Von Mythen und zornigen Menschen

Eine der treibenden Kräfte innerhalb der Entwicklungsspirale entsteht aus der Wut der Menschen, die sich bis zum Zorn steigern kann und sich damit bis in das Stadium spiritueller Energie steigert. Ihr Ursprung liegt im Einfluss des roten Wertemems und die Menschen wehren sich hartnäckig gegen jede ihnen aufgezwungene Macht. Wer den in Rot entfesselten Gefühlen begegnet, erfährt ein Chaos, das von negativen Gefühlen wie Rachsucht, Hass und rasender Wut bestimmt ist. Der angemessene Umgang mit dieser rohen egozentrischen Kraft kann jedoch zu einem positiven Einsatz von Macht führen. So können die aus den Mythen des vorhergehenden magisch-mythischen Entwicklu

Berserker-Wut

Peter Paul Rubens: Der Zorn des Achill

ngsstadiums unter dem Einfluss von Purpur stammenden Traditionen und Rituale, die zu inhaltsleeren Handlungen erstarrt sind, überwunden werden. Dennoch erhalten sich Spuren von Purpur bis in die Kinderstuben späterer Generationen und darüber hinaus in die Zukunft hinein, da jede neue Generation auf den psychischen Fundamenten der Ahnen aufbaut. Unter dem Einfluss von Rot entstehen Gottesbilder zorniger Götter, Pioniertaten heldenhafter Männer und Frauen und rasender Krieger. Der amerikanische Psychiater Jonathan Shay zieht in seinem Buch Achill in Vietnam: Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust Vergleiche aus seinen Erfahrungen, die er in der Therapie von Vietnam-Veteranen gewonnen hat. Er vergleicht deren Greueltaten, die im Zorn geschahen mit der Berserker-Wut des mythischen Achill der griechischen Illias, wie sie von dem altgriechischen Dichter Homer beschrieben wird. Im Christentum reichen die datierbaren Spuren des zornigen Gottes bis in das 7. vorchristliche Jahrhundert zurück. Darüber hinaus beginnt die biblische Erzählung sogar mit dem Zorn Gottes über den Sündenfall der ersten Menschen, der zur Verbannung aus dem Paradies führt. Der im 7. Jh. lebende Prophet Zefanja wird im Alten Testament zitiert: „Ich raffe, ja, raffe alles vom Erdboden weg – Spruch des HERRN. Mensch und Vieh raffe ich weg, die Vögel des Himmels raffe ich weg und die Fische im Meer, nämlich, was die Frevler zu Fall bringt, und ich rotte die Menschen auf der Erde aus – Spruch des HERRN.« (Zefanja 1, 2-3).

Der charakteristische Zorn des roten WMems kann durch Störungen auf anderen Ebenen der Entwicklungsspirale aktiviert werden, z. B. wenn die in Orange erlangte große persönliche Freiheit durch äußere Begrenzungen eingehegt wird oder wenn die für Blau typischen kollektiven Ordnungen nicht an die nachfolgende Generation vermittelt werden und der Übergang zu individuellen Erfolgsrezepten keine ausreichenden Perspektiven eröffnet. Ein verbreiteter Ausdruck von Rot und verdecktem Zorn kommt in den illegalen Autorennen zum Ausdruck, die an Filme mit James Dean und an den Mythos dieses Schauspielers erinnern. Diese Beispiele dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass jeder Mensch Zorn in sich trägt. Er zeigt sich bereits, wenn sich Kleinkinder an der Supermarktkasse mit hochrotem Kopf auf den Boden werfen und aus Leibeskräften brüllen, weil sie die ersehnte Schokolade nicht bekommen. Die Reaktionen der umstehenden Kunden verraten dann regelmäßig, was von solchen Zornausbrüchen zu halten ist: Dieser Gefühlsausbruch ist in höchstem Maße unerwünscht, nicht nur an diesem – ohnehin nervaufreibenden – Ort, sondern immer und überall und dieses Urteil bezieht die Eltern oftmals als schlechte Erzieher mit ein. Es erscheint daher unausweichlich, dass der Zorn zu den sechs von Descartes unterschiedenen Grundaffekten des Menschen zählt und im Christentum als Todsünde gewertet wird. Bereits der heilige Benedikt fordert in seiner für die Klosterbewegung maßgeblich gewordenen Klosterregel, „den Zorn nicht zur Tat werden (zu) lassen“. Dabei bezieht er sich auf den Wüstenvater Euagrios Pontikos, der insgesamt acht Gefährdungen des Menschen beschrieben hat. Er sprach den Menschen die Verantwortung für das Auftauchen der Gefühle ab, verlangte jedoch, mit dem Zorn verantwortlich umzugehen.

Zorn regiert den Menschen

Zorngesicht

Aufsteigender Zorn unterliegt physiologischen Prozessen des Organismus, die nur schwer zu beherrschen sind und sich verstetigen können und sichtbare Spuren in der Physiognomie hinterlassen. Es reicht daher nicht, den Zorn auf Worte zu beschränken, da Worte genausoviel Unheil anrichten können, wie Taten – nur subtiler und zeitlich gestreckt. Es reicht auch nicht, ungefiltert alles rauszulassen, da eine Reifung der Persönlichkeit hierbei nicht erfolgt und eine Chance verpasst wird, aus der Opferrolle – in die der vom Adrenalin geflutete Mensch geraten ist – herauszukommen. Vordergründig muss es darum gehen, die Handlungsmacht zurückzugewinnen. Neue Wege zu einer Integration von überschießenden Gefühlen werden in achtsamkeitsbasierten Therapierichtungen – etwa der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) – angewendet und stellen einen Weg dar, die Potenziale der Entwicklungsspirale im Sinne eines integralen Ansatzes zu nutzen. Schon der Buddha wusste: An Zorn festhalten ist wie Gift trinken und erwarten, dass der Andere dadurch stirbt.

In diesem Beitrag versuche ich, die Rolle zu erfassen, die der Zorn für das politische und gesellschaftliche Leben in Deutschland spielt. Dazu greife ich auf die bewährten Erhebungs- und Darstellungsmethoden dieses Projekts zurück. Vorab möchte ich jedoch darauf hinweisen, daß der Zorn nicht nur in Deutschland und auch nicht erst in der Gegenwart eine einflussreiche Rolle im Weltgeschehen spielt. Nicht ohne Grund haben die großen Religionen in früher Zeit sich diesem Phänomen angenommen. Allerdings können die Exzesse des Zorns heute wesentlich größere Zerstörungen auf geistig-psychischer wie auf objektiv-gegenständlicher Ebene anrichten. Den großen langen Pfad des Zorns in der Zeit des Liberalismus hat in jüngster Zeit der indische Schriftsteller und Essayist Pankaj Mishra in seinem Buch „Das Zeitalter des Zorns“ nachgezeichnet. „Sein neues Buch beschreibt das Unbehagen an der Moderne und ist eine Kritik an einem nicht zur Selbstreflexion fähigen Liberalismus“, so der Deutschlandfunk in seiner Würdigung des Buches und er zitiert aus dem Buch:

Es gibt weit mehr Sehnsüchte, als sich im Zeitalter der Freiheit und des Unternehmertums legitim verwirklichen lassen; mehr Wünsche nach Konsumgütern, als mit den gegenwärtigen Einkommen erfüllt werden können; mehr Träume, als durch Umverteilung und größere Chancen mit einer stabilen Gesellschaft vereinbar wären; mehr Unzufriedenheit, als Politik oder traditionelle Therapien zu beschwichtigen vermöchten; mehr Nachfrage nach Statussymbolen und Markennamen, als mit nichtkriminellen Mitteln befriedigt werden könnte; mehr Ansprüche auf Prominenz, als angesichts der zunehmend zersplitterten Aufmerksamkeit noch durchsetzbar wären; mehr Reize aus den sozialen Medien, als man in Handeln umsetzen könnte; und mehr Empörung, als sich durch die sozialen Medien zum Ausdruck bringen ließe.“

Die Symptome dieser Systemkrankheit sind irrationale Wut, Gewalt und Chauvinismus, die sich als wiederkehrende Finanzkrisen, nationalistische Strömungen, Terrorismus, Kriege, rassistische Bewegungen, die Wahl unfähiger Politiker, die Unterhöhlung demokratischer Institutionen in der Türkei, in Polen und in Ungarn sowie in der Sehnsucht nach starken Führern zeigen. Die hierin zum Ausdruck kommende Asymmetrie zwischen systemimmanenten Grenzen und den geweckten Erwartungen durch die treibenden Kräfte des Systems zeigen das grundlegende Problem, das darin besteht, dass moderne Werte wie Freiheit, Gleichheit oder Wohlstand niemals für die Mehrheit der Menschheit vorgesehen gewesen seien. Voltaire, die „Ikone der Aufklärung“, habe zwar für die Meinungsfreiheit und eine bürgerliche Gesellschaft gestritten, sich zugleich aber der herrschenden Aristokratie angedient und den Pöbel für bildungsunfähig erachtet. Dass auch der kleine Mann in den Genuss bürgerlicher Rechte und wirtschaftlichen Wachstums kommen sollte, hatten die frühen Aufklärer weder im Sinn noch konnten sie die Ausmaße der industriellen Revolution vorhersehen. Umso mehr ist Mishras Analyse zuzustimmen, da die zu bewältigenden Probleme zu Voltaires Zeit wesentlich leichter zu beheben gewesen wären, als jene, die 100 Jahre später auftraten und von Karl Marx in seinem Maschinenfragment richtig erkannt und in die Zukunft projiziert wurde.

Die Verbreitung des Zorns in Deutschland ist ohne die Informationsgesellschaft und die Bildung einer repräsentativen Demokratie als moderner Staatsform nicht denkbar. Die schnelle Verbreitung von Nachrichten aus dem Nahbereich und der ganzen Welt und die persönliche Bewertung dieser Nachrichten ermöglichen Vergleiche in der Zeit und mit dem Idealbild, das aus individuellen Wünschen und Vorstellungen entsteht. Daran haben die zugänglichen und benutzten Informationen entscheidenden Anteil. Das daraus entstehende Bild wird nach der Sichtweise des Politikpsychologen Thomas Kliche mit einer einfachen psychologischen Vereinbarung abgeglichen, die unausgesprochen zwischen Staat und Bürgern geschlossen wurde. Diese Vereinbarung beinhaltete Kliche zufolge das Versprechen des Staates, für ein gutes Leben und Sicherheit seiner Wähler zu sorgen, wenn diese ihm dafür ihre Stimmen geben. Gleichzeitig war damit zugesichert, dass ein weitgehend störungsfreier Politikbetrieb ohne große Pannen und in weitgehender Harmonie mit dem Weltgeschehen erfolgt. Ausgeprägtes politisches Bewusstsein und Überzeugungen von langfristigen Wirkungen waren dafür nicht erforderlich, einzige Bedingung war die gelegentliche Bestätigung der Abmachung durch die Stimmabgabe bei den Wahlen.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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