Das Jahrhundert der Aufklärung
Mit dem „Jahrhundert der Aufklärung“ ist im Kern das 18. Jahrhundert gemeint, das eine Befreiung des Menschen „aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Immanuel Kant) bedeuten sollte, wobei mit Unmündigkeit von Kant das „Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ gemeint war. Im System der Spiral Dynamics ist es der Durchbruch von der Herdenmentalität im Wertesystem Blau zum Wertemem Orange, das von der Vernunft beherrscht wird und einen individualistischen Wahrheitsbegriff entwickelt, der die westlichen Industriestaaten beherrscht.
Das Weltverständnis ist von der Vorstellung geprägt, die Natur könne durch die Anwendung von Wissenschaft, die ewig geltenden Naturgesetzen gehorcht, wie eine gut geölte Maschine beherrscht und gestaltet werden. Die Leistungsfähigkeit der Systeme wird an der Produktion materieller Güter gemessen und die Wirtschaft dominiert das politische und gesellschaftliche Geschehen. Kommunikation findet nach den Regeln des Schachspiels statt, wer das letzte Wort hat ist der Gewinner, der über Verlierer die Nase rümpft.
Typische Hochburgen orangener Verhältnisse sind Kapitalbörsen, Mode- und Kosmetikindustrie, entstehende Mittelklassegesellschaften, Trophäenjäger, kalte Krieger und materialistisch ausgeprägte Gesellschaftsformen.
Der Übergang von WMem Blau zu Orange bedeutete konkret den Abschied von den Denkweisen, die sich in der Wissenschaft unter dem Einfluss antiker und islamischer Wissenschaften – speziell der Alchemie und Medizin – in Europa erhalten hatten. Als herausragende Belege für die große Bedeutung, die den Denkweisen dieser alten Traditionen zukamen, können im Bereich der Physik Isaac Newton und im Bereich der Biologie Gregor Mendel genannt werden. Newton folgte u. a. dem alchemistischen Prinzip „Was unten, ist so, wie das, was oben ist“ und konnte so vom Fall des Apfels auf das Gravitationsgesetz schließen. Mendel war auf der Suche nach der „Stammform“ der Pflanzen und fand – ohne selbst dieses zu erkennen – das Gegenteil seiner Arbeitshypothese, nämlich die Vererbungsgesetze. Ähnliche Beispiele lassen sich auch für die heutige Forschung finden, ohne das sie der Forschungsmethode angelastet werden.
Wie sich bereits in der Architektur der Gotik andeutete, gewann die Architektur mit der Entwicklung dieses Stils einen leitenden Einfluss auf die darstellenden Künste, die zu neuen Ideen in der Malerei führten. So entwickelte sich in der Wand- und Deckenmalerei ein Spiel mit Illusionen, das die räumlichen Begrenzungen der Architektur zu überwinden trachtete und transzendente Anmutungen erzeugte, die im Barock zu höchster Vollkommenheit entwickelt wurden. Weitere Konstanten dieses Zeitraums sind die antiken Säulenordnungen, die Darstellungen antiker Götter und Helden, die Benutzung von Hell- / Dunkelkontrasten und die Bevorzugung der drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau, die in Kombinationen mit Hell- / Dunkeleffekten verwendet wurden. Darüber hinaus finden sich in Bildern dieser Zeit häufig allegorische Bildsprachen und verschlüsselte Botschaften.
Im 18. Jahrhundert kündigt sich ein Wandel des Barockstils an, der die Verwendung der genannten gemeinsamen Stilmittel aufweicht. Er ist vorwiegend an vermehrten und üppigeren Verzierungen und Dekorationen ablesbar. Für diese Besonderheiten wurde im 19. Jh. der Begriff Rokoko geprägt. Die Darstellungen von Nacktheit überwinden die bis dahin gewahrte Distanz zwischen Betrachter und imaginierter Person und lassen erotische Gefühle zur Geltung kommen. Diese Tendenz setzt sich auch in den Porträts der höfischen und adeligen Gesellschaft – z. B. bei Francisco de Goya – fort. Zur Malerei des Rokoko schreibt die Kulturhistorikerin Eva Gesine Baur, es gehe der erhabene Stil des Barock in die spielerische Gelöstheit dieses Stils über. „Empfindung und Gefühl dominieren vor der Vernunft. Doch galante Feste und Schäferspiel, raffinierte Eleganz und amouröse Idylle sind oft nur theatralische Inszenierung, heiter-elegische Träume, hinter denen sich das Wissen vom verlorenen Paradies verbirgt.“ (Zitat: Eva Gesine Baur)
Gegen Ende des 18. Jahrhundert fand 1789 die Erhebung des Bürgertums gegen Kirche und Adel in Frankreich statt. Bereits in der Zeit von 1775 bis 1783 hatten die englischen Kolonien gegen die Kolonialmacht Großbritannien mit Hilfe Frankreichs ihre Selbständigkeit erkämpft. Dieses waren die Höhe- oder Tiefpunkte eines Jahrhunderts der Kämpfe, Nationalismen und technisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse, das sich hinter der verspielten Inszenierung des Rokoko verbarg.
Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Verbesserung der Seefahrt mit Hilfe des von 1734 bis 1759 von John Harrison entwickelten Schiffschronometers. Diese Technik machte eine wesentlich genauere Positionsbestimmung auf See möglich. Das nebenstehende Bild des britischen Malers William Turner zeigt ein Sklavenschiff, das im Dreieckshandel europäische Waren nach Afrika, afrikanische Sklaven nach Amerika und von Sklaven produzierten Zucker nach Europa beförderte. Auf diese Weise wurden etwa 12 Mio. Afrikaner nach Amerika zwangsmigriert. Hierin zeigte sich eine spezielle Form des Rassismus, der darüber hinaus für die Entwicklung der europäisch geprägten Kultur eine bedeutende Rolle spielt und bis in die Gegenwart aktiv ist.
Turners Gemälde liegt ein tatsächliches Ereignis aus dem Jahr 1781 zugrunde. Das britische Sklavenschiff Zong befand sich auf der Überfahrt von Accra nach Black River auf Jamaika und hatte 442 zum Verkauf bestimmte Afrikaner an Bord. Aufgrund eines Navigationsfehlers und der Überfrachtung des Schiffes mit mehr als dem Doppelten der zulässigen Zahl Sklaven kam es auf dem Schiff zur Wasserknappheit. Auf Anweisung des Kapitäns Collingwood wurden 142 Menschen ins Meer geworfen, um die übrigen Sklaven durchzubringen. Dieser Massenmord war auch durch Versicherungsfragen motiviert. In der zivilrechtlichen Auseinandersetzung um die Geschehnisse musste die Versicherung eintreten, da die Sklaven auf See gestorben waren, also während der Geltung des Versicherungsschutzes, und ihre Tötung als „Notwurf“ zur Rettung der übrigen „Ladung“ gerechtfertigt gewesen sei. Ein Mordprozess wurde hingegen nie geführt.
Auf Turners Bild sind die grausigen Ereignisse durch seine Maltechnik und die im Wasser treibenden Leichenteile gut nachzuvollziehen. „Es zeigt im Hintergrund der Komposition einen Sonnenuntergang mit dramatischer Wolkenformation, die einen stärker werdenden Sturm ankündigt. Links davon treibt ein dreimastiges Segelschiff in einer aufgewühlten See, wahrscheinlich ein Schoner, der nur noch ein Stagsegel gesetzt hat. Es ist ein Sklavenschiff, das in einen Sturm geraten ist und nun versucht, aus der Situation herauszukommen. Die Mannschaft hat bereits tote und sterbende Menschen, die immer noch an den Füßen gefesselt sind, über Bord geworfen. Im Vordergrund des Gemäldes erkennt man im Wasser treibende menschliche Körper, zu denen bereits verschiedene Meerestiere in teilweise fantasievoller Darstellung und Vögel stoßen, um die Körper zu fressen. Deutlich zu erkennen sind die schwarzen Fußfesseln der an der Oberfläche treibenden Leichen. Am rechten Bildrand kommen zwei monströs große Wesen, durchaus als Seeungeheuer aufzufassen, herangeschwommen.
