Deutschland, wie fühlst Du Dich? – Eine Befragung mit Hilfe des Enneagramms

3. Typ Zwei

Menschen dieses Typs sind von dem Verlangen getrieben, anderen zu helfen. Dahinter verbirgt sich bei der unerlösten Zwei die Abhängigkeit von der Anerkennung durch ihr soziales Umfeld. Sie haben die Fähigkeit, die Bedürfnisse anderer zu erkennen und sorgen sich um persönliche Bedürfnisse wie Gesundheit, Ernährung, Erziehung und allgemein das Wohlergehen. Sie praktizieren Nächstenliebe, wie sie traditionell im Christentum gefordert wird und sind bereit ihren Besitz zu teilen. Ohne Menschen dieses Typs wären die vielen ehrenamtlichen Helferinnen der karikativen Dienste nicht existenzfähig. Mit ihren Diensten leisten sie über ihr materielles Engagement hinaus einen Beitrag zu dem stets gefährdeten Glauben an „das Gute im Menschen“ – sei es nun im Dienste einer Kirche oder des Humanismus.

Das Engagement der Siebener – meist Frauen – hat jedoch eine dunkle Seite, die sich dann zeigt, wenn der Zeitpunkt für den erwarteten Lohn in Form emotionaler Zuwendung gekommen ist. Oft ist dieser Zeitpunkt bei dem Gefühl eigener Schwäche der Zwei, beim burn out oder bei Beziehungsproblemen gekommen. Dann wird die Zwei aufrechnen, was sie alles für ihre Mitmenschen getan hat und wie ungerecht sie nun behandelt wird. Diese Situation tritt häufig auch dann ein, wenn die erwachsenen Kinder den gemeinsamen Haushalt mit den Eltern verlassen wollen und einen eigenen Haushalt gründen. Für dieses Phänomen hat sich die Bezeichnung „Hotel Mama“ im Sprachgebrauch durchgesetzt. Neben ganz pragmatischen Gründen – billiges Wohnen, bequemer Reproduktionsaufwand (waschen, Kleiderpflege, kochen usw.) und emotionale Bindung – für den immer weiter in Richtung Zukunft verschobenen Zeitpunkt des Auszugs und die Duldung ist sicher auch die „Umklammerung“ durch die Zweier-Mutter ein Grund für diese Verhältnisse. Dabei wiederholt sich in vielen Fällen jene Situation, die von einem Elternteil mit dessen Mutter oder Vater durchlebt wurde. Zweier haben ihre Kindheit oft grau und trist in Erinnerung und konnten emotionale Zuwendung wichtiger Bezugspersonen nur durch ihr Wohlverhalten erkaufen. Diese „schöne“ Kindheit maskiert die Blockade, unter der die Zwei daran gehindert ist, sich aus diesem Bann zu befreien. Die familiären Strukturen von Zweiern können dazu führen, dass sich Zweier-Beziehungen auf Gegenseitigkeit ergeben, die kaum Aussicht auf Klärung der Situation zu Lebzeiten der Beteiligten bieten, sondern erst mit dem Tod eines der Beteiligten offenbar werden.

Zweier leisten ihre Hilfe „engagiert“, aber ungebeten. Die Sicht des „Klienten“ auf seine Situation muss dabei nicht mit der Sicht der helfenden Zwei übereinstimmen, da sich die Interessen nicht in einem gemeinsamen Ziel treffen – nämlich der möglichst respektvollen Verbesserung der Situation – sondern seitens der Zwei in der emotionalen Abhängigkeit des „Klienten“ und Übernahme der Regie in dessen Leben.

Abb. 10 Adam Elsheimer – Die Hl. Elisabeth betreut die Kranken (c) Wellcome Library; Supplied by The Public Catalogue Foundation

An ihrem vorbestimmten Ort sind Zweier, wo objektiv feststellbare Hilfsbedürftigkeit besteht – wie im Krankenhaus, in häuslicher Pflege, Armenspeisung und in vielen anderen Dienstleistungen – die jetzt in der Corona-Krise sichtbar geworden sind und die gesellschaftliche Anerkennung dieser Leistungen bewirkt haben. Unter diesen helfenden Menschen werden auch viele Zweier sein, die hierdurch in ihrer Haltung bestärkt worden sind. Der öffentlichen Würdigung der Leistungen durch Staat und Politik sind jedoch bisher noch keine nachhaltigen Bekräftigungen in Form materieller Aufwertungen der entsprechenden Berufe gefolgt. Rohr und Ebert weisen auf die kirchlichen Ursprünge der Caritas hin, die durch die kirchlichen Träger heute mit der öffentlichen und privatwirtschaftlichen Trägerschaft verknüpft sind: »Der Weg zwischen selbstloser Nächstenliebe und manipulativem Helferkomplex (Anm.; der Zwei) ist allerdings eine Gratwanderung. Mit der Aufforderung, sich selbst zu verleugnen und anderen zu dienen, ist vor allem in der Kirche oft Schindluder getrieben worden. Durch den Spruch beispielsweise, den der bayerische Pfarrer Wilhelm Löhe seinen lutherischen Diakonissen mitgegeben hat, sind zwar sicher einige dieser Frauen wirkliche ,,Heilige“ geworden; viele jedoch wurden durch das Joch solcher Ansprüche verbogen und ausgebeutet: »Was will ich? Dienen will ich. Wem will ich dienen? Dem Herrn in seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe: mein Lohn ist, daß ich darf! ...«

