Die Kriegsparteien nach dem Enneagramm
Neben den Wertesystemen haben auch die vorherrschenden Charaktermerkmale der Bewohner eines Landes prägende Bedeutung für die Gestaltung des individuellen und politischen Lebens. Als ein Hilfsmittel zur Analyse der individuellen Psyche haben sich traditionell verschiedene Typenlehren bewährt. Eine der ältesten und daher erprobtesten stellt das mit neun psychischen Typen arbeitende Enneagramm dar. Näherungsweise kann es durch das Selbstbild der Menschen eines Sprachraums mit den Mitteln des Internets analysiert werden.
In der Grafik sind für die Sprachräume russisch und ukrainisch die Ergebnisse der häufigsten Nennungen ablesbar. Die stärksten Bevölkerungsanteile weisen die Enneagramm-Typen 5, 7 und 9 mit unterschiedlichem Gewicht in den beiden Sprachräumen auf.
Enneagramm-Typ | Selbstbild |
Typ 1 | Ich habe recht |
Typ2 | Ich helfe |
Typ 3 | Ich habe Erfolg |
Typ 4 | Ich bin anders |
Typ 5 | Ich blicke durch |
Typ 6 | Ich tue meine Pflicht |
Typ 7 | Ich bin glücklich |
Typ 8 | Ich bin stark |
Typ 9 | Ich bin zufrieden |
Die in der Tabelle genannten Selbstbilder dienten als Abfragebegriffe. Die Abfrage erfolgte mit Hilfe von zwei Suchmaschinen, deren Ergebnisse gemittelt wurden. Die Formulierungen der Selbstbilder wurden mit Google in die Sprachen Russisch und Ukrainisch übersetzt und durch Rückübersetzungen „justiert“ bzw. modifiziert. Als besonders schwierig hat sich dabei die adäquate Übersetzung der Paraphrase zum Typ 5 erwiesen.
Für Russland haben die Typen 7 und 9 das höchste Gewicht, mit einer deutlichen Dominanz des Typs 9.
Bei dem Typ 7 handelt es sich um Enthusiasten, eifrige, produktive Menschen. SIEBENEN sind spontan, optimistisch und vielseitig. Ihre praktische, spielerische und temperamentvolle Veranlagung kann jedoch zu Unverbindlichkeit, Schlampigkeit und Disziplinlosigkeit eskalieren. Sie sind unentwegt auf der Suche nach neuen Reizen und Anregungen, an denen sie aber schnell wieder das Interesse verlieren. Zu ihren negativen Eigenschaften zählen Impulsivität und Oberflächlichkeit. Im Idealfall richten psychisch gesunde SIEBENEN ihre Talente auf Ziele, die lohnenswert sind, und werden so zu zufriedenen, fröhlichen und erfüllten Menschen.
Die positiven Eigenschaften von SIEBENEN dienen oft dazu, sich vor Angriffen, Ängsten und Schmerzen zu schützen. Sie haben die Gabe, einen witzigen Vorfall aufzupumpen wie einen Luftballon und sehen schneller als andere die komische Seite einer Situation. Der Hang zur Übertreibung führt auch dazu, viel zu reden. Das Verlangen nach immer neuen Reizen bringt sie oft in die Sucht. Aus dieser Beschreibung resultiert ihre Wurzelsünde – die Unmäßigkeit.
Ein berühmtes Beispiel für eine typische Sieben ist Wolfgang Amadeus Mozart, wie er im Film Amadeus von Milos Forman dargestellt wird: seine Lust an Clownerien und Schabernack und seine erotischen Eskapaden. Trotz vieler widriger Umstände verlor er nie seinen Humor. Der biblische Patron der Sieben ist König Salomo. Sein Reichtum und seine Weisheit waren legendär, jedoch wurde ihm die Unmäßigkeit zum Verhängnis: Die Frauen in seinem internationalen Harem verleiten ihn dazu, ihren Göttern Tempel zu errichten. Schließlich verfällt er selbst der Vielgötterei.
Im Einzelfall können SIEBENER aufgrund von Anteilen aus dem Nachbartyp 6 erstaunlich dogmatisch sein. Dieselben Leute, die eben noch so fröhlich waren, können kurz danach auf ihre Weise sehr eng, absolutistisch und autoritär auftreten, vor allem, wenn ihnen jemand die Laune verderben will.
Der für Russland maßgebliche Typ 9 charakterisiert friedliebende Menschen, die gelassen und zurückhaltend durch das Leben gehen. NEUNEN sind stabile, vertrauensvolle und empfängliche Naturen. Sie sind hilfsbereit, unbeschwert, gutherzig und sanftmütig, halten aber oft um des lieben Friedens willen mit ihrer Meinung hinter dem Berg. Sie scheuen Konflikte und kehren Probleme meist allzu schnell unter den Teppich. Ihr Schwachpunkt ist ihre Neigung zu Passivität und Starrsinn. Im Idealfall umarmen gesunde NEUNEN die ganze Welt und lassen sich nicht unterkriegen – als Vermittler sorgen sie dafür, dass sich Kontrahenten an einen Tisch setzen.
