2. Typ Neun
Das Selbstbild der Menschen vom Enneagramm-Typ Neun ist „Ich bin zufrieden“. Es handelt sich um äußerst friedfertige Menschen, in deren Gesellschaft sich andere Menschen wohlfühlen. Da sie Probleme haben, eine eigene Meinung zu bilden, können sie sich sehr schnell mit anderen Meinungen anfreunden. Leitendes Verlangen ist dabei, Ruhe und Frieden herzustellen und möglichst unbehelligt durch den Tag zu kommen. Die Grundhaltung von Neunern ist Passivität. Bis sie zu einer Aktion zu bewegen sind bedarf es großen Nachdrucks. Eine ausführliche Darstellung dieses Typs ist ein Stück Weltliteratur aus Russland: Der von Iwan Gontscharow geschriebene Roman Oblomow. Er ist dem Typus des begabten, gebildeten, Idealen verpflichteten, aber durch Herkunft und Standesgewohnheiten zu ergiebiger Faulheit und gänzlicher Passivität resignierten russischen Adligen gewidmet, dem unmittelbaren Nachfahren des Lischnij tschelowek (Überflüssiger Mensch) der russischen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Dennoch oder gerade wegen dieser Grundhaltung sind Neuner als verständnisvolle Gesprächspartner oder unparteiische Schiedsrichter beliebt. Sie können aufgrund ihrer ausgleichenden Art auch unbequeme Wahrheiten so darstellen, dass sie von anderen akzeptiert werden. Das Idealbild der Neun beschreiben Rohr und Ebert als ursprüngliche
menschliche Wesen, wie man sie in vorindustriellen indigenen Völkern häufig findet. Es besteht jedoch eine Kluft zwischen diesen Menschen und dem „zivilisierten“ modernen Menschen, die nicht ignoriert werden kann. Ken Wilber sieht hier die Falle einer Prä-/Transverwechslung, die leicht zum Bild des „edlen Wilden“ führen kann, wie es von den beiden Autoren des Enneagramms mit dem Hinweis auf die Geschichte des „Papalagi“ angedeutet wird. Gemeint ist mit »Prä-/Trans-Verwechslung« zunächst etwas ganz Einfaches: Da prärationale – kindliche, infantile Welterkenntnis – und transrationale – intuitive, mythische Welterkenntnis – Zustände beide auf ihre je eigene Weise nichtrational sind, können sie dem ungeschulten Auge als ähnlich, wenn nicht identisch erscheinen. Sind jedoch prä und trans erst einmal verwechselt oder gleichgesetzt, kommt es zu Denkfehlern zweierlei Typs: Im ersten Fall kommt es zu einer Verabsolutierung der Vernunft, im zweiten Fall zu einer Verabsolutierung des Spirituellen, des Geistes. Diese Verwechslungen sind möglich, da aufgrund der zusammengesetzten Natur der Individualität diese Welt-Räume auch heute noch gegeben sind und sich in der gleichen Abfolge auch heute noch bei der individuellen Entwicklung enfalten. Es ist, wie der Biologe Rupert Sheldrake sagt, als benutzte die Natur einmal geschaffene und für funktionsfähig befundene Grundholons auch bei weiteren Entwicklungsschritten immer wieder als Bausteine (wobei das Grundholon zwar erhalten bleibt, sein Teilcharakter, sein Fürsichsein jedoch in einem höheren oder tieferen Muster transzendiert und in diesem Sinne negiert wird).
Durch einen Denkfehler der ersten Art werden alle höheren und transrationalen Zustände auf niedrigere und prärationale reduziert. Echte mystische oder kontemplative Erfahrungen beispielsweise werden im Sinne Sigmund Freuds als Regression zu infantilem Narzißmus, ozeanischem Adualismus, Indissoziation oder sogar als primitiver Autismus gedeutet.
Ist man andererseits für höhere und mystische Zustände aufgeschlossen, verwechselt aber trotzdem prä und trans, dann wird man alles Prärationale zu transrationaler Glorie erheben oder elevieren wollen, indem man zum Beispiel den infantilen primären Narzißmus als unbewußtes Schlummern in der Unio mystica – Mystischen Hochzeit – auffasst. Der Tiefenpsychologe C. G. Jung und seine Nachfolger haben nach Wilbers Ansicht häufig diesen Weg beschritten und müssen tiefe Transpersonalität und Spiritualität in lediglich undissoziierte und undifferenzierte Zustände hineinlesen, denen jegliche Integration mangelt.
