Biblisches Israel und deutsche Charaktere (III)

Die Symboltiere der ACHT sind das Nashorn, die Klapperschlange, der Tiger und der Stier. Alle diese Tiere sind angriffslustig und symbolisieren Kraft, phallische Energie und Vitalität. Beim Stierkampf tritt der spanische Macho gleichsam seinem Ebenbild gegenüber, es geht um einen Zweikampf auf Leben und Tod, es muß Blut fließen, nur einer überlebt. Das Bild des Stierkampfs, das Hemingway immer wieder aufgegriffen hat, enthält eines der großen Lebensthemen der ACHT.

Die ausgegrabenen Zeugnisse antiker Kulturen zeigen, dass die in den Tieren vorhandene Kraft der Natur entscheidende Beiträge zur Entwicklung menschlicher Zivilisationen geleistet hat. Dabei spielen Rinder und ihre männlichen Varianten, die Stiere, eine besondere Rolle. Sie lieferten genügend Nahrung, um stabile Gemeinschaften zu bilden. Hieraus erklärt sich die starke Präsenz von Stieren und Kühen in unserem kulturellen und religiösen Erbe. Vieh wurde – und wird in manchen Kulturen noch immer – mit Wohlstand identifiziert. Um Vieh werden noch immer Kriege ausgetragen. Zu solchen Konflikten gehörte auch der Völkermord an den Tutsi durch Extremisten der Hutu-Mehrheit in Ruanda.

Die Bandbreite symbolischer Bedeutungen des Stiers ist so weit, dass er mit allen vier Elementen assoziiert wird. Kein Wunder, dass der Stier in den meisten frühen Zivilisationen als göttliches Wesen verehrt wurde. Die blinde Wut wild lospreschender Stiere schien viel mit den rasenden Göttern der Sturmwinde gemein zu haben, die alles auf ihrem Weg zerstörten. Ihr tiefes Brüllen und ihre schimmernden Hörner ließen an die Götter von Donner und Blitz denken. Seine Leben erschaffende Virilität war wie die der Sonne, und seine halbmondförmigen Hörner wurden mit dem Mond assoziiert. In Griechenland wurde dem Phallus eines Stiergottes während der Festlichkeiten zu seinen Ehren gehuldigt. Dionysos, der Gott des Wcines und unbändiger Sexualität (z. B. im Märchen „Der schwarze Stier von Norwegen„), wurde ,,das behornte Kind„, ,,die behornte Gottheit„, ,,der rnit den Stierbrauen“ und ,,der Stiergeborene“ genannt. In Gestalt des Stiers Zagreus wurde Dionysos von den Titanen zerteilt, doch nachdem sein Herz gerettet wurde, ward er wiedergeboren.

Die Faszination, die der Stier auf uns ausübt, in Stierkulten und Stieropfcrn ritualisiert, überlebt noch heute in Stierläufen und Stierkämpfen. Psychologisch betrachtet ist es die Geschichte unserer Beziehung zur instinkthaften Natur, bei der die Menschen mit der animalischen Energie des Stiers als dem ,,anderen“ konfrontiert werden.

Die abgebildete kleine Bronzefigur (Bild 34) zeigt einen minoischen Stier, der im Mittelpunkt eines auf der Insel Kreta praktizierten Kultes steht, bei dem ein Mann – vermutlich ein junger Mann – einen im vollen Lauf befindlichen Stier bei den Hörnern packt und mit gestrecktem Körper über ihn hinwegspringt. Diese Figur ist Teil der Sammlung des Britischen Museums, aus deren Bestand der ehemalige Direktor des Museums, Neil McGregor, 100 Exponate in seinem Buch „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“ vorstellt. Dort hat es die Nr. 18 und steht für die – in vielen Aspekten noch dunkle – minoische Kultur, in deren Mittelpunkt der Stier steht. Er beschreibt die Darstellung in ihrer Wirkung auf den Betrachter: „Er (Anm.: der junge Mann) hat den Stier an den Hörnern gepackt und seinen Körper nach oben katapultiert, so dass wir ihn genau in dem Moment sehen, da sich sein Körper in voller Streckung befindet. Die beiden Figuren treten quasi in einen Dialog: Die nach außen gerichtete Krümmung des Körpers des Jungen wird von der nach innen gerichteten Krümmung des Stierrückens «beantwortet» und aufgefangen. Wir haben es mit einer höchst dynamischen und wunderschönen Skulptur zu tun, und sie versetzt uns mitten hinein in die Realität – und, ebenso wichtig, den Mythos – der Geschichte Kretas.“