In Abbildung 9.ist eine Krankenhausszene zu sehen, in der die hl. Elisabeth von Thüringen am Krankenbett zu sehen ist. Es handelt sich um das von ihr gegründete Krankenhaus in Marburg. Die Tochter des ungarischen Königs Andreas II, war mit 14 Jahren mit dem späteren Landgrafenn Ludwig IV. von Thüringen verheiratet worden und mit 20 Jahren bereits verwitwete Mutter von drei Kindern. Eine zweite Ehe wollte sie nicht eingehen und so blieb ihr nur das Kloster oder ein mildtätiges Engagement.

Das von Adam Elsheimer am Ende des 16. Jahrhunderts gemalte Bild mit dem mittelalterlichen Motiv aus dem 13. Jh. stellt die Heilige lediglich mit einem in dünnem Strich gemalten Heiligenschein dar und hebt sich von ähnlichen Bildern seiner Zeit durch die zurückhaltende Darstellung der Protagonistin ab, die dadurch kaum von den anderen Personen zu unterscheiden ist. Sie erscheint hier in ihrem Selbstbild als Dienerin der Leidenden und Liebesdienst an Jesus Christus. Die Krankenhäuser hatten zu ihrer Zeit wesentlich andere Aufgaben als in der heutigen Zeit. Aufgrund des geringen medizinischen Entwicklungsstandes bestand ihre Aufgabe vorwiegend in der Pflege, wie sie bereits im Matthäus-Evangelium beschrieben wurde: »Hungrige speisen, Durstige tränkcn, Fremde beherbergen, Nackte kleiden ….« Mit Ausnahme der Beherbergung von Fremden waren sie für bedürftige Menschen aus ihrer näheren Umgebung zuständig und finanzierten sich aus Almosen, Spenden, Erbschaften, Pachtzinsen und Weinverkäufen. Die geringen irdischen Hilfs- und Heilmöglichkeitcn erhöhten den Wert des Glaubens. Nicht auf ein leichter zu ertragendes Diesseits konnten die Spitalbewohner hoffen, nur auf ein bcsseres Jenseits.

Durch die Reformation veränderte sich die Situation der Krankenhäuser grundlegend. Die von der katholischen Kirche geförderte Lehre von den „Guten Werken“, wonach derjenige, der im Diesseits gutes tut im Jenseits auf Gnade hoffen kann, wurde von Martin Luther abgelehnt. Als Folge der Reformation wurden Klöster aufgelöst und deren Aufgaben wurden von Landesherren und Städten übernommen.

Die Pflegeberufe haben unter den heutigen hochtechnisierten und spezialisierten Bedingungen keinerlei Ähnlichkeit mehr mit den Zuständen im Mittelalter. Dennoch haben sich die Motive für viele helfende Frauen – auch unter der gezielten Pflege alter Motive durch kirchliche Träger – bis in die Gegenwart erhalten. Das dieses möglich wurde, ist auch dem starken Einfluss des Enneagramm-Typs Zwei geschuldet.

Abb. 11 Vittore Carpaccio, Die Flucht nach Ägypten. Esel als Symbol für Aufopferungsbereitschaft der Zwei.

»Es ist kein Zufall, daß in der Gruppe der Zweier mehr Frauen als Männer anzutreffen sind. Die Gesellschaft hat Frauen ermutigt und erlaubt, Zweier zu sein, indem zum Beispiel ,,weibliche Intuition und Hingabe“ idealisiert wurden. Man hat Frauen gesagt, ihre spezifische Möglichkeit, Macht und Einfluß zu gewinnen, bestünde darin, daß sie ,,lieben„. Ein paar Frauen sind auf diese Weise wirkliche Heilige geworden. Aber viele andere wurden manipulativ, klammernd, besitzergreifend, destruktiv – und unglücklich. Der Erfolg von Robin Norwoods Buch ,,Wenn Frauen zu sehr lieben“  (engl.) scheint die These zu bestätigen, daß sich viele Frauen in der Zweierfalle wiederfinden. Viele Frauen verzehren sich bis zur Selbstaufgabe für einen Mann, halten diese Besessenheit für Liebe, werden dabei körperlich und seelisch krank (Eßsucht) und schaffen es dennoch nicht loszulassen.« Partnerschaften von Zweiern sind von den Verstrickungen in missverstandene Liebe bestimmt. Oft finden Süchtige und „hilfsbereite“ Zweier zueinander, so dass hier von einer gegenseitigen Abhängigkeit (Kodependenz) gesprochen werden kann. In einer solchen Beziehung erwartet die Zwei schonungslose Offenheit des Partners bezüglich seiner Probleme, scheut sich aber, sich selbst dem anderen zuzumuten. Dennoch brauchen auch Zweier einen Menschen, dem sie alles sagen können. Voraussetzung ist hierfür, dass dieses Gegenüber Verständnis für die Handlungsweise der Zwei hat und ihr Bestätigung gibt. Scharfe Kritik kann ihr den Boden unter den Füßen wegziehen.