Dennoch kann die Geschichte vom Papalagi, die als Fiktion eines „Westlers“ von der Wahrnehmung eines Europäers durch einen Südsee-Häuptling handelt, einige wesentliche Charakterzüge des modernen Menschen karikieren. Über die Funktion der Zeit in Europa lesen wir dort ,,Angenommen, der Weiße. . . möchte in die Sonne gehen oder auf dem Flusse Canoe fahren oder sein Mädchen lieb haben, so verdirbt er sich zumeist seine Lust, indem er an dem Gedanken haftet: Mir ward keine Zeit, fröhlich zu sein. . . Er nennt tausend Dinge, die ihm dte Zeit nehmen, hockt sich mürrisch und klagend über eine Arbeit, . . . an der er keine Freude hat. . . Sieht er dann aber plötzlich, daß er doch Zeit hat, daß sie doch da ist, oder gibt ihm ein anderer Zeit . . . so fehlt ihm wieder die Lust, er ist müde von der Arbeit ohne Freude. . . Es gibt Papalagi, die behaupten, sie hätten nie Zeit. . . Daher rennen auch die meisten durchs Leben wie ein geworfener Stein. . .“ (zitiert nach Rohr / Ebert).
Heute könnte man als Quintessenz das Verhalten vieler Rentner und Pensionäre aufgreifen, die im „Unruhestand“ weniger Zeit zu haben meinen, als sie je im Berufsleben hatten. Wie passt dieser Befund zu der Feststellung, dass der Enneagramm-Typ Neun neben dem Typ Sieben das psychosoziale Klima in Deutschland bestimmt? Sowohl der Südsee-Häuptling wie auch der typische Deutsche stehen ja unter dem Einfluss dieses Typs. Die Lösung besteht darin, dass der Südseehäuptling unter dem Einfluss der Wurzelsünde der Neun steht, die nach westlichem Verständnis als „Faulheit“ bezeichnet wird, wogegen – auch wenn es arrogant klingen mag – Europäer als erlöste Neuner gelten können, deren Geistesfrucht die „Tat“ ist (von der leider zu oft an den falschen Stellen etwas festzustellen ist). Ein Blick auf die Grafiken 4 bis 6 (Wurzelsünde) und 7 und 8 (Geistesfrucht) belegt diese Erklärung durch die „Abwesenheit“ der Neun unter den Wurzelsünden und die Dominanz unter den Geistesfrüchten.
Der ethnische Konflikt der beiden Stadien der Neun kommt nirgends klarer zum Ausdruck, als in den Bildern des ehemaligen Börsenmaklers und Malers Paul Gauguin. Gauguin hatte sich 1891 von der europäischen Kultur abgewandt und wanderte nach Tahiti aus. Er ließ sich dort in einem Teil der Insel nieder, der noch nicht vom Kolonialismus und der Zivilisation erreicht worden war. Er lebte in engem Kontakt mit der heimischen Maoribevölkerung und malte Natur und Menschen, so wie er ihre Welt, die durch ihren engen Kontakt mit der Natur geprägt war, auffaste. Er malte vor allem Frauen, an denen ihm ihre besondere Schönheit imponierte, die sich nach seinem Empfinden aus anderen Quellen speiste, als die der europäischen Frauen. Neben ihrer Schönheit bewunderte er ihre unverbildete Natürlichkeit, ihre Stärke, ihren Stolz, ihre Würde und die Selbstverständlichkeit, mit der sie auch schwere Arbeiten übernahmen oder sich träge dem geliebten Nichtstun hingaben.
