Eine weitere Frage stellt sich hinsichtlich der Folgen nachlassender oder zunehmender Wahrnehmung. Wie in Abbildung 6 abzulesen ist, bestehen zwischen Wahrnehmung und Verdrängung Zusammenhänge, die mehr oder weniger eng an die Wahrnehmung angelehnt verlaufen. Um hier mehr Klarheit zu schaffen, ist deshalb zunächst eine kurze Definition von Verdrängung erforderlich.
In der Psychologie des Alltags wird Verdrängung verbreitet als seelischer Abwehrmechanismus gesehen, der dazu dient belastende, schmerzliche, unangenehme Erinnerungen, Gedanken und Wünsche aus dem Bewusstsein zu verbannen und in das Unbewusste zu verschieben. Bis zu einem bestimmten Grad handelt es sich hierbei um einen sinnvollen Vorgang, der davor schützt, an den unvermeidlichen seelischen Verletzungen , auf die wir keinen Einfluss haben – also das Leiden an den persönlichen Beziehungen, die von Launen anderer Menschen bestimmt sind oder das, was persönliches Schicksal genannt wird – zu verzweifeln.
Darüber hinaus müssen wir jedoch anerkennen, dass die Evolution kein abgeschlossener und auch kein abschließbarer Prozess ist. Sie bringt stets größere Transzendenz und Differenzierung mit sich, und das bedeutet, dass jeder Evolutionsschritt mit einem Faktor möglicher Fehlanpassungen behaftet ist, denn Transzendenz kann zu weit gehen und dann Verdrängung werden. Das höhere Neue überwindet und bewahrt das Niedrigere nicht, sondern möchte es nur auslöschen, verdrängen oder leugnen, und das gelingt nur so gut, wie die Verleugnung des eigenen Ich – nämlich gar nicht. Hieraus entsteht die dunkle, pathologische Dimension des Verdrängens. Sie beginnt da, wo das Beiseiteschieben und Abwehren nicht mehr als probate Strategie der Lebensbewältigung durchgeht, sondern krank macht. Denn die verdrängten Bewusstseinsinhalte, so lehrt die Psychologie, sind nicht wirklich vergessen und erledigt. Sie sind lediglich dem Zugriff des Bewusstseins entzogen, in den seelischen Untergrund verschoben. Dort arbeiten sie im Verborgenen weiter, lösen unter Umständen massive Ängste, Verhaltensstörungen, Blockaden und depressive Zustände aus.
Es ist jedoch grundsätzlich darauf hinzuweisen, dass Verdrängungen nicht in der hier dargestellten Methodik erfassbar sind, da sie ja unbewusst sind und nicht von Betroffenen selbst geäußert werden können. Der Aussagewert der roten Verlaufskurve in Abbildung 6 stellt daher – wie auch die Kurve der Wahrnehmung – lediglich das wirklichkeitsgetriebene Interesse an dem jeweiligen Thema dar, soweit es sich in Veröffentlichungen niederschlägt.
Zeiten gestörter Wahrnehmung sind als Warnung vor psychischen Prozessen zu deuten, die auf misslungene Integration von Veränderungen in der persönlichen Lebenswelt zurückzuführen sind. Dabei kann es sich um Verdrängungen (z. B. Amnesien, Kriegstraumen) oder Abspaltungen (Dissoziation) handeln. In diesem Sinne sind die oben dargestellten Tiefpunkte nach dem zweiten Weltkrieg und am Ausgang der Covid-19-Pandemie in den Entwicklungsverläufen für Deutschland zu erklären. Eine logische Übereinstimmung zwischen den beiden Kurven ergibt sich, wenn die rote Kurve um ca. 10 Jahre nach links verschoben wird. Damit wird die Zeitverschiebung zwischen dem Ereignis und seiner fachlichen Aufarbeitung Rechnung getragen.
In Abbildung 7 wird eine Übersicht für bedeutende Länder hinsichtlich ihrer Affinität zu den fünf Sinnesorganen gegeben. Wie bereits eingangs erwähnt, haben die Sinnesorgane für die seelisch-geistige Entwicklung des Menschen entscheidende Bedeutung und machen im Zusammenhang mit dem Gehirn und weiteren Körperfunktionen die Wahrnehmung aus. Aus der Grafik sind gravierende Unterschiede zwischen den Ländern abzulesen. Eine der möglichen Ursachen ist die sprachliche Repräsentanz der Sinne, die einerseits zwischen den einzelnen Sprachen und andererseits von Sinn zu Sinn besteht. Es kann sich deshalb nur um eine grobe Übersicht handeln.