Den Mittelpunkt des Bildes bildet die von den Wolkenfetzen umrandete untergehende Sonne, die gleichzeitig als Lichtquelle für die dramatische Beleuchtung sorgt. Die Gliedmaßen der im Wasser treibenden Körper deuten vom Vordergrund des Bildes aus auf das Schiff. Um die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die im Wasser treibenden Sklaven zu lenken, hat Turner deren Fußfesseln, in der Literatur als Ketten bezeichnet, besonders kontrastreich dargestellt. Eine Horizontlinie, die den Ozean vom Himmel trennt, ist nicht deutlich erkennbar. Die Grenze verschwimmt, weil Himmel und Meer voller Bewegung sind. Die Farben Rot, Orange und Gelb verdeutlichen in diesem Bild das Leiden und erinnern fast an ein Feuer. Während Turner sie in der Bildmitte gesättigt und leuchtend mit kräftigen Pinselstrichen aufgetragen hat, erscheinen sie in den Ecken der Bildfläche eher matt; auch so soll der Blick auf die Mitte des Bildes zu dem Schiff und der Sonne gelenkt werden.
Die Farbigkeit des Bildes erstreckt sich von einem reinen Weiß über ein ansonsten das Ganze dominierendes Zinnober, mit einem Smaragdgrün und Purpur, die der Künstler pastosartig und teilweise mit einem Malmesser aufgespachtelt hat (aus der Beschreibung des Bildes von William Makepeace Thackeray von 1840, zitiert nach WIKIPEDIA).
Im britischen Museum ist diese Trommel zu sehen. Sie wurde im Gebiet der westafrikanischen Akan-Völker angefertigt und gelangte sehr wahrscheinlich mit einem Sklavenschiff nach Amerika. Ihr ursprünglicher Zweck war vermutlich die Verwendung in einem Trommelorchester gewesen, das zu Festen der afrikanischen Eliten aufspielte. Ihre spätere Verwendung auf dem Weg nach Amerika bleibt im Dunkel der Geschichte. Jedenfalls kann sie nicht zur Unterhaltung der Sklaven gedient haben. Dagegen ist ihr Einsatz zum Zweck «die Sklaven tanzen zu lassen», sehr wahrscheinlich. Der an der Universität Princeton lehrende Afroamerikaner Kwame Anthony Appiah, dessen Familie in ihren afrikanischen Wurzeln Verbindungen zum Sklavenhandel hatte, wird von Neil MacGregor zitiert: «Sobald die Fracht [die Sklaven] verladen ist, legt das Schiff ab; die armen Teufel werden, noch in Sichtweite ihrer Heimat, krank und sterben … Man kann sie nur am Leben erhalten, indem man ihnen ein Musikinstrument vorspielt, sei es noch so primitiv.» Eine andere Verwendungsmöglichkeit bestand darin, dass die Trommel den frühen Sklaven auf den amerikanischen Plantagen zum Musizieren dienten, bis sie verboten wurden, da sie als Waffen eingestuft wurden. Nach alter Sitte der Afrikaner waren Trommeln ein Mittel zur Kommunikation und es bestand die Möglichkeit – und in belegten Fällen auch die Erfahrung – , dass Trommeln zur Organisation von gewaltsamen Sklavenaufständen benutzt worden waren. Ihren Weg nach Großbritannien fand sie aus dem Fundus eines Arztes von einer Karibikinsel, der selbst Sklavenhalter war.
Der Sklavenhandel wurde in Großbritannien 1807 verboten, jedoch blieb die Sklavenhaltung bis zu ihrem Verbot 1834 erlaubt. Aus der Perspektive der seit dem 18. Jahrhundert stattfindenden Aufklärung ist diese späte Reaktion verstörend und fordert – auch im Hinblick auf den immer noch praktizierten Menschenhandel und den zugrundeliegenden Rassismus – zur Klärung der Zusammenhänge heraus. Deshalb gestatte ich mir an dieser Stelle einen Exkurs in die Wurzeln des Rassismus und stütze mich dabei – neben der bereits zitierten Literatur – insbesondere auf die „Geschichte des Rassismus“ von Christian Geulen aus dem Verlag Beck.