Die NEUN beschreibt in gewisser Weise das ursprüngliche und unverdorbene menschliche Wesen, wie es in der Fiktion des „edlen Wilden“ auftritt. Menschen dieses Typs stehen in der westlichen Leistungsgesellschaft oft als „Versager“ da. Ihr Dilemma ist, dass sie ihr eigenes Wesen nur schwer verstehen. Sie werden in der Industriegesellschaft wie Sklaven herumgeschubst und werden so zu Generalisten oder Multidilettanten. Ihre Situation macht sie sehr feinfühlig für die Bedürfnisse anderer Menschen und schieben ihre eigenen Aufgaben vor sich her. NEUNER sind ehrlich und sagen ihre Meinung gerade heraus. NEUNER machen manchmal den Eindruck, geistesabwesend oder leicht benebelt zu sein. Wenn um sie herum nichts geschieht, können sie auch am hellichten Tage plötzlich einschlafen. Schlaf kann der ideale Zufluchtsort sein, wenn einem das Leben zu aufreibend wird. In der christlichen Tradition ist er der Mittagsdämon, der den Mönch von der vierten bis zur achten Stunde befällt.
Es dauert sehr lange, bis eine NEUN ihre Wut direkt äußert. Zunächst einmal erscheint ihr der Standpunkt des anderen plausibel und akzeptabel. Erst in einer längeren Prüfungsphase merkt sie, daß sie doch nicht einverstanden ist. Ungeläuterte Menschen dieses Typs vermeiden: das Leben, die Welt, das Schlechte und das Gute, sogar sich selbst. NEUNER haben keinen der Abwehrmechanismen zur Verfügung, mit denen die anderen acht Typen ihr Inneres vor dem Ansturm der Außenwelt zu schützen versuchen. Sie verbrauchen ihre Energie dafür, innere und äußere Konflikte zu vermeiden oder zu betäuben und starke Gefühle zu unterdrücken.
Wurzelsünde der NEUN ist die Faulheit. In der Literatur wird die Faulheit in Person von dem russischen Schriftsteller Iwan A. Gontscharow in dem Roman „Oblomow“ (ein russischer Adeliger) beschrieben. Die russisch-orthodoxe Emigrantin Tatjana Goritschewa hebt hierzu hervor, daß Oblomow eine ,,verborgene und paradiesische Seele“ hat, und ,,von innen heraus leben“ will, diesen Schritt freilich nicht schafft. Dennoch ist sein Traum vom Paradies, seine ,,Utopie“ wichtig. Oblomows Ideal ist für die Christin Goritschewa ,,realer als die Sentenzen des Alltags„. Der Münchner Dramatiker Franz Xaver Kroetz, den diese Romanfigur seit Jahrzehnten beschäftigt, läßt in seinem Stück ,,Oblomow“ offen, ob es sich bei der ,,Untugend“ der ,,Oblomowerei“ nicht vielleicht doch um eine Tugend handelt. Offensichtlich neigt er zu dieser Ansicht, denn er gestaltet die Rolle des Oblomow – im Gegensatz zu seinen ,,Gegenspielern“ Olga (seiner Angebeteten) und Stolz (einem Deutschen) – mit viel Sympathie.
Symbole der NEUN sind Elefant, Faultier, Wal und Delphin. Der biblische Patron ist Jona, der Prophet wider Willen. Der Psychologe Abraham Maslow sprach davon, daß viele Menschen die eigene Größe fürchten und deshalb einem voll erlebten Leben ausweichen. Er nannte diese Lebenshaltung das Jonas-Syndrom: „Wir fürchten uns vor unserem größten Potential (und vor unserem geringsten). Gewöhnlich haben wir Furcht, das zu werden, was wir in unseren vollkommensten Augenblicken nur flüchtig zu sehen bekommen. Wir genießen, ja begeistern uns für die gottähnlichen Potentiale, die wir in diesen Höhepunkten in uns entdecken. Trotzdem zittern wir gleichzeitig vor Schwäche, Ehrfurcht und Furcht vor eben diesen Potentialen. . . Wir sind einfach nicht stark genug, um noch mehr zu ertragen! Es ist zu erschütternd, zu mühsam. Deshalb sagen Menschen in… Augenblicken der Ekstase: ,Es ist zu viel‘ oder: ,Ich halte es nicht aus‘ oder: ,Ich könnte sterben‘ . . . Unser Organismus ist eben einem Übermaß an Größe nicht gewachsen. . . Für manche Menschen sind dieses Zurückschrecken vor dem eigenen Wachstumspotential, dieses Zurückschrauben eigener Erwartungen, diese Furcht, sich völlig aufzugeben, die freiwillige Selbstverstümmelung, die angebliche Dummheit, die falsche Bescheidenheit in Wahrheit nichts als Furcht vor der Großartigkeit. . .“
Die von den Autoren Rohr und Ebert beschriebenen Typen – auf die hier Bezug genommen wird – enthalten viele Charakterzüge, die viele Verhaltensweisen der russischen Seite in dem bereits 8 Jahre währenden kriegerischen Konflikt mit der Ukraine erklären können. Man kann sich den russischen Präsidenten gut als Typ Sieben vorstellen, der seinem von Typ Neun bestimmten Volk den Krieg als Show vorgaukeln muss, damit es nicht in seinem Frieden gestört wird. So können auch Merkwürdigkeiten seiner Begegnung mit ausländischen Politikern erklärt werden, wie z. B. Der Empfang der deutschen Bundeskanzlerin in Anwesenheit seines Labradors Connie, obwohl ihm bekannt sein musste, das sie Angst vor Hunden hat. Noch in jüngster Zeit fiel er damit auf, dass er den frisch ins Amt gewählten Bundeskanzler Scholz – wie auch andere Staatsgäste – ihm gegenüber an einen 6 Meter langen Tisch platzierte.