McGregor liest daraus nicht nur eine für alle Zeiten gültige – und somit wenig authentische – Aufforderung ab: „Die Skulptur stellt buchstäblich etwas dar, was für die meisten Menschen heute nur eine Metapher ist – «den Stier bei den Hörnern packen«, das ist es, was wir sprichwörtlich tun sollen, wenn wir mit den großen moralischen Fragen des Lebens konfrontiert sind.“ Er geht darüber hinaus und sagt: „die Archäologie vermutet, dass vor rund 4000 Jahren eine ganze Kultur kollektiv fasziniert war von der Vorstellung und dem konkreten Akt, sich dem Stier entgegenzustellen. Warum das so war, ist eines der vielen Rätsel einer Gesellschaft, die sich an der Schnittstelle von Afrika, Asien und Europa befand und eine prägende Rolle für die Region spielte, die wir heute als Nahen Osten bezeichnen.“ (MacGregor, Neil. Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten (German Edition) (Kindle-Positionen2027-2029). C.H.Beck. Kindle-Version.) Eine mögliche Antwort auf diese von McGregor festgestellte Tatsache hat am Beginn des 20. Jh. Edouard Schuré an den „grossen Eingeweihten“ -den Religions- und Weltanschaungsstiftern – nachgezeichnet. In seinem Buch „Die großen Eingeweihten“ – das u. a. auch Denker wie Teilhard de Chardin in seinen Kriegsjahren fasziniert hat – verfolgt er die mythischen Spuren Ramas – des ersten Eingeweihten Indiens, von Europa und Ägypten bis zu seiner indischen Wirkungsstätte. Er schreibt: „Wie die Strahlen eines Kreises deuten alle diese Überlicferungen auf ein gemeinsames Zentrum. Indem man ihrer Richtung folgt, kann man dahin gelangen. Dann, jenseits des Indien der Veden, jenseits des Iran des Zoroaster, in der dämmernden Morgenröte der weißen Rasse, sieht man hinaustreten aus den Wäldern des alten Skythenlandes den ersten Schöpfer der arischen Religion, geschmückt mit der doppelten Tiara des Eroberers und des Eingeweihten, in seinen Händen das mystische Feuer tragend, das heilige Feuer, das alle Rassen erleuchten wird.“ Man störe sich nicht an der Verwendung des Begriffes „Rasse“. Es war am Beginn des 20. Jahrhunderts nach dem Stand der Anthropologie üblich, die Hautfarben der Menschen mit diesem Begriff zu erfassen. Mit dem „alten Skythenland“ ist Europa gemeint, es ist jedoch nicht identisch mit dem heute bekannten Verbreitungsgebiet der Skythen. Als Kennzeichen für die Skythen nennt Schure das Pferdeopfer, das eine große Rolle in den Veden und bei den Skandinaviern spielt. „Die Semiten fanden den Einen Gott, den allumfassenden Geist in der Wüste, auf dem Gipfel der Berge, in der Unendlichkeit der Sternenweiten. Die Skythen und die Kelten fanden die Götter, die mannigfaltigen Geistwesen, in den Tiefen ihrer Wälder. Dort hörten sie Stimmen, dort hatten sie die ersten Schauer des Unsichtbaren, die Visionen des Jenseits. Deshalb ist der märchenschöne oder schreckliche Wald der weißen Rasse teuer geblieben.Aus der sich so entwickelnden Religion mit ihren Menschenopfern habe sich ein junger Adept mit dem Namen Ram herausgehoben, „dessen in sich gekehrte Seele und dessen tiefer Geist sich gegen diesen blutigen Kultus empörten….Von den Druiden wurde er genannt »derjenige, welcher weiß«, das Volk nannte ihn »den Friedensverkünder«.“

In der Not einer pestartigen Seuche habe Ram die Vision eines Druiden gehabt, der ihm die Zubereitung einer Arznei gegen diese Krankheit eingegeben habe. Auf der Grundlage der hieraus entstehenden segensreichen Tätigkeit sei Ram zu einer Art Halbgott geworden, der eine große Schar von Priestern um sich hatte. „Das geheimnisvolle Wesen aber, das Ram im Traum gesehen hatte und das ihm die Mistel gezeigt, hieß in der esoterischen Tladition der Weißen von Europa Aesc-heyl-hopa, das bedeutet »die Hoffnung des Heils ist im Walde«. Die Griechen machten daraus Äsculap, den Genius der Heilkunde, mit dem magischen Stab in der Form eines Caducäus.