Aus eigener Anschauung kann ich über das Ergebnis für Deutschland sagen, dass die Dominanz des Sehens zwar zu erwarten war, jedoch nicht in dem dargestellten Ausmaß gegenüber dem Hören. Wesentlichen Anteil hieran haben sicherlich das Fernsehen und das Internet. Vor allem letzteres hat die Kommunikation zwischen den Menschen vom Hören per Telefon zum Sehen per Bildschirm verlagert. Dabei spielt die Erfahrung eine große Rolle, dass „ein Bild mehr sagt als 1000 Worte“. Unter diesen Bedingungen überrascht das diesbezüglich vergleichbare Ergebnis für das Vereinigte Königreich nicht. Dagegen überrascht es umso mehr, dass in den Vereinigten Staaten das Hören eine überragende Rolle spielt. Insoweit besteht eine Ähnlichkeit zu Frankreich. Ein möglicher Erklärungsansatz ist die kulturelle Durchmischung, die in den USA identitätsstiftende Bedeutung hat und in Frankreich zur liberalen Tradition gehört. Hieraus ergeben sich Gründe, der Sprache einen besonderen Stellenwert beizumessen, da Sprache – anders als Bilder – als Mittel zur Integration dient, indem sie einen unmittelbaren Austausch von Gedanken und Gefühlen ermöglicht und zur Konfliktvermeidung unverzichtbar ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies für England einen Hang zur Illiberalität, obwohl das Land in hohem Maße von Menschen aus verschiedenen Kulturen bewohnt ist. (An dieser Stelle weise ich auf die sporadisch öffentlich werdenden rassistische Unruhen hin, die von der Regierung umgedeutet werden.) Für Deutschland stellt sich die Situation ähnlich wie in England dar.
Eine besondere Situation lässt sich für Spanien und Russland aus den Ergebnissen ableiten. In keinem anderen Land spielt das Sehen eine vergleichbar große Rolle wie in Spanien. Neben dem Sehen spielt das Hören hier die geringste Rolle in den sechs Ländern und das Schmecken erscheint äußerst marginal. Riechen und Tasten erscheinen gar nicht. Dieses Ergebnis bestätigt das für die spanische Kultur verbreitete Bild einer Machokultur, in der die heldenhafte Rolle des Mannes, der Stierkampf und die straffe Moral gepflegt werden.
Ein weiteres Land mit ausgeprägt eigenständiger Kultur ist Russland. Hier gibt es offensichtlich gleich starke Bedeutungen für Schmecken, Sehen und Hören. Möglicherweise ist diese Mischung aus weitgehend räumlich gegliederten Kulturen entstanden, die unter der russischen Sprache zusammengefasst werden. Hieraus könnte sich das weitgehende Desinteresse an der Einflussnahme auf politische Entscheidungen erklären, wie es zur Zeit anlässlich des Ukrainekriegs zu sehen ist. Bezüglich des Geschmacks ist es möglich, dass sich hierin auch der Einfluss der gegenwärtigen Pandemie zeigt.
Die für Russland, UK und Frankreich nachgewiesenen und deutlich ausgeprägten Anteile des Tastsinns deuten auf eine verbreitet gepflegte Körperlichkeit in diesen Ländern hin, wie sie sich in Begrüßungsritualen mit Umarmung und Küssen sowie im Händeschütteln zeigen. Diese Höflichkeitsformen wurden in manchen Ländern in der Pandemie unterbunden oder aufgrund von technischen Schutzmaßnahmen (Maskenpflicht) ganz oder teilweise unterbunden. Jedoch werden Sie nach Beendigung der Pandemie voraussichtlich wieder zunehmen.
Über diese länderspezifischen Unterschiede hinaus ist auf die Bedeutung der Sinne für die menschliche Evolution hinzuweisen. Nach neueren Forschungsergebnissen funktioniert der Wahrnehmungsapparat nicht als bloßes Nebeneinander separater Sinneskanäle, sondern erweist sich als eng verflochtenes Netzwerk. Was wir hören, hängt daher z. B. in hohem Maß davon ab, was wir sehen und fühlen. Was wir tasten, hören, sehen, riechen und schmecken, wird vom Gehirn nicht getrennt verarbeitet, sondern als dichtes Datengeflecht. Das Gehirn ist ein multisensorisches Organ, das unaufhörlich die Informationen der verschiedenen Sinnesorgane kombiniert. Hierdurch ist es möglich, dass die hervorgebrachten Wörter der Sprache durch das Ablesen von den Lippen wahrgenommen werden oder Blinde durch Abtasten bestimmter Symbole die Blindensprache verstehen. Die Werbung nutzt diese Zusammenhänge für die Entwicklung von Produkten, z. B. indem die beworbenen Kartoffelchips durch ein besonders knackiges Kaugeräusch die Empfindung eines besonderen Geschmacks erzeugt, Spracherkennungssoftware funktioniert besser, wenn sie auf Einspielung von aufgezeichneten Mundbewegungen des aufzuzeichnenden Textes zugreifen kann. Besonders deutlich tritt die multisensorische Arbeitsweise des Gehirns bei der Synästhesie zutage, bei der ansonsten gesunde Menschen Töne sehen oder Farben schmecken. Evolutionsbiologen gehen davon aus, dass diese Fähigkeiten dem Menschen entscheidende Entwicklungsvorteile gebracht haben.