Was hinter diesen Idealisierungen an inneren Triebkräften steckte, die den Maler beherrschten, offenbart sein Bild „Der Tag des Gottes“ (Mahana no atua engl.). Es hebt sich bereits durch seltsame Farben von den natürlichen Farbtönen der gezeigten Strandsituation ab, als ob das Bild von einem abstrakten Maler geschaffen wäre. Entgegen den sonst üblichen entspannten und gelösten Körperhaltungen strahl dieses Bild eine geometrische Strenge aus, wie sie im Klassizismus griechischer Herkunft und Errungenschaft europäischer Kultur gilt. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass es sich bei dem Bild um eine Komposition, die nach den vom Maler selbst gegebenen Hinweisen seinem „geheimnisvollen Zwerchfell“ – oder geläufiger gesagt, seiner Phantasie entsprungen ist. Es mischen sich hier Anleihen aus der griechischen Götterwelt – der Gott Taaroa auf dem Hügel, der Zeus verkörpern soll, zeigt Elemente von Buddhastatuen, die beiden Mädchen erinnern an die Korbträgerinnen, die einstmals Früchte zum griechischen Fest der Demeter trugen. Die Menschen würden sich in freier Entscheidung niemals in der zu sehenden Anordnung auf der Fläche verteilen. Das Arrangement erinnert stark an Bilder des französischen Malers Nicolas Poussin, der im 17. Jh. Motive aus der mythologischen Vergangenheit in Perfektion malte, d. h. strenge in der Motivwahl und im Bildaufbau. Ob dieses Gauguin gelungen ist, darf bezweifelt werden. Gerade in der Mischung verschiedener Motive und Stile überkommener streng reglementierter Kunststile kann die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu Mythen erkannt werden. Während Poussins Malerei sich auf eine Mythologie ungebrochener Tradition bezog, sind die mythischen Anklänge bei Gauguin fremdartig und galten seinen Zeitgenossen als primitiv und unakzeptabel. Der entscheidende Grund für die Ablehnung Gauguins lag nicht in der Mischung verschiedener Stile – dies hatten bereits andere, wie z. B. Karl Friedrich Schinkel in Preußen, erfolgreich praktiziert – , der entscheidende Unterschied lag in den unterschiedlichen Ebenen der geistigen Entwicklung, die hier im Sinne einer Prä- / Transverwechslung vermischt wurden, ohne transzendierende Prozesse wirksam werden zu lassen. Gauguins spielerischer Umgang mit Mythen entspricht der Funktion, die sie nach der Auffassung des Mythenforschers Joseph Campbell für nahezu alle Mythengläubigen hat: Sie erfüllen einen diesseitigen Zweck, den einzelnen in die Gesellschaft und deren Weltbild einzuführen, und hier haben sie keinerlei spirituelle oder transzendente oder mystische Funktion. Mit dieser weltlichen Integration erfüllen sie für die Bewusstseinsbildung eine zentrale, bleibende und äußerst wichtige Funktion. Es handelt sich also um eine simple kulturelle Sinngebung und entsprechende gesellschaftliche Integration. In diesem Sinn hat die klassizistische Überlagerung der Südsee-Strandszene keinerlei Bezug zur Örtlichkeit und kann allenfalls als Programm der geistigen Kolonisierung gedeutet werden oder als Verarbeitung persönlicher Probleme des Malers.
Der Kunstkritiker Edwin Mullins schreibt über die hier angesprochene Schaffensphase Gauguins: »Gauguin schuf in seinen Bildern die Mythologie eines tropischen Paradieses, das ihm das Leben grausam vorenthielt. Dies ist eines jener Bilder, die verständlich machen, warum gerade gequälte Menschen häufig Kunst schaffen müssen, und warum wir in einer Qual Frieden finden können, indem wir über Kunst nachdenken.«
Mit Gauguins Lebensende ist auch der Versuch gescheitert, die Mythen in der Malerei neu zu beleben. Die Zeit der Mythen und der religiösen Erzählungen ging zu Ende und die Zeit der abstrakten Kunst – die sich auch bei Gauguin vielleicht unbewusst schon ankündigte – ging den Umbrüchen in der Wissenschaft voraus.
»Unerlöste Neuner können alles vermeiden: das Leben, die Welt, das Schlechte und, das Gute, sogar sich selbst. Neuner haben keinen der Abwehrmechanismen zur Verfügung, mit denen die anderen acht Typen ihr Inneres vor dem Ansturm der Außenwelt zu schützen versuchen. Als Kinder des Paradieses leben sie in einer Welt, deren Gefahren und Verlockungen sie sich nicht gewachsen fühlen. Diese Schutzlosigkeit hat zur Folge, daß fast alles, was aus der Außenwelt auf die Neun zukommt, anstrengend und kräftezehrend ist. Sie verbraucht ihre Energie dafür, innere und äußere Konflikte zu verrneiden oder zu betäuben und starke Gefühle zu unterdrücken. Bei der Partnersuche sind sie zwischen starkem Verlangen nach Verschmelzung und persönlicher Autonomie hin- und hergerissen und sie haben deshalb Angst vor unkontrollierbaren Energien wie Sexualität oder Aggression. Obwohl sie oft hoch begabt sind, unterlassen sie es, sich konstruktiv in ihr Umfeld einzubringen.
