Von Mythen und zornigen Menschen

Zurück auf Anfang?

Die bisher geltende stilschweigende Vereinbarung zwischen Politik und Wählern basierte nicht auf einem Gründungsmythos, wie ihn viele Staaten haben, sondern auf den wild wuchernden – von dem materiellen Wohlergehen eingefangenen – Interpretationen der Individuen. Die komplizierte Geschichte Deutschlands verhinderte dieses trotz zahlreicher Bemühungen. Statt dessen entstand ein kollektiv gepflegtes Gefühl der Unschuld, das eher an den Ursprungsmythos des Paradieses erinnert oder als Sehnsucht nach einer Flucht aus der Zeit bezeichnet werden kann. Der Physiker Paul Davies schreibt: „In vielen Kulturen ist sie lediglich ein durchdringender , aber unbewußter Einfluß, ein «Terror der Geschichte», wie der Anthropologe Mircea Eliade es nennt, der sich in einer zwanghaften Suche nach dem Land jenseits der Zeit ausdrückt. Tatsächlich ist diese Suche der Gründungsmythos fast aller Kulturen der Menschheit. Das tiefe menschliche Bedürfnis, den Ursprung der Dinge zu erklären, zieht uns unwiderstehlich zurück in eine Zeit vor der Zeit, in ein mythisches Reich zeitloser Zeitlichkeit, in einen Garten Eden, ein Urparadies, und seine starke Kreativität erwächst gerade aus diesen zeitlichen Widersprüchen.“ Die westliche Kultur hat jedoch den Zugang zu den kreativen Potentialen der von den australischen Ureinwohnern so genannten „Traumzeit“ verloren, obwohl das unbewusste Verlangen hiernach weiter besteht. ….“Befreiung von der geschichtlichen Zeit sucht man vielleicht in religiösen Riten wie der rituellen Wiederholung von Sätzen oder Gesten, die die ursprünglichen Ereignisse symbolisch neu erschaffen. Berührung mit geheiligter Zeit wird oft gleichgesetzt mit Regeneration und Erneuerung.“ Die Bilder der Ursprungsmythen melden sich auch bei modernen Menschen in verschiedenen Formen, wie sie etwa von dem Psychoanalytiker C. G. Jung in seiner Archetypenlehre beschrieben werden. »Der Archetypus ist eine Art Bereitschaft, immer wieder dieselben oder ähnliche mythische Vorstellungen zu reproduzieren. […] Die Archetypen sind, wie es scheint, nicht nur Einprägungen wiederholter typischer Erfahrungen, sondern zugleich auch verhalten sie sich empirisch wie Kräfte oder Tendenzen zur Wiederholung derselben Erfahrungen. Immer nämlich, wenn ein Archetypus im Traum, in der Fantasie oder im Leben erscheint, bringt er einen besonderen ›Einfluss‹ oder eine Kraft mit sich, vermöge welcher er numinos respektive faszinierend oder zum Handeln antreibend wirkt.« (Kast, Verena. Die Tiefenpsychologie nach C.G.Jung: Eine praktische Orientierungshilfe. Patmos Verlag.)

Die eingangs erwähnte Berserkerwut der Vietnamsoldaten entstand oft aus dem wiederholten unmittelbaren Erleben der Unverletzlichkeit, wenn die Kameraden und besten Freunde im feindlichen Kugelhagel zerfetzt wurden und nur einer – das heroische Ich – übrig blieb. In der Berserkerwut geht jede vernünftige Zurückhaltung verloren. Das Bewusstsein konzentriert sich auf einen einzigen Brennpunkt, der in seinem Angriffsziel liegt. Er kann nicht einmal mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden. Jonathan Shay berichtet, einer der von ihm betreuten Soldaten sei von seinen Untergebenen gefesselt und ins Hinterland gebracht worden. Der Soldat habe an die Situation keine Erinnerung mehr, vermute aber, dass er für seine eigenen Leute zur Gefahr geworden sei.

Es besteht ein tief in die menschliche Psyche eingeschlossenes Verlangen nach der Rückkehr zu einem paradiesischen Ort, der es Heilsversprechern aller Zeiten und Geisteshaltungen leicht gemacht hat, Menschen mit dem quasireligiösen Versprechen dieser Rückkehr auf ihre Seite zu ziehen und heiligen Zorn gegen alle und alles zu mobilisieren, das diesem Ziel im Wege zu stehen scheint. Wenn es gelingt, diese Bereitschaft zur Annahme eines Ursprungsmythos auf das Hier und Jetzt zu beziehen, den Mythos zu integrieren und auf ein höheres Bewusstseinniveau zu transzendieren, kann die Möglichkeit zu einem harmonischen Zusammenleben gefördert werden.

Beziehungen zwischen Mythen und Parteien

In der nebenstehenden Grafik ist die Bedeutung von Mythen für den deutschen und den englischen Sprachraum im Bezug auf drei politische Begriffe politischer Systeme dargestellt. Sowohl in deutsch wie in englisch spielen Mythen für die Demokratie eine dominierende Rolle. Im deutschen Sprachraum spielen sie jedoch nur eine geringfügig stärkere Rolle im Bezug zur Demokratie als zum Nationalsozialismus einschließlich des Totalitarismus.

