscheinen.

Die in modernen Staaten als Vermittler von Grundkompetenzen anzusehenden Werte Bildung, Schule und Familie nehmen im untersuchten Spektrum einen mittleren Rang ein. . Die annähernd gleiche Ausprägung dieser Kriterien ist ein Hinweis auf die Rolle der Familie als Garant für die generationenübergreifende Kontinuität des Staates und seine Integrität. Die von Russland verbreiteten Meldungen über Drogenexzesse und Hoffnungslosigkeit der Jugend in der Ukraine sind vor diesem Hintergrund leicht als Propaganda zu erkennen, hat doch die latente Bedrohung durch russische Militäreinsätze und „kleine grüne Männchen“ in der Ostukraine sowie der Aufmarsch der russischen Truppen an der Grenze zur Ukraine zur Verunsicherung der Jugend beigetragen. So berichtete die Kunstzeitschrift Monopol“ in einem Artikel über die 2017 im KOW Berlin statgefundene Einzelausstellung „MASKIROVKA“ des Fotokünstlers Tobias Zielony: „Viele junge Menschen in der Ukraine passen sich der Instabilitat an und kiindigen auch die letzten halbwegs Sicherheit versprechenden Verhaltnisse auf. Sie leben vom Verkauf von Secondhand-Mode oder von Partyveranstaltungen, viele iibernehmen auch Funktionen im militarischen Konflikt.“ So wird die von Russland initiierte Umkehr des Prinzips von Ursache und Wirkung zur Rechtfertigung von Gewalt

Hinzuweisen ist auf die relativ große Bedeutung des Kriteriums „Kultur“ als Sammelbegriff. Vergleichbare Bedeutungen sind bei den untersuchten Kultursparten – mit Ausnahme der Architektur – nicht festzustellen.Die Herausstellung kultureller Leistungen ist ein Phänomen von Kriegen und unterstreicht in diesem Zusammenhang deren nationalistischen Charakter. Als Beleg können die nach Beginn des russischen Angriffs ausgesprochenen Vertragsauflösungen europäischer Bühnen mit Sängern, Tänzern und Dirigenten aus Russland dienen, die den Nationalstolz der Russen treffen sollten. Negativ gewendet können herausragende Kulturleistungen zur Herabsetzung des Gegners und zur Rechtfertigung von Gewalt dienen. In besonderem Maße war das in den Kriegen der Länder des ehemaligen Jugoslawien zu sehen.

Für die Architektur gilt, dass sie sich wegen ihres Gebrauchswerts – vor allem der Bereitstellung von Wohnraum – prinzipiell auf alle Menschen erstreckt und darüber hinaus in künstlerisch herausragenden Objekten verschiedene Sparten der Kunst bündelt und im Stande ist, die Leistungsfähigkeit einer bestimmten Kultur zu repräsentieren. Darüber hinaus gibt sie Zeugnis vom Geist der Menschheit in bestimmten Epochen und beansprucht gegenüber der Staatengemeinschaft einen besonderen Schutz, der sich auch im „Welterbe“ der Unesco ausdrückt.

Im unteren Bereich des Interesses sind die Themen „Natur„, „Sport“ und Freizeit zu finden. Alle drei Kriterien sind Ausdruck eines geordneten und selbstbestimmten Lebens. Es handelt sich um die Bereitstellung von Räumen zur Erholung und Erbauung, die neben der Wohnraumversorgung durch Architektur zu den Grundbedürfnissen der Menschen gehören. Darüber hinaus haben sie im Falle des Sports auch große Bedeutung für den internationalen Leistungsvergleich der Staaten und bezüglich der Natur für die Lebensfähigkeit der Menschheit als Ganzes und in Teilräumen. Die verstärkte Teilnahme von Sportlern der Ukraine an internationalen Wettkämpfen kann als Demonstration des Widerstands gegen den Aggressor verstanden werden und wird durch die gesamte Gesellschaft getragen.

Die vorstehend nicht erwähnten Kriterien haben gegenüber diesen nur marginale Bedeutung, obwohl sich darunter existentiell wichtige Werte und Kulturerrungenschaften befinden, die zum großen Teil von der internationalen Gemeinschaft ersetzt werden (müssen). Dieses sind die Kriegsfolgen, die bereits nach einem halben Jahr Krieg entstanden sind – und das, obwohl erst ca. 20% der ukrainischen Landesfläche von Kampfhandlungen betroffen sind. Abachließend werden sie zusammenfassend mit ihren negativen Folgen erwähnt:

  • Reichtum und Armut werden durch die Bedrohung des Lebens relativiert, soziale Positionen werden „eingefroren“,
  • Arbeit ist im Niedergang der Wirtschaft nur noch zur Behebung von Kriegsschäden und im beschränkten Umfang (Landwirtschaft, Handwerk, Ordnungsdienste) möglich,
  • für Studien sind keine Zukunftsperspektiven vorhanden, jeder wehrfähige Mensch wird für Kriegsdienste gebraucht,
  • die Macht von Oligarchen und Putin ist durch die Maschinerie des Krieges und internationale Sanktionen lahmgelegt,
  • der Klimawandel liegt außerhalb des Zeithorizonts, den der Krieg vorgibt und wird so im Bewusstsein verdrängt,
  • Konsum kann nur noch aus eigenen Quellen stattfinden (Subsistenzwirtschaft: Gärten, Bauern, Verwandte, Nachbarn, Hilfslieferungen),
  • Wissenschaft kann nur noch kriegswichtige Leistungen erbringen,
  • Technik wird am Bedarf des Krieges ausgerichtet,
  • Bürokratie wird klaglos hingenommen

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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