Bedeutsamer ist die Duldsamkeit des russischen Volks, die auch durch Einschränkungen ihres Lebens im Alltag in Folge von Embargo-Maßnahmen gegen Russland nur schwer zu beeinflussen ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass der „lustige“ Präsident dafür treffende Erklärungen ausdenken wird. In der Persönlichkeitsstruktur des Typs 7 wird Spaß sehr leicht zum Zynismus – es kommt auf den Blickwinkel bzw. den Wahrnehmungsfilter an. Der Moskauer Kreml bietet hierfür im Übrigen das passende Ambiente.
Auf der anderen Seite haben Putin und Russland es mit den Typen 5, 7 und 9 zu tun. Bezüglich der beiden letztgenannten Typen verweise ich auf die vorstehenden Beschreibungen.
Der Typ 5 ist der mit Abstand häufigste Enneagramm-Typ in der Ukraine. Man könnte ihn den „Forscher“ nennen, weil er ständig auf der Jagd nach mehr Wissen um damit in die Lage zu kommen, etwas großes zu leisten. Sein Selbstbild lautet „Ich blicke durch„. Eine solche Behauptung kann man in der durchtechnisierten und bürokratisierten Welt nur selten hören. Entsprechend gering ist der Anteil an den Enneagramm-Typen. Sein Werkzeug ist der Kopf. Die Sammelleidenschaft kann sich aber auch in materiellen Dingen zeigen und bis zur Habsucht steigern. Da man von außen nicht in ihre Köpfe herein schauen kann, wirken sie verschlossen und sind stark vergeistigt. Sie sind scharfsinnig und innovativ. Menschen dieses Typs glauben, dass es ihnen nicht so gut gelingt, in der Welt zurecht zu kommen, wie es normalerweise zu sein scheint. Aber anstatt sich mit etwas zu beschäftigen, das ihr Selbstvertrauen stärkt, ziehen sie sich in die Welt der Gedanken zurück, wo sie sich sicherer fühlen. Die meisten FÜNFER sind daher introvertiert; Ausnahmen bestätigen die Regel. Sie sind von Natur aus Mönche, Eremiten, Stubengelehrte, Bibliothekare und technische Tüftler. Sie können originelle Köpfe sein, provozierend, überraschend, unorthodox und tiefsinnig. Sie sind gute Zuhörer, weil sie genau hinhören und können deshalb die Wirklichkeit nüchterner und objektiver wahrnehmen als andere. FÜNFer wollen sich nicht preisgeben und ihr Innerstes nicht zur Schau stellen. Wenn es sich nicht vermeiden läßt, sich „einzubringen“, warten sie in der Regel bis zum Schluß. Dann teilen sie so wenig mit wie möglich. Viele große Philosophen waren FÜNFER: Plotin, Thomas von Aquin, Descartes, Spinoza, Feuerbach, Heidegger, Popper. Sie haben meist in der Zurückgezogenheit gelebt und vom sprichwörtlichen „Elfenbeinturm“ aus die Welt analysiert. Der Abstand von der Welt des Alltäglichen ist Gabe und Schatten zugleich. Die FÜNF ist der einzige Typ, bei dem dasselbe Wort seine größte Stärke und seine größte Schwäche beschreiben kann.
Unreflektierte FÜNFER fürchten sich vor konkreter Verbindlichkeit. Sie verbleiben gerne in der abstrakten Welt der Theorien und Ideen; sıe erklären die Welt, aber sie tun selten etwas, um sie zu verbessern. Karl Marx hat den Philosophen insgesamt den Vorwurf gemacht, die Welt nur zu interpretieren, anstatt sie zu verändern. Abraham Maslow hat auf die Gefahren des „Seins-Erkennens“ hingewiesen. Darunter versteht er eine Lebenshaltung, die nichts will als Zusammenhänge verstehen.Insofern tendiert die FÜNF zum Konservativismus. Der angeblich wertfreie Forscherdrang hat dazu beigetragen, daß viele Erkenntnisse genialer FÜNFer zum Fluch der Menschheit wurden. Viele Wissenschaftler weigerten sich, die ethischen Implikationen ihrer Erkenntnisse mitzubedenken. Dieses Thema hat der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt in der Tragikomödie „Die Physiker“ bearbeitet.
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