Um dieses Ergebnis richtig interpretieren zu können, muss die Bedeutung von Mythen im heutigen Sprachgebrauch geklärt werden. Nach dem Duden hat der Begriff die Bedeutungen:

  1. Überlieferung, überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung o. Ä. aus der Vorzeit eines Volkes (die sich besonders mit Göttern, Dämonen, Entstehung der Welt, Erschaffung der Menschen befasst)

  2. Person, Sache, Begebenheit, die (aus meist verschwommenen, irrationalen Vorstellungen heraus) glorifiziert wird, legendären Charakter hat

Als Synonyme sind folgende Begriffe genannt:

  1. Dichtung, Erzählung, Legende, Sage, Überlieferung; (veraltet) Historie

  2. Galionsfigur, Idol, Ikone, Kultfigur, Legende, Leitbild, Leitfigur, Star, Symbolfigur

Die Aufzählung zeigt eine Tendenz zum Irrealen und Mystischen, die jenseits der reinen Vernunft liegt. In der Evolution des Bewusstseins stammen diese magisch-mythischen Beziehungen aus dem Wertemem Rot, jenem Wertesystem, in dem auch der Zorn seine Wirkung entfaltet. Der westliche Mensch agiert jedoch hauptsächlich unter dem Einfluss des rationalen Orange. Der Übergang von der Bewusstseinsebene Rot zu Blau zu Orange bedeutet ein Wachstum, das in ganzheitlicher Sicht durch einen evolutionären Prozess bewirkt wird, der von niedriger Komplexität zu höherer Komplexität führt. Dabei schließt das höhere System (Orange) die Fähigkeiten, Muster und Funktionen der vorausgehenden Stadien (Blau und Rot) ein und fügt dann seine ganz eigenen und umfassenderen Fähigkeiten hinzu. „Jede Stufe besitzt demnach all das, was die vorige Stufe ausmachte, aber noch etwas darüber hinaus (zum Beispiel mehr Integrationskraft), und dieses »darüber hinaus« bedeutet einen Wertzuwachs gegenüber der vorausgehenden Stufe. Diese ganz entscheidende Definition einer höheren Stufe wurde im Westen erstmals durch Aristoteles und im 0sten durch Liezi und Shankara eingeführt und ist seither ftir alles Entwicklungsdenken maßgeblich gewesen.“ (Ken Wilber in „Eros Kosmos Logos“)

Etwa mit dem 17. Lebensjahr hat der Mensch das Bewusstseinsstadium des reifen Ich erreicht. An dieser Stelle erfolgt eine Weichenstellung, die für den weiteren Entwicklungsweg des Individuums von entscheidender Bedeutung ist. In diesem Stadium hat sich das Ich aus der sozialen Rolle, in die es schicksalhaft eingebettet war herausgelöst und bekommt ein eigenes Urteilsvermögen. Die eigene Person wird als Wesen erlebt, das sich gleich bleibt, obwohl die mentalen Zustände wechseln. Gleichzeitig entsteht ein reflektierendes Bewusstsein, das die Beobachtung des eigenen Geistes ermöglicht, wodurch Wissen von dem erlangt wird, was wir sind, was wir wissen, was in unserem Inneren passiert. Bei der Herausbildung des reifen Ich kann es zu einer Identitätskrise kommen, die durch ein Misslingen der Transzendiereung des vorherigen mythischen und soziozentrischen Zustandes entstehen kann.

Vergleichbare psychische Prozesse sind generell im Bezug auf Mythen erforderlich, wenn diese für die gesellschaftliche Entwicklung nutzbar sein sollen. Menschen auf der Stufe der mythischen Zugehörigkeit quält oft der Gedanke, dass andere sich nicht zu ihrem Gott bekennen und daher nicht »gerettet« werden können; da regt sich machtvoller missionarischer Eifer in den Seelen: „Ungläubige dürfen einfach nicht geduldet werden – man kann sie sogar töten, um ihre Seele zu retten. Mythengläubige werden sich auch jedem Angriff der Rationalität standhaft widersetzen, während die rationale Struktur durchaus den Mythengläubigen zu dulden vermag, weil sie soviel tiefer und weiter ist. Deshalb ist die rationale Transformation von tieferer kultureller Bedeutung und sozialer Integrationskraft, auch wenn sie längst nicht so festgefügt wirkt wie das seichtere, beschränktere Weltbild der mythischen Zugehörigkeit.

Abschließend kann festgestellt werden, dass Zorn und Mythen einen großen Einfluss auf das individuelle und gesellschaftliche Leben haben, obgleich sie ihre Wirkung überwiegend aus dem Verborgenen entfalten. Der Umgang mit ihren psychischen Potentialen kann nur mit großer Kenntnis und Sorgfalt erfolgen, da sowohl ein Missbrauch wie auch die Entfesselung positiv gestaltender Kräfte möglich sind. Dabei ist nicht immer der böse Wille am Werk, sondern auch die Möglichkeit von Verwechslungen, wie z. B. bei der Prä- Trans-Verwechslung, die schon oft in der Vergangenheit zu – wieder aufkommenden –  Bildern wie dem des „Edlen Wilden“ geführt hat und der reduktionistischen Betrachtungsweise rein rationaler Wissenschaft geschuldet ist.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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