Konstanten der chinesischen Geschichte
Zum Abschluss dieses Beitrags unternehme ich den Versuch, aus den dargestellten Schlaglichtern Eigenheiten der chinesischen Geschichte abzuleiten, die in der gegenwärtigen weltpolitischen Situation Beurteilungshilfen darstellen können.
Der US-amerikanischer Politikwissenschaftler und Sinologe Lucian W. Pye (engl.) charakterisierte China als »Zivilisation, die vorgibt, eine Nation zu sein.« Er stellt damit zwei Begriffe gegeneinander, deren Bedeutung zunächst einer Klärung bedarf, um sie dann auf ihre Tragfähigkeit im Bezug auf die chinesische Geschichte zu prüfen. Die beiden Begriffe werden nach WIKIPEDIA wie folgt definiert:
»Als Zivilisation wird eine menschliche Gesellschaft bezeichnet, bei der die sozialen und materiellen Lebensbedingungen durch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht und von Politik und Wirtschaft geschaffen werden. Allgemeingültige Kennzeichen für Zivilisationen sind die Staatenbildung, hierarchische Gesellschaftsstrukturen, ein hohes Maß an Urbanisierung und eine sehr weitgehende Spezialisierung und Arbeitsteilung.« »Nation… bezeichnet größere Gruppen oder Kollektive von Menschen, denen gemeinsame Merkmale wie Sprache, Tradition, Sitten, Bräuche oder Abstammung zugeschrieben werden.
Diese Begriffsdefinition ist jedoch empirisch inadäquat, da zum Beispiel nach Ansicht von Eric Hobsbawm keine Nation diese Definition vollumfänglich erfüllt. Daneben wird die Bezeichnung auch allgemeinsprachlich als Synonym für Staatswesen und Volk gebraucht, von denen die Nation in der wissenschaftlichen Darstellung getrennt wird. Die zugeschriebenen kulturellen Eigenschaften können dabei als der Nationalcharakter eines Volkes oder einer Volksgemeinschaft dargestellt werden. Der Begriff „Nation“ erweist sich als ein Konstrukt, das wirksam wird, indem Menschen sich handelnd auf ihn beziehen.«
Beide Begriffe sind problematisch, da sie nicht kulturneutral sind und stark auf die politische Situation der Gegenwart abgestimmt sind. Stärker als der Begriff „Zivilisation“ ist der Begriff „Nation“ durch die bestehenden Weltverhältnisse infrage gestellt. Der hinter dem Anspruch „Nation“ zu sein lauernde Konflikt hat viele Millionen Menschen ins Unglück gestürzt, sie es durch Kriege, Hungersnöte oder Flucht. Von ihm ausgehend ist der Zustand der heutigen Welt als Welt-Unordnung zu bezeichnen. Unter seinem Einfluss hat sich Kolonialismus und Rassismus ausgebreitet und Grenzen gezogen, die seine Verwirklichung unmöglich machen. „Nation“ steigert sich zu „Nationalismus“ und beinhaltet viele Zynismen. Es erscheint mir deshalb sinnvoll, den Begriff „Nation“ für China garnicht erst in Betracht zu ziehen, da auch von dem modernen China kein Anspruch erhoben wird, eine Nation zu sein. In seinem aktuellen Buch „Alles unter dem Himmel“ schreibt der chinesische Philosoph Zhao Tingyang von dem grundlegenden Unterschied zwischen der europäischen Idee des Staates, wie sie in den antiken Stadtstaaten Griechenlands – den Polis – zum Ausdruck kam und einer speziellen chinesischen Auffassung von der Organisation des Staates und der Sippe, die als Tianxia (Alles unter dem Himmel), d.h. als weltpolitisches Konzept zu verstehen ist. Auf der einen Seite griechische Kleinstaaterei auf der anderen Seite die nicht an Grenzen gebundene Weltsicht Chinas. Zhao Tingyang schreibt: »Legt man den Begriff des Nationalstaates zugrunde, müsste man China als »Staat der zehntausend Völker« bezeichnen, als inklusiven Staat (inclusive state). Der hier beschriebene Staatsbegriff gilt nur für das alte China. Der moderne chinesische Staat besitzt einen Doppelcharakter: Den des traditionellen plus den des modernen Staatscharakters. Das moderne China überführte die Gene des alten China in den Charakter des modernen Staates und machte ihn zum modernen Souveränitätsstaat, allerdings nach wie vor nicht zum Nationalstaat. Der Disput über den Charakter des modernen China gründet sich auf ein zu enges Verständnis des modernen Staates, nämlich dass der moderne Staat unbedingt ein Nationalstaat zu sein hat. In Wahrheit gibt es zwei Grundtypen des modernen Souveränitätsstaates, den Nationalstaat (z. B. die europäischen Staaten) und den Föderationsstaat oder Vielvölkerstaat (z. B. die USA, China, Russland, Indien). Auch der Föderationsstaat hat Charaktermerkmale des Nationalstaates, wie legal festgelegte Grenzen und legal fixierte Souveränität, aber er unterscheidet sich durch Multikulturalität und Multiethnizität vom Nationalstaat.« (Tingyang, Zhao. Alles unter dem Himmel, suhrkamp taschenbuch wissenschaft (German Edition) (S.127); Kindle-Version)