Eine erweiterte Sicht auf das Sehen, die als Beispiel für den gesamten Komplex der Wahrnehmung richtungweisend sein kann, hat der Biologe Rupert Sheldrake entwickelt. Sie geht über die Aktivitäten des Gehirns hinaus und knüpft an kosmologische Betrachtungen an, die er morphogenetische Felder nennt. Hier will ich nur kurz auf die Funktion der Augen eingehen, da ich selbst die diesbezüglichen Vohersagen Sheldraks geprüft habe und bestätigt fand. Sheldrake schreibt: „Wenn ich einen Menschen oder ein Tier anschaue, tritt mein Wahrnehmungsfeld mit dem Feld dieser Person oder dieses Tiers in Wechselwirkung, was ihnen die Möglichkeit gibt, meinen Blick zu bemerken.
Die Erfahrung sagt uns, dass unser Geist über unser Gehirn hinausgeht. Wir sehen und hören die Dinge in dem uns umgebenden Raum. Es besteht jedoch ein starkes Tabu gegen die bloße Andeutung, mit dem Sehen und Hören könnte eine Projektion nach außen verbunden sein….
Wenn ich etwas anschaue, wird es von meinem Wahrnehmungsfeld »eingehüllt«. Mein Geist berührt das, was ich sehe. So könnte es dann auch sein, dass ich einen Einfluss auf einen anderen Menschen ausübe, wenn ich ihn nur anschaue. Wenn ich jemanden, der mich weder sehen noch hören kann und nicht weiß, dass ich da bin, von hinten anschaue, spürt dieser Mensch meinen Blick dann?“ (Sheldrake, Rupert. Der Wissenschaftswahn: Warum der Materialismus ausgedient hat. O.W. Barth eBook. Kindle-Version.)
Meine Bitte: Probieren Sie es selbst aus!
In den folgenden Grafiken gebe ich einen Überblick über die jüngste Entwicklung des Interesses an den fünf Sinnen im deutschen und englischen Sprachraum. Hierzu war ich auf die Abrufstatistik der entsprechenden Artikel der Wikipedia angewiesen, da Zeitreihen in Suchmaschinen nur sehr beschränkt herzustellen sind.
Aus der Grafik für den deutschen Sprachraum ist die Reihenfolge Riechen – Schmecken – Sehen – Hören – Tasten abzulesen. Diese Rangfolge ergibt gegenüber der aus dem Internet gewonnenen Rangfolge der Abbildung 7 keine Übereinstimmung, außer dass Sehen zeitweise vor Hören rangiert. Eine mögliche Erklärung ergibt sich aus der Begrenzung auf die Nutzer der Wikipedia einerseits und die Begrenzung auf die Landes-Domain andererseits. Darüber hinaus ergeben sich zwischen Sprachraum und Domainbereich undefinierbare Unterschiede.
Aus dem hohen Stellenwert, den Riechen und Schmecken im Zeitverlauf gewonnen haben ist der Rückschluss zu ziehen, dass die Motivation zum Abruf der Artikel aus der oben erwähnten Betroffenheit in der Pandemie herrührt. Dennoch ergibt sich keine Übereinstimmung mit den Internetdaten, die hier lediglich ohne weitere Erklärung festzustellen ist. Dagegen kann für die abzulesende Tendenz festgestellt werden, dass diese mit der oben festgestellten negativen Gesamttendenz übereinstimmt. Als weiteres Ergebnis ist auf die konstant gleichbleibende Bedeutung des Tastsinns auf relativ niedrigem Niveau hinzuweisen.
Die für den deutschen Sprachraum geltenden Anmerkungen gelten sinngemäß auch für die nächste Grafik. Hier ergibt sich die Rangfolge Geschmack – Sehen/Tasten – Hören – Riechen. Besonders auffallend ist zunächst, dass am Jahreswechsel 2015/2016 ein Absturz der Kurve zu sehen ist, der mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Abschluss der zwischen der EU und England geführten Reformverhandlungen zur Verhinderung des Brexit zurückzuführen ist.
