Zeitenwende oder Sprung vorwärts?
In der aktuellen Krise spitzt sich die Problematik der Hochrüstung auf die Frage zu, wieweit die atomaren Supermächte USA und Russland in der Frage der Abschreckung durch die drohende Auslöschung der Menschheit in einem Dritten Weltkrieg noch überein stimmen. Mit dieser Frage wird der Ukrainekrieg zu einem Prüffall für die atomaren Militärdoktrinen Russlands und der USA und so bekommen die Hinweise des ukrainischen Präsidenten in seinem Land werde Europa verteideigt eine ganz neue Bedeutung als gemeinhin angenommen. Ausgelöst durch das Streben nach militärischer Überlegenheit der USA – so auch die jüngsten Äußerungen des amerikanischen Verteidigungsministers – . Verschiedene Medien zitierten ihn anläßlich seines Besuchs an der ukrainisch-polnischen Grenze: „Wir wollen Russland so sehr geschwächt sehen, dass es nicht mehr in der Lage sein wird, Dinge wie diese zu tun, die es mit der Invasion der Ukraine getan hat“.
Auf dem Feld der atomaren Rüstung ist durch die Entwicklung neuer Raketen und die Kündigung aller diesbezüglichen Verträge eine ungeklärte Situation im Gefüge der Atommächte entstanden. Hieraus ist insbesondere im Bezug auf Mittelstreckenraketen eine Situation entstanden, die das Verhältnis Europas zu den USA belastet und Russland durch die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Kaliningrad (deutsch: Königsberg) in die Rolle eines potentiellen Angreifers mit Zielrichtung Mittel- und Westeuropa und insbesondere Deutschland bringt, auf dessen Angriff die USA mit strategischen Raketen antworten müsste und sich damit selbst zum Ziel eines russischen Raketenangriffs machte. Die mehrfach von russischer Seite im Ukrainekrieg unterschwellig ausgesprochene Drohung, Massenvernichtungswaffen – vermutlich taktische Atomwaffen – gegen die Ukraine einzusetzen hat aufgrund der betriebenen Nachrüstungen eine starke Waffe in der psychologischen Kriegführung geschaffen, die für ganz Europa politischen Sprengstoff beinhaltet.
Die Fragen der Rüstungspolitik in Europa sind insgesamt durch den Ukrainekrieg in den politischen Fokus geraten und haben mit der „Zeitenwende“ ein Etikett erhalten, das die Rüstungspolitik und die potentiellen Gefahren eines Dritten Weltkriegs – wie von Mills vorhergesagt – zum Leitgedanken zukünftiger Politik macht. Allerdings wird diese keine rein europäische sein können, sondern zunächst eine der USA und Russlands. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es mehrere Länder, die internationale Geschichte machten, und da war es einfacher, den Krieg als das blinde Ergebnis eines verhängnisvollen Kräftespiels anzusehen. Jetzt aber, da es zwei Supermächte gibt und mit China eine mögliche dritte Supermacht heranwächst sowie zahlreiche kleinere Atommächte, ist die Machtverteilung unübersichtlicher als vor dem zweiten Weltkrieg und die aktuelle Situation ist unübersichtlicher als zu Zeiten des kalten Krieges, als es nur zwei Machtblöcke gab, die jeweils festgefügten Ideologien folgten.
Wie bereits angedeutet liegt Europa – wieder einmal oder immer noch – im Zentrum der Auseinandersetzungen zwischen den beiden alten Supermächten. Diese Position hat kulturell wie geografisch ihre Berechtigung. Sowohl die USA wie auch Russland sind je auf eigenen Wegen aus der europäischen Kultur hervorgegangen, die USA durch Auswanderung von Minderheiten und Kolonisation indigener Völker, Russland durch Blutsverwandtschaften seiner Eliten mit den Eliten seiner westlichen Nachbarn und Anwerbung von Siedlern. In beiden Staaten haben sich Machteliten gebildet, die über die materiellen Mittel zum Herrschen verfügen und durch gewaltsame Übernahmen der Macht eigene politische Strukturen geschaffen haben, die geschichtliche Bedeutung erlangt haben. Ihre Kulturen sind unterschiedlich, Russland beeinflusst von den oströmischen Strömungen des Christentums und der materialistischen Ausrichtung des sowjetischen Kommunismus mit originären Kulturströmungen, die USA im Schatten der originär europäischen Kultur erst nach dem zweiten Weltkrieg zu eigenständigen Kunstströmungen wie Pop-Art und einem aus Europa aufgenommenen Impuls zum abstrakten Expressionismus gelangt. Letzterer hat zusammen mit der Pop-Art New York zur Weltkulturstadt werden lassen und zur Kommerzialisierung der Kultur geführt. Dagegen hat die russische Kunst seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts die europäische Kunst beeinflusst und vor allem in der Malerei Anstöße zur Entwicklung der abstrakten Malerei geliefert, die durch die Ikonenmalerei des russisch-orthodoxen Christentums inspiriert waren und zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Kunst zur Spiritualität geführt hat.
Aufgrund seiner Zugehörigkeit zur früheren Sowjetunion unterlag die Ukraine etwa 70 Jahre starkem russischen Einfluss, so dass die Kultur der Ukraine nicht scharf von der russischen Kultur zu trennen ist. Als prominentes Beispiel ist der Maler Kasimir Malewitsch zu nennen, der im Februar 1878 in Kiew geboren ist und zum Hauptvertreter der russischen Avantgarde wurde. Es ist deshalb verständlich, dass – abgesehen von direkten Verwandtschaften zu Russen in Russland – auch unter Ukrainern politische Orientierungen an Russland bestanden und vermutlich auch weiter bestehen. Allerdings dürfte die überwiegend passive Haltung der in Russland lebenden Bevölkerung gegenüber der Menschen verachtenden Politik Putins zunehmend auf Unverständnis bei den Ukrainern stoßen.
Die militärisch-wirtschaftlich und politisch schwache Konstitution der Ukraine haben zu instabilen politischen Verhältnissen geführt, die 2014 zu Aufständen in der Hauptstadt Kiew geführt haben. Gegenstand dieser Auseinandersetzungen war ein Abkommen mit der EU, dass eine enge Anbindung an die westliche Staatengemeinschaft vorsah und von der russlandfreundlichen Regierung abgelehnt wurde. Die Beilegung dieses Konflikts erfolgte unter Vermittlung von Frankreich, Deutschland, Polen und Russland. Damit sind mögliche Adressaten genannt, die zur Einstellung der gegenwärtigen Kampfhandlungen beitragen könnten, wenn hierzu Bereitschaft der Kriegsparteien besteht. Darüber hinaus sollte in diesem Beitrag deutlich geworden sein, dass die Bedrohung des Weltfriedens durch die immer noch im Gang befindliche Rüstungsspirale größere politische Anstrengungen erfordert, eine neue Friedensordnung für Europa zu schaffen, in die unabdingbar die USA einzubeziehen sind.