Die Wurzelsünde der Zwei ist ihr Stolz, d. h. ihr Selbstbild, das jeder vernünftigen Grundlage entbehrt und lediglich eine Form des Narzissmus darstellt. In maßloser Selbstüberschätzung bildet sie sich ein, sie liebe mehr als alle anderen und könne damit die Welt retten. Damit verbaut sie sich den Zugang zu ihrem eigentlichen Selbst, das sie in Wirklichkeit auf andere Menschen projeziert hat. Diese Übertragung hat jedoch nicht in einem systematischen Prozess stattgefunden, der dann auch rückholbar wäre, sondern verteilt auf mehrere Personen in Form derer Wünsche und Bedürfnisse. Die Übertragung des eigenen Bedürfnisses nach Liebe geschieht auch auf Kinder, die in Einzelfällen bis zum Kindesmissbrauch geht.

Das Dilemma der Zweier ist die Angst vor der inneren Einkehr, die es ihnen schwerer als allen anderen macht, Erlösung aus den Zwängen zu finden. Hiermit ist auch die Situation in Deutschland erklärbar, wie sie sich aus den Grafiken 4 und 7 ergibt. Der stark ausgeprägten Wurzelsünde des Stolzes steht die sehr geringe Geistesfrucht der Demut gegenüber. Hieraus ist zum Teil der rasche Umschwung von der weit verbreiteten Hilfsbereitschaft in der Flüchtlingskrise von 2015 zur öffentlichen Äußerung von Wut erklärbar.

Abb. 12 Bastet-ägyptische Katzengöttin. Katze als Symbol für die zwei Seiten der Zwei – Zuneigung und Hass.

Sobald Zweier das Gefühl haben zu kurz zu kommen, brauchen sie einen Sündenbock. Sie können dann sehr schnell von Liebe auf Hass „umschalten“ und dabei sehr ausfallend werden. Ursache dafür ist das Ausbleiben der Anerkennung für ihre in der Hilfe ausgedrückte „falschen Liebe“, die nur oberflächliche Zuneigung war, statt selbstlos im befreiten Sinn zu sein. In diesen Zusammenhang ist das politische Klima einzuordnen, das von der Aufkündigung und dem behaupteten Scheitern von „Multikulti“ durch die Bundeskanzlerin Merkel im Jahre 2010 zu „wir schaffen das“ in der Flüchtlingskrise im August 2015 gekennzeichnet ist. Es liegt nahe, dass ein solcher Schwenk nicht in der Lage sein kann, Jahrzehnte anhaltende Tendenzen im Gefühlsleben einer Gesellschaft umzukehren.

»Wirkliche Freiheit, nach der sich die Zwei zutiefst sehnt, beendet das Spiel von Manipulation und falscher Liebe, von Abhängigkeit und gewaltsamen Versuchen der Selbstbefreiung. Eine Zwei findet nur zu ihrer Freiheit, wenn sie die Erfahrung bedingungsloser Liebe machen und annehmen kann, die Erfahrung, die in religiösen Traditionen Gnade genannt wird. Zeichen dafür, daß diese Gnade angekommen ist, ist wirkliche Dankbarheit. Die erlöste Zwei erwartet nicht mehr, daß Gott und die Welt ihr dankbar sind, weil sie so viel für sie leistet; sie kann sich über kleine Zeichen der Zuwendung freuen. Eine befreite Zwei kann auch andere Menschen freigeben und für das Maß von Nähe und Zuwendung dankbar sein, das in Beziehungen möglich ist. Eine erlöste Zwei freut sich, wenn Menschen, um die sie sich einst gesorgt hat, in Freiheit ihren eigenen Weg gehen. Eine der Lebensaufgaben der Zwei besteht darin, ein gewisses Maß an Sachlichkeit zu erlangen und sich von Geschwätz, Schmeicheleien, falscher Nähe, Gefühlsduselei und dauernder Suche nach Bestätigung zu lösen. Die Zwei muß das unaufdringliche Dienen mühsam einüben….Eine erlöste Zwei kann sachlich sein und die Fakten sprechen lassen – und nicht immer nur die Emotionen

Die Tränen der in ihrem Schatten gefangenen Zwei sind Tränen des Selbstmitleids. Im Übergang zur erlösten Zwei werden daraus Tränen der Selbsterkenntnis. Dieser Schritt gelingt nicht ohne Unterstützung von anderen, die in der Lage sind, die Zwei bedingungslos anzunehmen und ihr das Gefühl von wahrer Liebe geben.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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