Bis zur ausgehenden Antike war in der Europäern bekannten Welt die Selbst– und Fremdwahrnehmung der Menschen durch die Perspektive der jeweils eigenen Kultur (meistens Hellenen und Römer) in Abgrenzung zu den außenstehenden Barbaren bestimmt. Mit der Sesshaftwerdung der Israeliten und der Vollendung des von Mose wahrscheinlich im 13. vorchristlichen Jahrhundert begonnenen Gründungswerks des Judentums durch den Schriftgelehrten Esra im 4. oder 5. vorchristlichen Jahrhundert war eine neue monotheistische Religion entstanden, die sich in doppelter Hinsicht von anderen Glaubensrichtungen unterschied. Durch die Verbindung von Religion und persönlicher Moral, die in der Antike – mit ihrem Pantheon verschiedener Götter – nicht üblich war, entwickelte der Glaube der Juden eine Verwandlungskraft, die den Einzelnen grundlegend in seiner Lebensführung beeinflusst. Die Vorgabe schriftlicher Regeln unterstützt die Gläubigen darin, ein Ideal vollkommener Sittlichkeit zu erreichen. Während das Prinzip göttlichen Lebens in anderen Religionen in einem einzelnen Gott (Dumuzi/Adonis–Attis–Dionysos–Christus) symbolischen Ausdruck gewinnt und durch Inkarnation zur Wirklichkeit wird, ist es im Judentum das Volk Israel, dessen mythische Geschichte diese Inkarnation in Permanenz darstellt und damit zur Buchreligion wird.
An dieser Stelle ist der Hinweis angebracht, dass die Erzählung vom ägyptischen Priester Moses, der zum Gründer des Judentums wurde auch aus der Perspektive der Mythenforschung und der philosophia perennis betrachtet wurde. Bezüglich der mythologischen Bedeutung der Moses-Erzählung der christlichen Bibel hat sich Joseph Campbell in seinem Werk „Die Masken Gottes“ ausführlich mit Moses befasst. In der Tradition der ewigen Philosophie (Philosophia perennis) und des Hermes Trismegistos ist darüber hinaus eine Lesart der Bibel möglich, wie sie von Édouard Schuré – einem Weggefährten Rudolf Steiners – in seinem Buch „Die großen Eingeweihten“ erläutert wurde. Er stellt Moses in die Tradition der ägyptischen Priester und ihres Geheimwissens, das auch in die biblischen Überlieferungen eingeflossen ist und zu Unverständnis bzw. falschen Interpretationen geführt habe. Während Schure darüber hinaus eine Verkettung großer Weisheitslehrer sieht – beginnend bei dem indischen Rama – ist Campbell stark an einer Einordnung in die Geschichte interessiert. Bei seiner Argumentation wird Schure von dem renommierten Ägyptologen Jan Assmann unterstützt, obgleich dieser die Grenze, bis zu der unsere Erinnerung reicht, in Ägypten zieht. Er nimmt insoweit ebenfalls eine Orientierung an der geschichtlichen Fixierung vor, die Jaspers mit seiner Lehre von der Achsenzeit als den „Ursprung der Geschichte“ gefeiert hat.
Das Christentum entwickelte sich nach dem Tod Jesu erst langsam aus dem Judentum heraus. Jörg Lauster schreibt dazu: „Die religiöse Praxis ist von zahlreichen Elementen der Religionsausübung des antiken Judentums durchdrungen; dazu gehören der Gottesdienst und der Gebrauch heiliger Schriften. Mindestens eine Generation lang suchten die Anhänger der Jesusbewegung noch den Tempel auf, beteten und opferten dort, ohne darin ein Problem zu sehen.“ Der Ablösungsprozess beschleunigte sich unter dem Einfluss der – von dem in Kleinasien wirkenden Apostel Paulus betriebenen – Heidenmission. Daraus entwickelte sich das Bild einer Religion mit Anspruch auf universelle Geltung, die damit in Widerspruch zu der im römischen Imperium geübten Praxis der Toleranz gegenüber den Religionen der eingegliederten Völker geriet. Dennoch konnte sich der neue Glaube ausbreiten. Wesentliche Unterstützung leisteten dabei die gelehrte und praktizierte Nächstenliebe, die ein bisher unbekannter Wert gewesen war. Dabei kamen die sozialen Zustände in Rom unter armen Plebejern und Sklaven zu Hilfe. Für sie hielt das Urchristentum soziale Fürsorgeeinrichtungen bereit. Darüber hinaus spielte – besonders für diesen Personenkreis – auch die Erwartung einer Rückkehr des Erlösers eine große Rolle.