Mit der Macht eines hohen Priesters versuchte Ram nun weitergehende Ziele zu verfolgen, die zunächst in der Abschaffung von Menschenopfern bestanden. Hierüber kam es zur Spaltung der religiösen Führungsschicht, in der die traditionellen Druiden noch immer den größeren Einfluss hatten. Als Ram seine Anhängerschaft nun unter dem Widder als neuem Symbol  versammeln wollte und damit vor allem den Stamm des Symbols Stier brüskierte, kam es zum Eklat. „Dem Stier setzte Ram den Widder entgegen, den mutigen und friedfertigen Führer der Herden, und machte ihn zum Sammelzeichen seiner Anhänger. Dieses im Mittelpunkt von Skythien aufgerichtete Banner wurde das Zeichen eines allgemeinen Tumults und einer wirklichen Revolution in den Geistern. Die weißen Völker teilten sich in zwei Lager. Die Seele selbst der weißen Rasse teilte sich in zwei, um sich der brüllenden Tierheit zu entreißen und die erste Stufe des unsichtbaren Heiligtumes zu ersteigen, das zur gottähnlichen Menschheit führt.

In einem weiteren Traum erschien Ram erneut eine göttliche Gestalt, die sich als „göttliche Vernunft“ zu erkennen gab und ihn beauftragte, den göttlichen Strahl auf der Erde zu verbreiten. Und Ram beschloss, einen Krieg zwischen den verfeindeten Stämmen Europas zu vermeiden und die von ihm geschaffene Elite der Stämme in das Herz von Asien zu führen.

Doch nicht nur im Land der Skythen war der Stierkult verbreitet. „Wilder Stier“ nannten sich die Herrscher der Sumerer und sie verehrten einen Gott in Stiergestalt. Im phönizischen Tyros soll Zeus in Gestalt eines schönen Stiers die Europa geraubt haben, um sie übers Meer nach Kreta zu tragen, wo ebenfalls ein Stierkult bestand. Hier muss der Mythos vom Raub der Europa (siehe Bild 36) entstanden sein. Zeus nahm wieder menschliche Gestalt an und feierte Hochzeit mit der Königstochter, die ihm Söhne gebar, darunter Minos, den zukünftigen König und Vater des gefährlichen, stierköpfigen Minotaurus (siehe Bild 35). Als der unermüdliche griechische Gott Zeus alsbald zu neuen Eroberungen aufbrach, wurde Europa dem regierenden König von Kreta als Gattin überlassen, dort als Göttin verehrt und schließlich zur Namenspatronin des gleichnamigen Kontinents.

Der Vergleich der beiden Mythen macht zwei Wege deutlich, die der Stierkult genommen haben kann: Die Spaltung innerhalb des skythischen Europa, wodurch ein blutrünstiger Stierkult dort und ein friedliebender Kult des Widders in Indien entstand. Dem entspricht die Vorstellung von Gut und Böse als getrennten Einflüssen, denen der Mensch unterliegt und zwischen denen er sich entscheiden muss und als Gegenentwurf der Minotaurus als die Vereinigung von Gut und Böse in einer Person, die einen ständigen Streit um den richtigen Weg im Individuum führen. Alle drei Wege sind an der Gestaltung der Welt beteiligt und machen Entscheidungen so schwierig.

Mit den hier nacherzählten Märchen bzw. Mythen sind zwar Antworten auf die von McGregor aufgeworfene Frage angedeutet, es bleibt jedoch für aufgeklärte Menschen die Frage nach den Ursachen von Gut und Böse bestehen und damit die Aufgabe, eine Psychologie zu praktizieren, die dem Bedürfnis nach Klärung der moralischen Grundlagen der menschlichen Gemeinschaften gerecht wird.

 

 

 

 

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
Dieser Beitrag wurde unter Allgemeines, Deutschland, Erzählungen, Integrale Theorie, Meinung, Politik, Politiker abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar