Deutschland und die Ukraine in der Entwicklungsspirale am 25.10.2022

An dieser Stelle werde ich – soweit es mir möglich ist – täglich die Entwicklung der Wertewelten und der Quadranten der Integralen Theorie in Deutschland und der Ukraine veröffentlichen. Zu diesem Schritt habe ich mich aufgrund der sprunghaften Entwicklungen der letzten Jahre und Monate entschlossen, da sich die Bilder der Grafiken in diesem Zeitraum drastisch verändert haben und nach zeitnahen Erklärungen verlangen. Die Verknüpfung mit der Ukraine ermöglicht darüber hinaus Rückschlüsse auf Zusammenhänge zwischen deutscher Außenpolitik und Ukrainekrieg. Die Integrale Theorie kann so wertvolle Beiträge zur Meinungsbildung leisten. Ein Sinn hierfür ergibt sich allerdings erst, wenn sich möglichst viele Menschen hierzu Gedanken machen und ihr Handeln hieran orientieren.

Die Darstellung der Quadranten erfolgt – abweichend von der bisher überwiegenden Darstellung als Quadrantenbild als Säulengrafik und in Prozenten. Diese Änderung erfolgt aus Vereinfachungsgründen um eine tägliche Erhebung vom Aufwand her möglich zu machen. Eine Angleichung an die Quadrantendarstellung erhält man, wenn die Prozentwerte jeweils in 5%-Intervalle zerlegt werden.

Die beiden Grafiken werden durch ein Tageszitat aus dem Bereich der Integralen Theorie ergänzt. Dabei wird der jeweilige Bezug zwischen Grafik und Zitat durch ein gelb hinterlegtes Stichwort markiert, um so einen Hinweis auf die Schwerpunkte der Entwicklung zu geben.

Hinweise:  Zum Lesen der Grafiken bitte mit einem Klick vergrößern!

Die NichtAnerkennung von Uneindeutigkeit, Dissens und Pluralität (Anm.: Ich) entspricht einem spezifischen Umgang mit dem Abweichenden und Uneindeutigen. Hier wäre eine Reihe von Strategien zur Wiederherstellung der kategorialen Ordnung zu nennen, die von einer »Reinigung« (vgl. Bauman 1992b, Latour 1995) der Melangephänomene und Unschärfen bis hin zur Ausgrenzung des oder der Anderen reicht. Auch wenn diese Strategien nicht in jedem Fall unmittelbar zum Erfolg führten und das Abweichende, Ausgeschlossene weiterexistierte, blieb die Herstellung von Eindeutigkeit und Gewißheit doch über lange Strecken (und in vielen Bereichen bis heute) die eng mit den Ideen wissenschaftlich-technischer Rationalität (Universalismus) und kulturell homogener Nationalität (Nationalismus) (Anm.: Wir und Es) verknüpfte normative Leitvorstellung. Dabei lassen sich folgende Strategien exemplarisch unterscheiden:

Marginalisierung

Im Rahmen einer Strategie der Marginalisierung wird zwar nicht geleugnet, daß abweichende Phänomene existieren. Doch man deutet sie letztlich als Residualformen, die über kurz oder lang den jeweiligen Normalitätstypen zu weichen hätten. So wurden trotz des Fortbestands und der partiellen Expansion des Handwerks das Modell des industriellen Großbetriebs und das »System indusrieller Beziehungen«. als Normalmodell fur die Regulierung von Arbeit etabliert. In ähnlicher Weise wirkten die regulativen Leitmodelle des Nationalstaats (und der internationalen Beziehungen), des Klassenkonflikts (zwischen Arbeit und Kapital), der Kernfamilie und der Normalbiographie im Hinblick auf alle davon abweichenden politischen Gemeinschafts- und Konfliktformen, Lebens- und Tätigkeitsmodi. Deren institutionelle Nicht-Berücksichtigung – sie wurden als »überholt«, »abweichend« und gleichsam einer anderen Epoche zugehörig definiert – führte nicht nur zu mangelnder Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit dieser Phänomene, sondern in der Regel auch zu ihrer normativen Entwertung und institutionellen Ausblendung….