Wenn die Neun zu ihrem Wesenskern gefunden hat, d. h. ihr Zaudern überwunden hat und Klarheit in die widerstreitenden Antriebe ihrer Person gebracht hat, die persönliche Befriedigung in ihren Taten erfahren hat wird sie vorwärts schreiten, ohne dass sie jemand aufhalten kann.
Symbole der Neun sind Elefanten, Faultiere, Delfine und Wale. Symbolisierende Länder sind alle jene Länder, die von indigenen Völkern beherrscht werden, stellvertretend hierfür wird oft Mexico genannt.
In der biblischen Geschichte vom Propheten Jonas, der vom Wal verschluckt wurde, kommen sowohl der biblische Patron der Neun als auch der Wal als Symbol der Neun vor. Der Psychologe Abraham Maslow nahm diese Geschichte psychologisch unter die Lupe und nannte moderne Parallelen hierzu das Jonas-Syndrom und gibt damit eine komprimierte Zusammenfassung des Dilemmas der Neun: »Wir fürchten uns vor unserem größten Potential (und vor unserem geringsten). Gewöhnlich haben wir Furcht, das zu werden, was wir in unseren vollkommensten Augenblicken nur flüchtig zu sehen bekommen. Wir genießen, ja begeistern uns für die gottähnlichen Potentiale, die wir in diesen Höhepunkten in uns entdecken. Trotzdem zittern wir gleichzeitig vor Schwäche, Ehrfurcht und Furcht vor eben diesen Potentialen. . . Wir sind einfach nicht stark genug, um noch mehr zu ertragen! Es ist zu erschütternd, zu mühsam. Deshalb sagen Menschen in… Augenblicken der Ekstase: ,Es ist zu viel‘ oder: ,Ich halte es nicht aus‘ oder: ,Ich könnte sterben‘ . . . Unser Organismus ist eben einem Übermaß an Größe nicht gewachsen. . . Für manche Menschen sind dieses Zurückschrecken vor dem eigenen Wachstumspotential, dieses Zurückschrauben eigener Erwartungen, diese Furcht, sich völlig aufzugeben, die freiwillige Selbstverstümmelung, die angebliche Dummheit, die falsche Bescheidenheit in Wahrheit nichts als Furcht vor der Großartigkeit. . .« (zitiert nach Rohr / Ebert).
Die Wendung zum Guten tritt für den Typ Neun durch die Erfahrung bedingungsloser Annahme und Liebe ein. Das stille Verlangen danach führt dazu, dass diese Menschen auch unakzeptables Verhalten von anderen lange tolerieren, nur um nicht abgewiesen zu werden oder sich der Konfrontation stellen zu müssen. In diesem Verhalten wendet sich ihr heimlicher Zynismus gegen sie selbst.
Neuner brauchen komplexe Aufgaben, die ihren Sinn für Ganzheit erfordern und ihre ganze Kraft in Anspruch nehmen. So kann sich ihre Sehnsucht nach Harmonie und Ruhe erfüllen. Der zum Typ Neun gehörende Psychologe C. G. Jung. »sah eine seiner wichtigsten Aufgaben darin, einen Beitrag zur Integration der menschlichen Seele zu leisten: Gut und Böse, Männliches und Weibliches – alles versuchte er zu vereinen. Er entdeckte auch das ,,kollektive Unbewußte„, jenen tiefsten Seelengrund, in dem die Gegensätze aufgehoben sind, weil dort alle Menschen gleich und ,,eins“ sind. Neuner fühlen sich tief verbunden mit dem Urgrund des Seins. Sie können anderen helfen, zu diesem Urgrund zurückzufinden.«
Rohr und Ebert weisen darauf hin, dass es kein Zufall ist, dass die Neun im Scheitelpunkt der schematischen Darstellung der Methode in Form eines Kreises steht. »Erlöste Neuner wären vielleicht die einzigen, denen man die Welt guten Gewissens anvertrauen könnte, ohne Angst haben zu müssen, daß sie sich bereichern, andere ausbeuten oder den eigenen Vorteil suchen. Sie könnten die Welt vielleicht retten; das Problem ist nur: Sie sind die letzten, die sich dazu aufraffen werden oder die den Ehrgeiz entwickeln, in einflußreiche Positionen aufzusteigen.« Ein Blick in die Vorstandsetagen deutscher Großunternehmen und das politische Spitzenpersonal führt zu der Erkenntnis, dass die Welt wohl in dem hier dargestellten Sinn nicht „am deutschen Wesen“ genesen wird, obwohl durchaus zu hoffen wäre, dass sich ein „erlöstes“ Deutschland aktiv in die Weltpolitik einmischt.
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