Der Aufstieg des Christentums zur römischen Staatsreligion – eingeleitet durch die Konstantinische Wende unter Kaiser Konstantin I., der Große, den an der neuen Religion besonders ihr Universalismus anzog – erfolgte im Jahr 380 durch das Dreikaiseredikt, mit dem die Dreieinigkeit Gottes zur offiziellen Lehre der Kirche erklärt wurde. Die noch junge Kirche hatte sich mit vielen Abweichungen bzw. ungeklärten Glaubensfragen auseinanderzusetzen, die von besonders qualifizierten Kirchenlehrern philosophisch-theologisch zur Vorbereitung von Konzilsentscheidungen diskutiert wurden. Besonders einflussreich wurde der römische Bischof Augustinus von Hippo. In dem hier interessierenden Zusammenhang entwickelte er die Lehre von den zwei Reichen – dem „Weltstaat“ und dem „Gottesstaat“. Beide waren universal, da sie keinen konkret festgelegten und benennbaren Ort hatten. Sie dienten dazu, zwischen dem sündhaften irdischen Leben der Menschen und der Erwartung auf Erlösung von der Schuld im Raum der Kirche zu unterscheiden, d. h. es waren Abstraktionen, die für konkrete Operationen dienten, die das Leben der Menschen beeinflussten. Es führte zu dem christlichen Weltbild, das neben Getauften Menschen kannte, die als Heiden bezeichnet wurden und als potentielle Christen galten und solchen Menschen, die nicht mehr als Christen galten und als Ketzer oder Häretiker bezeichnet wurden. In diesem Weltbild nahmen die Juden eine Sonderstellung ein, die ein Formelkompromiss war, der dem gemeinsamen Ursprung Rechnung tragen sollte. Die geschichtliche Entwicklung zeigte, dass diese Einteilung der Menschheit keinen Schutz vor Übergriffen der einen Klasse auf eine andere Klasse verhinderte. Insbesondere kam es immer wieder zu Pogromen gegen Juden.
Im Mittelalter bildete sich eine weitere Unterscheidung der Menschen heraus, die sich aus den Vorstellungen über unbekannte Regionen speiste und der Phantasie – insbesondere vieler Gelehrter – weiten Raum bot. So entstand eine Schattenwelt, die von Fabelwesen bewohnt wurde und in der satanische Sitten herrschten – ähnlich antiker Mythen und moderner Science-Fiction. Es erübrigt sich fast zu erwähnen, dass hier nichts für die Christenheit zu gewinnen, aber auch nichts auszugrenzen war, da es reine Abstraktionen waren.
Insgesamt kommt Geulen für das Mittelalter zu der Beurteilung, dass in dieser Zeit keine verfestigten rassistischen Strömungen bestanden haben. Er schreibt: „Die mittelalterliche Welt nach ethnischen Stämmen und Völkern zu ordnen, war erst eine Erfindung der Geschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts und gilt in der heutigen Mediävistik als überholt. Wichtiger für die spätere Entwicklung des Rassismus waren zwei andere, abstraktere Elemente, die im mittelalterlichen Christentum tradiert wurden: zunächst das Konzept einer universalen Christenheit und die damit verbundene Idee einer universalen Bruderschaft, die im 18. Jahrhundert wieder aufgegriffen wurde und eine zentrale Rolle bei der Bildung des säkularen, aufklärerischen Begriffs der Menschheit spielte.“
Eine weniger bedeutsame Rolle spielte im Mittelalter und bis in die Neuzeit nachwirkende Idee des Augustinus, die Menschheit in jenen Teil zu unterscheiden, der zum Heil berufen ist und den anderen Teil, der für die Verdammnis vorherbestimmt ist. Diese Idee hat es jedoch in fundamentalistischen Programmen mächtiger Politiker der Gegenwart zu neuer Wirkung geschafft.
Als Ergebnis hat sich ein Menschheitsbegriff ergeben, der gegenüber dem in der Antike geltenden Gegensatzpaar Hellene bzw. Römer – Barbar und dem christlichen Gegensatzpaar des Mittelalters Heide bzw. Häretiker – Christ eine radikalere Definition entgegensetzt, die als Universalismus bezeichnet wird und nur noch die Ausschließung fremder Arten des Lebens bzw. außerirdischen Lebens kennt. (Neue Gesichtspunkte werden oft im Hinblick auf die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz vorgebracht) Jenseits der Menschheit gibt es somit keine Form von Zugehörigkeit mehr. Der Menschheitsbegriff ist durch die universell geltenden Menschenrechte definiert und geschützt. Das heißt, dass die Menschenrechte überall und für alle Menschen jederzeit gültig sind. Sie stehen als Naturrecht über jeglichem positiven Recht und sind damit unabhängig von sowie in ihrem Wesensgehalt unantastbar durch staatliche Gesetzgebung.