Verzeitlichung

Mindestens ebenso wichtig wie die Marginalisierung des Abweichenden dürfte die Strategie einer zeitlichen Verschiebung der Eindeutigkeit auf die Zukunft sein. Auch wenn sich trennscharfe Grenzdefinitionen, wie etwa die zwischen Leben und Tod, oder vollständige und unumstrittene wissenschaftliche Begründungen bestimmter Praktiken, wie z.B. der Tätigkeit des Arztes, gegenwärtig noch nicht etablieren lassen, geht man doch davon aus, daß sie im Prinzip möglich sind und durch den wissenschaftlichen Fortschritt in unbestimmter Zukunft herbeigeführt werden können. Die Aussicht auf zukünftige Eindeutigkeit legitimiert die vorübergehende Widersprüchlichkeit kategorialer Definitionen und Grenzziehungen. Eine solche Verzeitlichungsstrategie ist an die Vorstellung einer noch unzureichenden, aber prinzipiell erreichbaren (natur-) wissenschaftlichen Durchdringung der Welt gebunden, die alle nicht-wissenschaftlichen Erfahrungsquellentacit knowledge«, intuitives und Erfahrungswissen, lokales Kontextwissen) obsolet werden läßt und optimale Problemlösungen ermöglicht.

Ontologisierung

Eine weitere Strategie zur Immunisierung von Basisinstitutionen und -kategorien besteht in ihrer Rückführung auf natürliche Tatsachen oder anthropologische Selbstverständlichkeiten. Indem man gesellschaftliche Unterscheidungen und Formen der Vergemeinschaftung von natürlichen Unterscheidungen und Notwendigkeiten ableitet, enthebt man sie aller weiteren Begründungspflicht und erklärt sie zu anthropologischen Zwangsläufigkeiten.

Monopolisierung

Insbesondere im Bereich staatlichen Handelns besteht eine weitere Möglichkeit, der Pluralisierung von Strukturen und dem Unscharfwerden von Grenzziehungen entgegenzuwirken. Aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols kann auf dem Weg rechtlicher Regulierung für Standardisierung gesorgt und bestimmten Formen der Vergemeinschaftung, der Interessenorganisation, der Begründung ein Monopol zugesprochen werden. Dies gilt etwa für den Nationalstaat selbst und seine territoriale Abgrenzung gegenüber anderen Staaten, aus der eine Reihe weiterer kategorial-institutioneller Unterscheidungen ableitbar ist (Inländer/Ausländer, Krieg/ Frieden, Polizei/Militär etc.). Die große formale Eindeutigkeit, mit der Verantwortungsbereiche auf diese Weise voneinander abgegrenzt, Anspruchsberechtigungen und andere Zuordnungen rechtlich institutionalisiert werden, schafft Entscheidungssicherheit. Voraussetzung für eine solche Entscheidungssicherheit ist allerdings, daß die Grundlagen institutioneller Grenzziehung weder faktisch unterlaufen noch theoretisch angezweifelt werden.

Zitat aus: Ulrich Beck (Herausgeber), Christoph Lau (Herausgeber) Entgrenzung und Entscheidung: Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung? Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004

Die Skulptur zeigt eine trauernde Mutter mit ihrem toten Sohn, Käthe Kollwitz widmete sie dezidiert ihrem gefallenen jüngsten Sohn Peter Kollwitz (1896–1914), der expressionistischer Maler werden wollte.

Mutter mit totem Sohn, 1993 von Harald Haacke auf 1,6 Meter Höhe vergrößerte Kopie der Skulptur in der Berliner Neuen Wache, der Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.

Copyright: CC BY-SA 3.0

Wlodko Kaufman zeichnet Porträts der gefallenen ukrainischen Soldaten – eins für jeden, von SANDRA DANICKE
Die Bilder, sie zeigen immer das Gleiche: das Gesicht eines Soldaten mit Helm. Groß, klein, lila, blau, grün. Mit Verwundungen im Gesicht oder ohne. Soldaten, Soldaten, Soldaten – hundertfach, tausendfach, mit schnellen Kugelschreiber- oder Grafitstiftstrichen skizziert. Wolodymyr Kaufman hat sie nach Fotos auf Zettel gezeichnet, auf Quittungen, Fahrscheine, die Rückseiten alter Briefmarken. Die Bilder, sie stehen für Menschen. Für Ukrainer, die im Krieg gegen Russland gefallen sind. Wie viele das aktuell sind? Niemand weiß es. Doch Kaufman will sie möglichst alle zeichnen, jeden Einzelnen, damit man die Toten nicht vergisst….

Angesichts der aktuellen Eskalation vergisst man in Deutschland leicht, dass die Krise bereits 2014 mit der Annexion der Krim begann, dass bereits fünf Jahre später mehr als 13000 Opfer zu beklagen waren. Inzwischen sind es viele mehr. …

Für das Europa jenseits der Ukraine ist der Krieg in den Hintergrund gerückt. Es gibt Nachrichten-Apps, bei denen sich Meldungen, die aus der Ukraine berichten, ausblenden lassen – für all jene, die von der Situation am Donbass nur noch genervt sind. Es ist auch diese Gleichgültigkeit (Anm.: gegenüber dem Ich der Betroffenen), dieser Zynismus, gegen die Wlodko Kaufman anzeichnet.

Zitat aus: ART 10/2022

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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