„Holarchien koevolvieren
Kein Holon evolviert für sich allein, weil kein Holon je für sich allein ist, sondern sie alle als Felder in Feldern in Feldern existieren. Man spricht deshalb vielfach von Koevolution, was einfach bedeutet, dass nicht das vereinzelte Holon (das einzelne Molekül, die einzelne Pflanze, das einzelne Tier) die »Grundeinheit« der Evolution ist, sondern Holon plus Umwelt, da beide nicht voneinander zu sondern sind. Alles Evolutionsdenken ist also von Hause aus ökologisch….Agenz ist stets Agenz in Kommunion.
Makroskopische Strukturen werden zur Umwelt von mikroskopischen und beeinflussen die Evolution der letzteren in entscheidender Weise oder ermöglichen sie überhaupt erst. Umgekehrt wird die Evolution der mikroskopischen Strukturen …zu einem maßgeblichen Faktor in der Ausbildung und Evolution makroskopischer Strukturen. Diese wechselseitige Abhängigkeit ist nichts anderes als ein Aspekt von Koevolution, jenem Prinzip, das im Bereich des Lebens eine so vielseitige Rolle spielt. Es besagt mit anderen Worten, dass jedes System mit seiner Umwelt über Kreisprozesse verbunden ist, die eine Rückkoppelung in der Evolution beider Seiten bewirken. Dies gilt nicht nur zwischen zwei Systemen der gleichen hierarchischen Stufe …Der ganze Komplex System-plus-Umwelt evolviert als ein Ganzes.
Man könnte auch sagen, dass mikro und makro, individuell und sozial, heterarchisch zu neuen holarchischen Ebenen beider evolvieren.
Die Unterscheidung zwischen einem individuellen Holon und seinem sozialen Holon (Umwelt) ist jedoch gar nicht so leicht zu treffen, weil wir schon nur mit großer Mühe angeben können, was wir eigentlich unter einem individuellen Holon verstehen wollen. Das Wort selbst bedeutet ursprünglich »unteilbar« oder »untrennbar«, und wenn wir uns daran halten wollten, müssten wir sagen, dass es nirgendwo im Kosmos Individuen gibt. Es gibt nur Holons oder »Dividuen«….
…Obgleich also ein individuelles Holon nicht von seinem sozialen Umfeld zu trennen ist, besitzt es doch etwas, wodurch es definiert ist, seine besondere Form, sein Muster. Und überall, wo mit guten Gründen ein solches Muster konstatiert werden kann, werden wir von einem individuellen Holon sprechen. Seine Umwelt bezeichnen wir als soziales Holon.
Das ist natürlich noch immer keine schlüssige Abgrenzung, denn es gibt soziale Holons, die sich wie individuelle Holons oder »Superorganismen« zu verhalten scheinen – ein Ameisenstaat beispielsweise. Im menschlichen Bereich dagegen haben wir größte Bedenken, ein soziales Holon wie den Staat als Superorganismus im buchstäblichen Sinne aufzufassen, denn Organismen haben Vorrang vor ihren Bestandteilen, und seit sich demokratische Strukturen durchgesetzt haben, sind wir der Ansicht, der Staat müsse den Menschen, das Ganze seinen Teilen dienen – und insofern das so ist, kann das soziale System kein Organismus im eigentlichen Sinne sein (es ist ein soziales oder Umwelt-Holon, aber kein individuelles Holon). Außerdem ist ein Staat, anders als ein konkretes Individuum, ohne einen Ort des Selbstgewahrseins ohne ein Gefühl von sich selbst als einheitlichem Ganzen. Es fehlt ihm, allgemeiner gesagt, ein Gefühl von individuellem Ich-Sein (wie Whitehead folgerte; auch Habermas: Der Staat ist kein Makrosubjekt). Und schließlich sind die Teile dieses sozialen Systems bewusst, das Ganze aber nicht.
Dennoch finden viele diese Unterscheidung ein wenig willkürlich; schließlich liegt ja das Hauptproblem der politischen Theorie in der Grenzziehung zwischen Individuum und Staat und niemand hat die Debatte bisher für sich entscheiden können, obgleich die Geschichte die Extreme des Anarchismus (es gibt nur individuelle Holons) und Totalitarismus (es gibt nur das soziale Holon) entschieden verworfen hat….Für den Augenblick wollen wir lediglich zur Kenntnis nehmen, dass es wichtige Unterschiede zwischen Mikro- und Makroevolution, zwischen einem individuellen und einem sozialen Holon gibt (wenngleich sie zwangsläufig in Wechselwirkung stehen, und das ist ja die Bedeutung von »Koevolution«). Auch ein soziales Holon ist ein Holon – und nicht bloß ein Haufen oder Aggregat -, weil es das Ganzes / Teil-Muster zeigt, regelgebunden ist und sich entwickelt (weshalb wir beispielsweise von »stellarer Evolution« sprechen können) und weil es, je nach Tiefe, zu mehr oder weniger Aufwärts- und Abwärts-Kausalität fähig ist. Dennoch ist es kein individuelles Holon im eigentlichen Sinne, wie Whitehead, Habermas und andere festgestellt haben.“