Ukrainische Großstädte unter den Folgen des russischen Angriffs

Übersichtskarte der Ukraine. Quelle: Wikimedia Commons, Cpyright: Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.

Zum Jahresende ist es üblich, Bilanzen des zurückliegenden Jahres aufzustellen. Auch der Krieg in der Ukraine wurde bereits bilanziert. Der ukrainische Präsident Selenskyj sprach heute in einer Videobotschaft von ca. 99.000 toten Soldaten auf russischer Seite. Genaue Angaben sind jedoch weder von ukrainischer noch von russischer Seite verfügbar. Westliche Militärs haben jedoch zuletzt die Zahl der getöteten und verwundeten russischen Soldaten auf weit über 100.000 geschätzt. Selenskyjs Berater Mychajlo Podoljak gab vor Kurzem die Zahl der ukrainischen Gefallenen mit 13.000 an.

Es gehört zu den zynischen Erfahrungen des Krieges, dass auch die Toten von den Kriegsherren für ihre Zwecke vereinnahmt werden. Das Leid der Familien, Freunde und Gemeinschaften, zu denen die viel zu früh gestorbenen Soldaten gehörten, hinterlässt dauerhafte Spuren, die das Leben der Hinterbliebenen und der gesamten Gesellschaft verändern. Diese Ignoranz der Staaten in Zeiten der Kriege und der Gewalt kann nur durch die schonungslose Dokumentation der gesellschaftlichen Folgen durchbrochen werden. Sie stellt ein Mittel zur Ächtung von Gewalt dar. Diesem Ziel haben sich auch die hier verfassten Beiträge verschrieben.

Mit diesem Beitrag beende ich die wöchentliche Beobachtung der gesellschaftlichen Veränderungen im Hinblick auf die Ukraine und intensiviere diese durch eine größere räumliche Nähe zu den Ereignissen, indem die bisher wöchentlich erhobenen Kriterien nun im monatlichen Abstand für die Großstädte der Ukraine erhoben werden. Es hat sich herausgestellt, dass durch die große Zahl der in Deutschland lebenden Flüchtlinge aus der Ukraine und der bewundernswerten Aufrechterhaltung der Kommunikationslinien und Versorgungseinrichtungen ein großes Invormationsreservoir besteht, auf dass über das Internet in räumlicher Tiefe zugegriffen werden kann.

Nachfolgend werde ich für 14 Großstädte der Ukraine jeweils die Wertewelten und die Aktivitäten in den Quadranten des Bewusstseins grafisch darstellen und – soweit aus der Distanz vertretbar – Schlüsse hieraus ziehen, die als Interpretationsanstösse gedacht sind.

In Grafik 1 sind die Wertesysteme nach den Spiral Dynamics als Balkendiagramm dargestellt. Die verwendeten Farben sind in der Farbordnung der Spiral Dynamics selbsterklärend – in der Reihenfolge ihres Auftretens in der Evolution – Beige, Purpur, Rot, Blau, Orange, Grün, Gelb und Türkis. Die Beschreibung der wesentlichen Merkmale dieser Wertesysteme ist auf speziellen Seiten in diesem Projekt nachzulesen.

Die Grafik ist von unten nach oben zu lesen. Die Farben stehen für die Ergebnisse der auf Internetseiten mit der ukrainischen URL .ua in ukrainischer Sprache abgefragten Daten. Jedem farbigen Balken ist ein schwarzer Balken vorangestellt, der das jeweilige Kriterium für die Abfrage auf deutschen Internetseiten mit der URL .de in deutscher Sprache angibt. Hierdurch ist ein Vergleich von deutscher und ukrainischer Sicht auf die Städte möglich.

Markanteste Unterschiede bestehen – wie sich bereits in früheren Beiträgen zum Thema Ukraine herausgestellt hat und hier bestätigt wird – in der überragenden Bedeutung, die das Wertesystem Orange für die westliche Welt hat. Eine nicht annähernd so große Bedeutung hat das WMem Blau als markantestes Wertesystem für die Ukraine. Hierin drücken sich insbesondere die systemischen Unterschiede zwischen den Ländern im russischen Einflussgebiet und dem individualistischen europäischen Einflussgebiet aus.

