Nach der Wahl ist vor der Wahl? – Eine Hilfestellung zur Interpretation des Wählerwillens.

Nun ist die mit Spannung erwartete Bundestagswahl, die aus der SPD-Perspektive als Befreiung aus dem „Gefängnis“ der GroKo unübersehbar herbeigesehnt wurde, geschehen. Nach dem spontanen Freudentaumel in der Wahlnacht hat sich schon wenige Tage später Unbehagen über das nun entstandene parteipolitische Gesamtbild – nicht nur bei der SPD – breitgemacht. Mehr und mehr schält sich in den Diskussionsrunden der medialen Spindoktoren heraus, dass eine Befreiung anders aussieht. Nach dem derzeitigen Stand der öffentlich geführten Diskussionen drängen sich als realistischste Möglichkeiten für die Bildung einer neuen Bundesregierung zwei Dreier-Koalitionen an: Die von der CDU – auch, oder vor allem, zur Kaschierung ihres Wahldebakels und zur politischen Rettung ihres Parteivorsitzenden Armin Laschet – angestrebte „Jamaika-Koalition“ mit CDU, GRÜNE und FDP oder die von SPD und GRÜNE angestrebte „Ampel-Koalition“ mit SPD, GRÜNE und FDP. In beiden Varianten kommt GRÜNEN und FDP als Duo die Rolle als „Königsmacher“ zu. Mit diesem Begriff ist angedeutet, worum es bei der Koalitionsbildung geht: Es geht nur vordergründig um Inhalte – die immer wieder von den verhandelnden Parteien in die Pflicht gerufen werden – , letztlich geht es jedoch um die Neuverteilung der Macht im Staat. Als Beleg hierfür weise ich darauf hin, dass von den in der ablaufenden Legislaturperiode vom Bundestag verabschiedeten 547 Gesetzen lediglich 97 Gesetze auf die Initiative des Parlaments zurückgingen. Darüber hinaus wird die Arbeit der Bundesregierung und des – meistens im Nachhinein beteiligten Parlaments – in hohem Maße durch unvorhersehbare internationale Entwicklungen und dringliche Sofortmaßnahmen bestimmt.

An dem defensiven Schattendasein des Parlaments wird sich trotz jahrzehntelanger Beteuerungen der großen Parteien in absehbarer Zukunft kaum etwas ändern, weil selbst die schon seit 8 Jahren regierende GroKo ihre Chance zu einer umfassenden Parlamentsreform ungenutzt verstreichen lassen hat. In diesem Zusammenhang ist die fehlende Transparenz des Lobbyismus und der wirtschaftlichen Abhängigkeiten der Abgeordneten zu erwähnen.

Die genannten Strukturmängel des politischen Systems, wie auch eine Reihe skandalöser Fehltritte von Ministern und Abgeordneten – auch im Zusammenhang mit den argwöhnisch zur Kenntnis genommenen Coronabeschränkungen – haben zu dem weit verbreiteten Urteil der Wähler und Wählerinnen geführt, schlecht regiert zu werden. Dabei hat sich die „Bestrafung der Schuldigen“ durch den eigentlichen Souverän – das Volk – als politisch Verantwortlichen auf die staatserhaltende CDU niedergeschlagen.

Mit der nachfolgenden Untersuchung möchte ich die Entwicklung der Gefühlslage der Menschen im Land über die vergangenen 50 Jahre an der Entwicklung des grundlegenden Werts Gerechtigkeit als Bestandteil des Wertesystems Blau der Spiral Dynamics nachzeichnen. Dieses WMem ist in der aktuellen Verhandlungssituation der Parteien von besonderer Bedeutung, da es für die Stabilität von Gesellschaften von entscheidender Bedeutung ist.

Kurzcharakteristik des WMems Blau nach Ken Wilber

konformistische Regel. Leben hat Bedeutung, Richtung und Sinn, mit Ergebnissen, die von einem allmächtigen anderen oder einer allmächtigen Ordnung bestimmt sind. Diese selbstgerechte Ordnung setzt einen Verhaltenskodex durch, der auf absolutistischen und unveränderlichen Prinzipien von ,,richtig“ und ,,falsch“ beruht. Verletzung des Kodex oder der Regeln hat strenge, vielleicht irreversible Folgen. Befolgen des Kodex führt zu Belohnung der Treuen. Grundlage der Nationen des Altertums, rigide soziale Hierarchien; paternalistisch; nur eine einzige richtige Weise, über alles zu denken. Law and Order; Impulsivität, die durch Schuld kontrolliert wird; konkret-wörtlich und fundamentalistische Glaubensvorstellungen; Gehorsam gegenüber den Regeln der Ordnung. Oft ,,religiös“ [im Sinne mythischer Zugehörigkeit; Graves und Beck nennen das die ,,heilig/absolutistische“ Ebene], kann aber säkulare oder atheistische Ordnung oder Mission sein. Zu finden: im puritanischen Amerika, im konfuzianistischen China, in Dickens‘ England, in der Disziplin Singapurs, im Kodex von Ritterlichkeit und Ehre, in uneigennützigen guten Taten, im islamischen Fundamentalismus, bei Pfadfindern, bei der ,,moralischen Mehrheit“, im Patriotismus. 40 Prozent der Bevölkerung, 30 Prozent Macht. (Quelle: Wilber, Integrale Psychologie)

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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