Gerechtigkeit und der Nahostkonflikt
Ausgehend von der in Boehms Buch dargelegten Idee der Gerechtigkeit, der auch der monotheistische Gott der drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam untersteht, schlägt Boehm die Aufgabe der Zweistaatenlösung für die Beilegung des Palästinakonflikts vor und plädiert in einem Artikel in der Ausgabe 05/2024 der ZEIT für eine föderative Lösung. Er schreibt: „Im Gegensatz zur Rede von zwei Staaten gemäß den Osloer Abkommen befürwortet diese Forderung de facto ein föderatives Friedensideal in jenem Geist, den auch ich als den einer »Republik Haifa« bezeichnet habe. Der Realitätstest für dieses Ideal beginnt heute: mit der Forderung, die palästinensischen Zivilisten so zu schützen, als wären sie unsere eigenen Bürger – genauso wie es die schamlose Duldung des Vorgehens der Hamas gegen israelische Zivilisten nicht tolerieren kann.“ Ich denke, dass aus diesem Gedanken ein gelebtes Beispiel integraler Praxis werden kann. In der aktuellen Konfliktsituation bedarf es jedoch mutiger Entscheidungen, die das tägliche Massensterben im Gaza-Streifen beenden.
Die in Caravaggios Bild aufgezeigte Spannung ist als Verpflichtung an den Menschen zu lesen, ein Gottesbild zu entwickeln, dass der Verantwortung für die Schöpfung gerecht wird und die menschengemachten Grenzen zwischen göttlichem Bereich und dem spirituellen Kern des Menschseins überwindet. Im Jahr des 300. Geburtstages des Philosophen der Aufklärung – Immanuel Kant – ist das von vielen postmodernen Autoren und Politikern für überholt gehaltene Thema „Aufklärung“ – die Pflicht aller Menschen, sich durch Vernunft und Wissen aus der Abhängigkeit zu befreien – aktueller und notwendiger denn je geworden. In einem Interview mit der Zeitschrift Publik-Forum nannte die französische Philosophin Corine Pelluchon als dauerhafte Gültigkeit der Aufklärung im Sinne von Kant „die Demokratie, die Idee, dass die Menschheit eins ist, und die Vernunft als ein Mittel, um uns von unseren Vorurteilen zu befreien.“ Um sie zu verteidigen sei es notwendig, sie radikal zu kritisieren. Als Mittel hierzu sieht sie eine Neubestimmung der Stellung des Menschen in der Natur – einer neuen philosophischen Anthropologie – die unter anderem auch eine neue Ethik im Bezug auf Tiere beinhaltet. Das 20. Jahrhundert sei gekennzeichnet durch eine Vernunft, die verrückt geworden ist und deckt sich weitgehend mit dem in Spiral Dynamics gebrauchten Begriff des „Humpty Dumpty-Effekts“. „Die Vernunft ist nicht mehr, wie bei Kant und Rousseau, das Organ des Universellen, sondern sie ist eine Waffe geworden, die auch dem Bösen dienen kann, wie die Geschichte zeigt“. Wie die Tiere ist auch alles andere in der heutigen Zeit auf die rechten Quadranten der Integralen Theorie reduziert und verdinglicht worden. Dem setzt Pelluchon eine Wertschätzung für das Leben und seine Transformation entgegen, d. h. „einer Art und Weise mit den anderen zu leben, die keine Herrschaft impliziert„.
Auf dem Kriegsschauplatz im Nahen Osten – dem Konflikt Israels mit der palästinensischen Hamas – zeichnet sich mit den Angriff der Huthi-Rebellen auf den Schiffsverkehr im Roten Meer und dem Drohnen–Angriff auf einen US-Stützpunkt in Jordanien die zunehmende Gefahr eines Flächenbrandes im Nahen Osten ab. Für die im Gazastreifen heimatlos und zu Gefangenen der Hamas gemachten Menschen – nahezu zwei Millionen – hat sich die Lage durch die Aufdeckung einer Beteiligung palästinensischer Mitarbeiter des UN-Palästinenserhilfswerks an den terroristischen Aktionen der Hamas gegen Israel weiter zugespitzt. Als Reaktion hierauf haben Deutschland und die USA die finanzielle Unterstützung dieser UN-Organisation vorerst eingestellt.
Die aktuellen Entwicklungen im Gaza-Streifen lassen eine Rafah-Offensive Israels erwarten und bedeuten die akute Bedrohung von ca. einer Million Flüchtlinge aus dem nördlichen Bereich des Gebiets, die hier auf Druck Israels in primitiven Unterkünften hausen. Trotz internationaler Proteste ist bis zur Abfassung dieser Zeilen keine Abkehr von diesen Plänen bekannt.
Angesichts der Kämpfe innerhalb des Gaza-Streifens zwischen der Hamas und Israel und der drohenden Tötung von Hunderttausenden Zivilisten stellt sich immer mehr die Frage nach dem moralischen Empfinden in Zeiten der Gewalt. Offensichtlich ist jeder nur denkbare Maßstab für eine annähernd gerechte Kriegführung verloren gegangen und es drängt sich – wider alle Vernunft – die Frage nach dem Bösen ansich auf. Die in diesem Beitrag vorgestellten Untersuchungen zu Gerechtigkeit haben deutlich werden lassen, dass Gesellschaften über lange Zeiträume Ungerechtigkeit erdulden und plötzlich die Mauer des Schweigens durchbrechen. Das deckt sich mit Ergebnissen der Friedens- und Konfliktforschung, die festgestellt hat, dass Ungerechtigkeit selbst kaum als Auslöser für Kriege zu benennen ist, wohl aber erhöht sie die Mobilisierungsbereitschaft zur Auflehnung hiergegen.
Die Jahrzehnte bestehende Situation großer Not im Gaza-Streifen unter Isolation von dem dafür haupverantwortlichen Israel hat der Hamas gegenüber den palästinensischen Bewohnern des Gaza-Streifens die Legitimation gegeben, im Namen ihrer Gerechtigkeit zu handeln. Dadurch werden weder die Taten der Hamas noch die Kriegführung Israels gerecht, es bleibt eine sinnlose Umklammerung von zwei irrlichternden „blinden Seelen“.