Eine weitere Auffälligkeit stellt der sprunghafte Anstieg der Riechkurve dar. Eine Ursache hierfür ist möglicherweise in der Bearbeitung des Wikipedia-Artikels zu suchen.
Auch im englischen Sprachraum ist eine negative Tendenz zu sehen, die sich an die an die in Abbildung 3 zu sehende Stagnation der Entwicklung anschließt.
Schlussbemerkungen
Die Gesellschaft der alten Bundesrepublik basierte auf auf einigen ungeschriebenen Solidarverträgen, die von allen staatstragenden Parteien respektiert wurden. Dazu gehörte die von den Alliierten eingeforderte politische Konstruktion des neuen Staats als föderales System, der aus der katholischen Soziallehre motivierte Generationenvertrag, auf dem die gesetzliche Rentenversicherung basiert und die „Soziale Marktwirtschaft“, die als „dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Staatswirtschaft konzipiert ist, und die Verantwortung des Staates für den Ausgleich zwischen Arbeitnehmer– und Kapitalinteressen zum Ziel hat. Das sich auf dieser Basis entwickelte politische System führte trotz einiger Höhen und Tiefen zu einer soliden und prosperierenden Wirtschaft, die als Beispiel für die kapitalistische Welt diente und zu wachsendem Wohlstand für alle führte. Erste Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der gut geölten Wohlstandsmaschine tauchten 1972 mit dem Bericht des Club of Rome unter dem Titel „Die Grenzen des Wachstums“ auf und sorgten für anhaltende Diskussionen, die weit in die Gesellschaft hineinreichten und sorgten für ein kurzes Innehalten in der öffentlichen Meinungsbildung (siehe Abbildung 1, obere Grafik). Bereits hier zeigt sich, dass die deutsche Presse diese Diskussion nicht abbildet.
Mit dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ im Ostblock trat die verfassungsrechtlich bedeutsame Frage auf, wie die Vereinigung der beiden Deutschland erfolgen sollte. Verfassungsrechtlich konnten nach dem Grundgesetz zwei Wege zur deutschen Einheit beschritten werden, nämlich der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 oder die Ablösung des ursprünglichen Provisoriums Grundgesetz durch eine neue gemeinsame Verfassung gemäß Art. 146 GG a.F. und eine Fusion von DDR und Bundesrepublik. Für die zweite Alternative und eine Volksabstimmung über die neue Verfassung setzten sich weite Teile der DDR-Bürgerrechts- und Oppositionsbewegung und die westdeutsche Linke, die Grünen und viele Sozialdemokraten ein. Die Entscheidung fiel sehr bald zu Gunsten der pragmatischen Lösung eines Anschlusses der ostdeutschen Bundesländer an die alte Bundesrepublik. Damit entstand ein kritisches Potential, dass es in dieser Breite in der alten Bundesrepublik nicht gegeben hatte und erstmals die Möglichkeit gehabt hätte, die in der Enttrümmerungsphase nach dem Krieg verdrängten politischen Richtungsentscheidungen demokratisch offen zu diskutieren. Griffig formuliert bedeutete dies die zweite verpasste Chance, wenn man von den Revolutionsversuchen in der ersten Hälfte des 19. Jh. absieht.
Für die Zeit nach den späten 1980er Jahren bis zum Abbruch der oberen Kurve in Abbildung 1 im Zeitraum 2004/2005 ist ein verstärkter Anstieg der Wahrnehmung zu sehen, der möglicherweise auf eine kritische Beobachtung der Vorgänge im Rahmen der Vereinigung der deutschen Länder und deren Folgen (Treuhandanstalt) zurückgeht.