Aus den hier „angeleuchteten“ Begebenheiten der 4000-jährigen chinesischen Geschichte ist Kontinuität nicht im Sinne eines Staates oder mehrerer verbundener Staaten feststellbar, sondern die Langlebigkeit eines Ideenkonzepts, das auf ethischen Prinzipien aufbaut, an denen der Konfuzianismus dominierend beteiligt ist. Im Zentrum dieses Konzepts steht die Harmonie von Himmel, Erde und Mensch. Diese drei Komponenten stehen in engen Wechselbeziehungen und bilden das einheitliche All, das sich durch ein allumfassendes Gesetz verwirklicht. Alle Erscheinungen im Makrokosmos haben im physischen, geistigen und sittlichen Leben des Menschen ihre Entsprechung. Die Beziehungen zwischen ihnen sind durch die Lehre der fünf Elemente Erde, Wasser, Feuer, Holz und Metall bestimmt. Das Leben vollzieht sich aus ihren Wandlungszuständen. Das moralische Handeln ergibt sich aus einer Lehre weltlicher Sozialgesinnung, die nach maximal möglicher sozialer Gerechtigkeit strebt. Seine Entsprechungen zu den fünf Elementen sind die Tugenden Treue, Weisheit, Sitte, Liebe und Gerechtigkeit. Letztere findet ihre Grenze in einer feudal-bürokratischen Gesellschaftsordnung, die ihrerseits an die ethischen Prinzipien gebunden ist. Die Autorität des Staates ergibt sich somit aus der Weisheit staatlicher Repräsentanten, die stellvertretend für den Kaiser handeln. Sie baut auf die grundsätzliche Einsichtsfähigkeit des Menschen und die Offenbarung richtigen Handelns durch die Geschichte.
Im »Shangshu«, dem Buch der Urkunden – einem der fünf Klassiker des Konfuzianismus – heißt es: »Es ist ein innerster Zusammenhang zwischen dem Himmel oben und dem Volke unten, und wer das im tiefsten Grund erkennt, der ist der wahre Weise.« »Diese Worte enthalten in knappster Form die Quintessenz und das Programm einer Weltanschauung, welche die beiden Dinge, die nach Kant »das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht erfüllen«, nämlich den »bestirnten Himmel über mir« und das »moralische Gesetz in mir«, in einer lelzten Einheit schaut.« (Helmuth von Closenapp: Die fünf Weltreligionen, Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen / München 2005)
Die aufgeführten Ereignisse und Zusammenhänge der Geschichte Chinas lassen erkennen, dass die grob umrissene universelle Ethik zwar nicht mehr den heutigen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen entspricht, jedoch soviel Offenheit besaß, dass eine Befruchtung durch Buddhismus, Daoismus und verschiedene Schulen des Konfuzianismus möglich waren und damit auch Brücken zur abendländischen Kultur möglich waren.
Aus dem Verständnis dieser geistigen Grundlagen erklären sich einige Besonderheiten der chinesischen Geschichte, die sich deutlich von der anderer alter Kulturen abheben. Sie werden hier kurz aufgeführt:
- der Verzicht auf imperiale Eroberungen;
- die Entwicklung militärischer Strategien, die Menschenleben schonte und defensiv ausgerichtet war;
- die Seefahrt zu ausschließlich wissenschaftlichen und Handelszwecken;
- die Entwicklung eines feudalen Bürokratismus, der auf Wissen basierte;
- die Verhinderung kapitalistischer Macht durch gesellschaftliche Geringschätzung der Kaufleute (ursprünglich auch in griechischer Polis, jedoch nicht mehr im europäischen Mittelalter)
- Ablehnung und weitgehender Verzicht auf Sklaverei
- Ehrfurcht vor den Ahnen
- Begrenzung der Macht des Kaisers durch Bindung an wissenschaftliche Erkenntnisse
Im Selbstverständnis der Chinesen vollzieht sich mit der Geschichte Chinas eine politische Kosmologie, die in dem alten Prinzip der Tianxia besteht, das in der Zhou-Dynastie (1046 bis 256 v. Ch.) entwickelt wurde und in der Gegenwart unter neuen Bedingungen Anwendung finden kann. In diesem Sinne wird von China die „Neue Seidenstraße“ entwickelt, die – wie der Name suggeriert – dem Handel zwischen der westlich von China gelegenen Welt und China dienen soll. Darüber hinaus steht sie auch in der Kontinuität chinesischer Geschichte und ist eine Einladung, an dem Konzept der Tianxia teilzunehmen. In den Worten des oben zitierten Zhao Tingyang: Tianxia »ist der Name eines Ordnungsprinzips, das nicht auf Unterwerfung beruht, sondern auf Freiwilligkeit; nicht auf dem Individuum, sondern auf der Gemeinschaft. In der Tianxia muss jede Veränderung allen zugutekommen, niemand darf verlieren. Dreh- und Angelpunkt ist die »Nutzlosigkeit der Konkurrenz«, und alle Völker sind eingeladen, sich dieser freundlichen Ordnung anzuschließen. Tianxia ist nicht nur eine lokale, sie ist eine globale, eine Weltordnung.«
Es erübrigt sich fast zu sagen, dass darin eine Herausforderung der USA als Führungsmacht der Staatenwelt liegt, die sich ja auch bereits in heftigen Abwehrkämpfen befindet. Es muss jedoch gefragt werden, ob diese Rolle der USA noch gerechtfertigt ist.