Innerhalb dieser aufklärerischen Definition wurde es schwierig, Besonderheiten einzelner Gruppen zu berücksichtigen. Die Entdeckungen des 18. Jh. führten dazu, eine Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen anzunehmen, wobei Europa als Maßstab gesetzt wurde. Auf dieser Zeitachse gab – und gibt es prinzipiell auch heute noch – die Wahlmöglichkeit, in welcher Richtung das Ziel zu erreichen ist. Als Gegenmodell zur europäischen Perspektive wurde bereits im 18. Jh. die Vision vom „Edlen Wilden“ diskutiert, die jeder Möglichkeit einer Evolution gegenüber stand.
Neben der vom Christentum getragenen Entwicklung der Selbstbilder haben sich auch esoterische Denktraditionen außerhalb der verfassten Religionen erhalten. Wie groß die Durchdringung der Kultur mit solchen Denktraditionen – insbesondere der Alchemie – in Europa sind, hat der schweizer Wirtschaftswissenschaftler Hans Christoph Binswanger in seiner ökonomischen Deutung von Goethes Faust unter dem Buchtitel „Geld und Magie“ exemplarisch herausgearbeitet. Goethe’s Dichtung „stellt ein Thema in den Vordergrund, das die heutige Zeit vor allen anderen Themen beherrscht: die Faszination, die von der Wirtschaft ausgeht. Ihr Gedeihen oder, wie man auch sagt, ihr Wachstum, ist längst zum einzigen verbindlichen Maßstab für die Entwicklung der Menschheit geworden. Goethe, der mit der industriellen Revolution die Anfänge dieser Entwicklung als für Wirtschaftsfragen zuständiger Minister am Weimarer Hof bewusst erlebt und bereits ihre Konsequenzen klar vorausgeschaut hat, gibt dieser fundamentalen Tatsache im Faust eine ganz besondere Deutung. Er erklärt die Wirtschaft als einen alchemistischen Prozess: als die Suche nach dem künstlichen Gold, eine Suche, die sich für denjenigen, der sich ihr einmal verschrieben hat, schnell in eine Sucht verwandelt. Wer die Alchemie der Wirtschaft nicht versteht, so lautet die Botschaft von Goethes Faust, kann die ungeheuerliche Dimension der modernen Wirtschaft nicht erfassen.“
Binswanger sieht die entscheidende Erkenntnis der Alchemisten darin, dass die Vermehrung von Reichtum durch die Inwertsetzung minderwertiger Materie erfolgen kann, wie es für die Wertschöpfung durch Papiergeld geschieht. Voraussetzung für das Gelingen dieses Prozesses ist das Vertrauen in die Werthaltigkeit dieses Geldes.
Von dem Chinareisenden Marco Polo gibt es den Bericht über Papiergeld in China, das bereits um das Jahr 1024 als allgemeines Zahlungsmittel diente. Die chinesische Geschichte lehrt, dass mit diesem Zahlungsmittel vorsichtig umzugehen ist, da es aufgrund seines hohen Ertragspotentials für die ausgebenden Staaten ein beliebtes Mittel zur Erhaltung und Vermehrung der Macht ist. Andererseits kann es auch zur Erschütterung der Macht dienen, indem es gefälscht wird und in großen Mengen unter das Volk gestreut wird und so dem Geld und der daran gebundenen Macht das Vertrauen entzieht. In China war 1425 die Zeit gekommen, die Verwendung des Papiergelds einzustellen und zum Silbergeld überzugehen, dessen Materialwert nahezu dem eingeprägten Wert der Münze entsprach (Kurantgeld).
In Europa begannen im 17. Jh. die ersten Wertschöpfungen aus Buch- und Papiergeld – jedoch mit geringem oder gar keinem Erfolg. Aussichtsreicher war erst der im frühen 18. Jh. von John Law in Frankreich eingeführte Einsatz von Papiergeld, dessen Wert durch Münzen und Grundstückswerte gesichert war. Jedoch konnte sich diese Idee unter den gegebenen Rahmenbedingungen zu dieser Zeit nicht durchsetzen. Gesetzliches Zahlungsmittel wird Papiergeld erst 1833 in England – der führenden Wirtschaftsnation. Von hier war sein Siegeszug über den Globus nicht mehr aufzuhalten und wurde so selbstverständlich wie der Sonnenaufgang.