Innerhalb dieses Zeitraffers der politischen Entwicklung in Deutschland ist mit dem Jahr 2004/2005 der Kulminationspunkt der Nachkriegsentwicklung in Deutschland, die durch wirtschaftlichen Erfolg und erhebliche politische Defizite gekennzeichnet ist, erreicht. Deshalb trifft die in diesen Wochen zu hörende Beurteilung der Krawallmacher als Gegner des staatlichen Systems wahrscheinlich zu – allerdings in einer unzulässigen Verkürzung der Ursachen. Wenn an Silvester überwiegend junge Menschen – auch mit Migrationshintergrund – Vertreter des „Systems“ mit Böllern, Raketen oder sogar Molotow-Cocktails angreifen, ist dies eine Folge gestörter Wahrnehmung auf beiden Seiten: Hier die Ordnungskräfte der Polizei und der Feuerwehr, die mit Blaulicht und Signalfarben deutlich zu erkennen sind und dort die weitgehend anonyme indifferente Gruppe, die sich bewußt unkenntlich macht. Es handelt sich also um extrem asymmetrische Kommunikation, die systemisch organisiert und eingeübt ist (siehe oben : Sehen und Hören). In dieser Situation fühlen sich Angreifer als Teil einer großen Protestbewegung, die sich in den vergangenen Jahren aus verschiedensten Anlässen und unterschiedlichsten Milieus auf deutschlands Straßen und auch in terroristischen Aktionen und Gewaltverbrechen bemerkbar gemacht haben. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis hilfreich, dass es in der Gesellschaft „ganz unten“ wo unterschiedlichste Schicksale im Gefängnis oder im Obdachlosen-Asyl zusammentreffen auch Solidarisierungen entstehen, die sich spontan bilden, um konkrete Problemlösungen herbeizuführen. Auch in dieser Hinsicht ist Politik aufgerufen, ein Menschenbild zu übernehmen, dass sich in den letzten Jahrzehnten in der Verhaltensforschung durchgesetzt hat und zu der Erkenntnis geführt hat, dass der Mensch besser ist, als sein Ruf. Der Staat sollte endlich lernen, seine Bürger ernst zu nehmen und auf Augenhöhe mit ihnen zu sprechen. Damit ist nicht gemeint, den „netten“ Polizisten zu formen, der im Straßenkampf Nelken im Maschinengewehr trägt….
Mit der Entwicklung neuer konventioneller Waffen ist die Möglichkeit gewachsen, unter dem atomaren Schirm (eben nicht „atomarer Schutzschirm) vermehrt Kriege zu führen. Das betrifft nich nur Russland und China, sondern alle Staaten, die sich solche Waffen leisten können oder herstellen können und auch die USA und ihre Verbündeten. Damit im Zusammenhang stehend und darüber hinaus werden die Folgen des Klimawandels in unvorstellbare Notsituationen führen, für die keine Bewältigungsstrategien vorliegen. In dieser Hinsicht muten die von den Parteien verfolgten Konzepte der Unabhängigmachung vom Ausland geradezu hinterwäldlerisch an. Nicht die Abkopplung aus internationalen Abhängigkeiten muss das Ziel sein, sondern die internationale Zusammenarbeit zur Vermeidung noch größerer Klimagefahren als sie bereits heraufbeschworen sind. Das bedeutet Einschränkung des westlichen Lebensstils und Einräumung angemessener Entwicklungsspielräume für die zweite und dritte Welt. Dieses kann nur durch die Herstellung eines politischen Grundkonsens, vergleichbar einem Generationenvertrag, erfolgen. Selbst die Bildung einer „Rettungsregierung“ sollte – soweit die demokratische Legitimation (z. B. durch eine Volksabstimmung) gegeben ist – nicht ausgeschlossen werden.
Der Zusammenbruch gemeinsamer Wahrnehmung kann nicht durch die Wahrnehmung politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Interessengruppen geheilt werden. Mit Querdenkern, Corona-Leugnern, Milliardären, Almosenempfängern, Dauerarbeitslosen und Islamisten diskutiert man besser nicht bevor man ihnen Alternativen aufweisen kann – da hilft auch kein breit gestreuter Doppel-Wumms oder Versprechen einer Klimarettung ab 2030. Hilfreich sind nur sofortige durchgreifende Schritte der Entscheidungsträger einer nachholenden Demokratisierung mit Rückverlagerungen von Verantwortungen und Finanzmitteln.
Ps.: In einem ZEIT-Kommentar zum aktuellen Buch von Prinz Harry schreibt Patrik Schwarz: „Im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter der Wiederkehr von Katastrophen, ist in persönlichen wie politischen Kontroversen oft eine Konkurrenz der Empfindlichkeiten zu besichtigen. Das Motto dieser Rechthaber-Schlachten, vom heimischen Familienstreit bis zur Staatsbühne, folgt viel zu oft dem Prinzip Harry: Weil mein Schmerz größer ist als deiner, ist auch meine Wahrheit wahrer als deine.
Ein derartiges Betroffenheits-Bingo verrät sowohl ein falsches Verständnis von Therapie als auch von Gesellschaft. Am Ende guter Therapien – mit denen Harry Erfahrung hat – geht es gerade darum, sich nicht länger als Opfer zu verstehen, sondern sein Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen, weder hart gegen sich selbst noch wehleidig gegenüber der Welt.“
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