Eine weitere Totalabweichung zeigt sich bezüglich der Stadt Krywyj Rih. Die Stadt hat als Industrie- und Bergbaustadt große Bedeutung für die Ukraine und wurde bereits in der ersten Angriffswelle stark zerstört. Sie muss wegen dieser Zerstörungen um ihre Existenz fürchten. Diese Besorgnis drückt sich paradoxerweise dadurch aus, dass sich der Überlebenswille im Bezug auf die Stadt nur aus deutscher Perspektive durch auffallend starkes Türkis und Beige abzeichnet. Da der Stadt die wirtschaftliche Grundlage weitgehend entzogen ist und das dem internationalen Stahlkonzern ArcelorMittal gehörende Stahlwerk stillgelegt ist, kann angenommen werden, dass eine große Zahl der Einwohner geflohen ist und sich nun in den schwarzen Balken bemerkbar macht. Aus der globalen Bedeutung von ArcelorMittal erschließt sich vermutlich der starke Anteil von Türkis.

Eine weitere Auffälligkeit zeigt das Profil der Stadt Odessa. Das ungewöhnlich starke Purpur ist möglicherweise aus der Mythenbildung zu erklären, die sich um die Katakomben und die darin verborgenen Partisanen des zweiten Weltkriegs ranken und nun unter der Bedrohung durch russische Truppen neue Aktualität gewinnen können.

Herauszustellen sind auch die Städte Dnipro und Sewastopol. In diesen Städten sticht das WMem Rot besonders hervor. Dnipro ist ein bedeutender Industrie- und Militärstandort, der seine Bedeutung in der Zeit der Sowjetunion gewonnen hat und sprachlich neben dem Ukrainischen zum Russischen tendiert.

Sewastopol ist Heimathafen und Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Aus ukrainischer und Sicht des Völkerrechts ist Sewastopol temporär besetztes Gebiet der Ukraine[1] und als Stadt mit Sonderstatus direkt der ukrainischen Zentralregierung unterstellt. Seit dem 21. März 2014 – nach der Annexion der zur Ukraine gehörenden Krim durch Russland – sieht Russland die Stadt als Föderationssubjekt und damit Teil Russlands an. (Quelle: WIKIPEDIA)

Die ebenfalls auf der Halbinsel Krim liegende Stadt Simferopol weist im Vergleich zu Sewastopol keine Besonderheiten auf. Seit dem international nicht anerkannten Anschluss der Halbinsel Krim an Russland im März 2014 ist Simferopol de facto Hauptstadt des Föderationssubjektes Republik Krim der Russischen Föderation. De jure nach Angaben der administrativ-territorialen Teilung der Ukraine bleibt Simferopol die Hauptstadt der Autonomen Republik Krim, die zu den von Russland besetzten Gebieten gehört. (kursiver Text aus WIKIPEDIA)

Das hervorstechende Rot im Profil von Dnipro und Sewastopol ist als Hinweis auf die besonderen Beziehungen zu Russland zu sehen, die ein geschichtlich gewachsenes Spannungsverhältnis bedeuten können und genauerer Betrachtung bedürfen.

In den WMem-Profilen von sechs der 14 untersuchten Städte kommt Purpur eine deutlich verstärkte Bedeutung zu. Das insgesamt stärker als zu erwartende Purpur ist Hinweis auf die Reaktivierung magisch-animistischer Hoffnungen, die durch den Krieg ausgelöst werden und zu irrationalem Verhalten führen.

Demgegenüber fällt – bis auf wenige Ausnahmen – der relativ starke Anteil an WMemen der zweiten Ordnung (Gelb und Türkis) auf. Sie bilden die Basis für erweiterte Bewusstseinszustände, die zur Transzendenz realer Zustände führen können und deshalb unterstützt werden müssen.

Nach den entwicklungsgeschichtlichen Aspekten der Grafik 1 werden in Grafik 2 die Felder des Geschehens in den vier Quadranten des geistig-seelischen, der Kultur und der Wissenschaften des Einzelnen und des Vielen dargestellt. Aus methodischen Gründen werden in der Grafik die beiden rechten Quadranten zusammengefasst. Für die Darstellung des Einflussbereichs der nicht wissenschaftlich agierenden Menschen in diesem Projekt hat das keine Auswirkungen.

Zur Lesbarkeit der Grafik ist zu beachten, dass die in der Legende mit (U) gekennzeichneten Farben für die Ukraine stehen und die nicht mit eingeklammerten Buchstaben versehenen Einträge für die Situation in Deutschland stehen.