Innerhalb des modernen Geldsystems handelt es sich bei dem offiziell als Banknoten bezeichneten Papiergeld um ein Geldversprechen, wie es auf Dollarnoten erklärend angegeben ist: »Dieser Zettel ist gesetzliches Zahlungsmittel für alle öffentlichen und privaten Schulden«. Wie Schuldscheine kann dieses Anerkenntnis einer Schuld der ausgebenden Bank (Notenbank) gegenüber dem Eigentümer des Papiergelds in Umlauf gebracht werden. Aus der Grundidee des Papiergelds hat sich das Geld zum Handelsgut entwickelt und den Faktor Zeit – der in den klassischen Tauschtheorien des Geldes nicht vorkommt – in den Dienst des Marktes gestellt. Im Handel mit Finanzkontrakten, die auf zukünftig eintretende Gewinne abgeschlossen werden, wird auf erwartete Wertsteigerungen von Währungen, Grund und Boden, Naturschätzen oder Aktien spekuliert. Diese Erwartungen lassen sich versichern und mit den Versicherungen lässt sich wiederum handeln. Bei diesen Geschäften gibt es in jedem Fall einen Gewinner, den Gläubiger , der meistens eine Bank mit ihren Eigentümern ist. Sie verleiht Geld, das sie – dem Buchgeldsystem sei dank – nicht hat.
Ich möchte diesen Gedankengang mit einigen – von Binswanger kommentierten – Versen aus Faust II abschließen, wo Goethe sich ausdrücklich auf die Alchemie, und damit auf die hermetische Philosophie, bezieht:
„Der Faustsche Ausgangspunkt des alchemistischen Prozesses ist der Plan zur Papiergeldschöpfung, den Mephistopheles beziehungsweise Faust dem Kaiser vorlegt und der ihn von seinen Geldsorgen befreien soll. Es ist ein Plan zur Ausgabe von Geldnoten, die sowohl durch die im Boden vergrabenen Goldschätze »gedeckt« als durch die Unterschrift des Kaisers legalisiert werden. Der Plan gelingt: Jedermann ist bereit, die Noten – oder Zettel, wie es gemäß der früher üblichen Bezeichnung im Faust- Drama heißt – als Geld anzunehmen, und der Kaiser ist seiner Schulden ledig. Diese Geldschöpfung wird ausdrücklich als »Chymisterei« – ein anderer Ausdruck für Alchemie – gedeutet. In diesem Zusammenhang wird auch in den Worten des Astrologen, der diese Geldschöpfung kommentiert, auf die sieben Planeten Bezug genommen, von denen jeder einen ganz bestimmten Einfluss auf den alchemistischen Prozess ausübt.
ASTROLOG: Die Sonne selbst sie ist ein lautres Gold,
Merkur der Bote dient um Gunst und Sold,
Frau Venus hat’s euch allen angetan,
So früh als spat blickt sie euch lieblich an;
Die keusche Luna launet grillenhaft,
Mars, trifft er nicht, so dräut euch seine Kraft.
Und Jupiter bleibt doch der schönste Schein,
Saturn ist groß, dem Auge fern und klein.
Ihn als Metall verehren wir nicht sehr,
An Wert gering, doch im Gewichte schwer.
Am Schluss seiner Worte weist der Astrolog auf die »chymische Hochzeit« von Quecksilber und Schwefel hin, an deren Stelle er allerdings im Sinne der alchemistischen Entsprechungen Sonne und Gold, Mond und Silber setzt. Erfreut ruft er aus:
ASTROLOG: Ja! wenn zu Sol sich Luna fein gesellt,
Zum Silber Gold, dann ist es heitre Welt.
Das Resultat der »Gesellung«, also der »chymischen Hochzeit«, ist die »heitre Welt«, in der man sich kaufen kann, was man will, nämlich:
ASTROLOG: Paläste, Gärten, Brüstlein, rote Wangen.
Mit dem Geldsystem als Motor der Industriegesellschaften hat sich das Geheimwissen der ägyptischen Priesterschaft in „aufgeklärter Weise“ durch Reduktionismus auf dem Globus ausgebreitet und damit sowohl das Befreiungswerk der antiken Eingeweihten wie auch die ursprünglichen Absichten der europäischen Aufklärung verfehlt.