Zunächst ist allgemein festzustellen, dass die Städte der Ukraine sowohl im Bild der Städte selbst – Abfrage auf Internetseiten der URL .ua – wie auch auch aus deutscher Sicht – Flüchtlinge und Bild der Deutschen auf .de-URL – starke kulturelle (Wir) Präsenz haben. Für die Mehrzahl der untersuchten Städte ist festzustellen, dass diese Präsenz aus deutscher Sicht überwältigend ist und rationale, wissenschaftlich-empirische Sichtweisen weitgehend verdrängt. Dieses Ergebnis stimmt im Grundsatz mit den bereits früher veröffentlichten Ergebnissen für die Gesamtukraine überein. Dieser Verdrängungsprozess fällt in der deutschen Sicht besonders drastisch aus und führt nahezu zum Verschwinden rationaler Sichtweisen. Dieses Ergebnis ist gleichzeitig ein weiterer Hinweis auf das große Gewicht von Flüchtlingen in den Ergebnissen.

Trotz der grossen Ungleichgewichte bleibt in der deutschen Sicht ein weitgehend ausgeglichenes Niveau des oberen linken Quadranten (Ich) erhalten. In der ukrainischen Sicht stellt sich dagegen dieser Quadrant in den meisten Städten mit einem Übergewicht dar. Ausnahmen sind lediglich Donezk, Luhansk und Simforopol mit geringfügig unter einem theoretischen Mittelwert liegenden Anteil von „Ich“. 

Eine Sonderstellung nimmt Krywyj Rih bezüglich der beiden rechten Quadranten (Es) ein. Innerhalb des weit unterdurchschnittlichen Niveaus zeigt sich bei dieser Stadt ein relativ stark herausgehobenes Es, durch das sich die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt im Bewusstsein erhalten könnte. Am anderen Ende der Skala sind die Städte Odessa und Simferopol zu nennen.

Weitgehende Übereinstimmung zwischen deutscher und ukrainischer Sicht besteht bezüglich der Städte Odessa, Donezk, Luhansk und Simferopol. Hiermit deutet sich ein Problem an, das durch die große Zahl der Flüchtlinge in westeuropäische Länder entsteht. Die Übernahme von Sichtweisen in den aufnehmenden Ländern durch ukrainische Flüchtlinge – die voraussichtlich zum größten Teil nach Ende des Krieges in die Ukraine zurückkehren werden – führt zu Spaltungen, die entlang der Generationsgrenzen einerseits und durch die Familien andererseits verlaufen werden. Das Ausmass dieser sozialpsychologischen Kriegsfolgen ist abhängig von der Dauer des Krieges und muss die Haltung der ukrainischen Regierung mitbestimmen.

Aus den sozialen Verwerfungen lassen sich – zumindest teilweise – Aggressionen ableiten, die durch relativ starke Anteile des WMems Rot zum Ausdruck kommen. In dieser Reaktion können die psychischen Reaktionen auf die russischen Besatzer mit dem Zorn auf die eigene Regierung verschmelzen. Nicht zuletzt wird auch die von der ukrainischen Regierung oft wiederholte – aber teilweise vergebliche – Forderung an die NATO-Länder, Panzer, Raketen und andere schwere Waffen zu liefern, zu diesem Zorn beigetragen haben. Insbesondere Städte wie Lwiw und Winnyzja, die eher indirekt von den Kriegshandlungen betroffen sind, zeigen hervorgehobene Reaktionen des Zorns.

Die Ukraine war einer der Hauptschauplätze des zweiten Weltkriegs. Neben der Entindustrialisierung und Zerstörung vieler Städte wurden unter der Beteiligung nationalsozialistischer Kräfte der Ukraine viele Vernichtungslager im Land errichtet. Wie sich am Beispiel von Odessa zeigt, ist diese Geschichte noch nicht von der ukrainischen Zivilgesellschaft aufgearbeitet und hat der russischen Kriegspropaganda damit eine Möglichkeit geboten, ihre eigene Version der politischen Situation in der Ukraine – insbesondere der nationalsozialistischen Tendenzen – zu verbreiten. Es muss daher im Interesse der politischen Kräfte des Landes sein, diese Arbeit nach Beendigung der Kriegshandlungen zu leisten und schon jetzt der russischen Propaganda zweifelsfreie Entscheidungen zu Personalien und politischer Richtungsvorgaben entgegen zu setzen.

 

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
Dieser Beitrag wurde unter Aktuelles, Deutschland, Geschichte, Integrale Theorie, Kultur, Meinung, Politik, Russland, Trends abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar