Geburt und Tod bei Max Beckmann
Als konkretes Beispiel soll an der – weitgehend in der Malerei gemiedenen – Thematik von Geburt und Tod dargestellt werden, dass auch gegenständliche Darstellungen zu geistiger Offenheit führen können. Mit seinen Bildern „Geburt“ und „Tod“ die thematisch zusammengehören, führt der Maler Max Beckmann ein neues Moment in die europäische Malerei ein, das den Vorgang der Geburt und des Todes jeweils unmittelbarer darstellt, als es bis dahin üblich war. Er bewirkt damit ein intensiveres Bilderlebnis als die in Bildern nur angedeuteten Geburts- und Todesszenerien. Der symbolische Gehalt der Bilder eröffnet damit einen weiten Raum, in dessen Zentrum die Gebärende bzw. der Gestorbene selbst steht und den spirituellen Zugang zu den Fragen von Geburt und Tod auf direktem Weg eröffnet, ohne sie in einen religiösen Kontext zu stellen.
In den beiden 1937 und 1938 gemalten Bildern „Geburt“ und „Tod“ tritt dem Betrachter eine räumliche Enge entgegen, die eine Orientierung stark erschwert und eine geistige Auseinandersetzung mit der Symbolkraft darin erfordert. Anders als die in räumlicher Perspektive gemalten oder mit Farbcodes versehenen Bilder der Renaissance, des Barock, der Romantik, des Klassizismus, Impressionismus oder Expressionismus lassen diese Bilder jeden Ordnungsrahmen vermissen. Ein Plakat im Bild der Geburt enhält einen Hinweis auf die Welt des Zirkus. Weitere Nahrung erhält diese Zuordnung zur Zirkuswelt durch die scheinbare Aufhebung der Schwerkraft in Gestalt der an der Decke befestigten drei Männer und des Posaune spielenden Engels mit dargestelltem Penis und weitere phantastische Erscheinungen. Die aus gelben Bahnen bestehende Decke könnte ebenso gut einen Bretterboden darstellen, wenn man das Bild umdreht. Beckmann selbst hat sich auf beiden Bildern in Anspielung auf seine Kriegsverwendung als Sanitäter mit weißer Kopfbedeckung und weißer Schürze unter die Anwesenden platziert. Hierin kommt Beckmanns eigene existenzielle Erfahrung von Geburt und Tod, wie er sie im Krieg erlebte, zum Ausdruck. Der Maler hatte sich – so lesen sich seine Briefe von der Front – 1914 freiwillig für den Kriegseinsatz als Sanitätshelfer gemeldet, um als Maler authentische Erfahrungen zu sammeln. Er wird von Honnef aus einem Brief an seine Mutter zitiert:“Es hat ein wildcs, fast böses Lustgefühl. so mitten zwischcn Tod und Leben zu stehen.“ Nach einem Nervenzusammenbruch wird er 1915 aus dem Militärdienst entlassen. Er gehörte nun zu jenen sensiblen kreativen Menschen, die von ihren Kriegserlebnissen geprägt wurden und wie der Jesuit Teilhard de Chardin oder der Schriftsteller Erich Maria Remarque ihr erweitertes Bewusstsein nicht verleugneten.
Beckmann bedient mit der „Geburt“ keine Klischees, die von der Gebärenden einen Ausdruck von Entspannung und Glück verlangen und die bedingungslose Hinwendung zum Neugeborenen. Bei ihm wendet sie den Blick vom Kind auf dem Arm der Hebamme ab, ihre Gesichtszüge sind streng und lassen eher Erschöpfung erahnen. Die gesamte Szenerie erweckt den Eindruck von Gedränge und Unordnung die durch Unsymmetrien und Disproportionalitäten unterstützt werden. Insgesamt wird der Betrachter mit Disharmonie konfrontiert, die als Kritik des Malers an der mißratenen Welt, die ihn umgibt, gewertet werden muss.
In der Enge der Zirkuswelt spielt auch die zweite Szenerie. „Der Tod löscht alle Gesetze, oben wird unten und unten wird oben. Beckmann, der zeigen will, was nicht zu sehen ist, nämlich was im Sterbenden geschieht, spielt mit der Schwerkraft, greift zurück auf antike oder orientalische Mythen, transponiert sie in seine Zirkuswelt.“(Rose-Marie und Rainer Hagen, Unter der Lupe. Meisterwerke enthüllen ihre Geheimnisse, Verlag Taschen). Wie bereits in der „Geburt“ steht in diesem Bild im wahrsten Sinn des Wortes einiges auf dem Kopf. Es enthält Anklänge an den mythologischen Fluss Lethe oder den ebenfalls mythischen Fluss Styx, der den Toten die Erinnerung an ihr Leben nimmt bzw. der von den Toten auf dem Weg zur Unterwelt überwunden werden muss, den Höllenhund Kerberos, der die Flucht aus der Unterwelt verhindert. Die Interpretation dieser mythologischen Anspielungen bleibt vage, da der Maler selbst sich hierzu nicht geäußert hat. So kann der dreiköpfige Kerberos in Gestalt des ersten der drei an der Decke wider die Gesetze der Physik „stehenden“ Sänger auch zusammen mit den zwei weiteren Sängern die drei Totenrichter symbolisieren, die die ankommenden auf ihre Plätze verweisen.
Weitere Anspielungen ergeben sich aus Beckmanns Repertoire, das sich wiederholt in verschiedenen Bildern findet und der Dichotomie von Sinneswahrnehmung und Außersinnlichem folgt, wobei der Schwerpunkt auf den Sinneseindrücken liegt. Hierzu gehört auch die Darstellung von Fischen wie im Bild „Tod“, wo ein menschengroßer Fich von einer Frau umarmt wird. Der Symbolgehalt von Fischen ist in Religion und Kunst sehr reichhaltig und verweist auf den Ursprung des Lebens, der im Wasser (genauer: der Ursuppe) – dem wichtigsten Element auf der Erde – liegt. Beckmanns bevorzugte Farbe ist Schwarz – in der westlichen Kultur die Farbe des Todes. In der oben zitierten Bildbesprechung heißt es zur Symbolik des Bildes Tod zusammenfassend: „Drei Motive“ – Posaunenengel, Fisch und Farbe Schwarz -, „die – bei aller Unterschiedlichkeit – auf Sex und Zeugung verweisen, gruppiert um einen Leichnam, der den Eindruck erweckt, als würde er langsam in den weißen Sargtüchern verschwinden.“ Aus den relativ wenigen Selbstzeugnissen zu Beckmann´s Werk kommen die Autoren zu dem Schluss, der Maler habe malend gegen jene ewigen Gesetze protestiert, „die die Menschen dazu bringcn, sich in einer schlechten Welt ständig neu zu rcprorluzicrcn.“ Und weiter schreiben sie dazu: “Nach den Schöpfungsmythen der Gnosis, einer der frühchristlichen Religionsformen, war für den Zustand der Welt der Demiurg verantwortlich, ein dummer oder bösartiger Untergott, der im Auftrag seines Herrn die materielle Welt erschaffen sollte. Er baute eine Zwangsanstalt ohne Befreiungsmöglichkeit. Beckmann lehnte sich auf im Namen der Menschheit: »Ich werfe in meinen Bildern Gott alles vor, was er falsch gemacht hat.« Das hatte er am Ende des Ersten Weltkriegs geschrieben, damals, als er seine eigene Kunst entwickelte.“
Das Thema, das ihn sein Leben lang beschäftigen sollte, war die Katastrophe, die den einzelnen wie die gesamte Menschheit bedroht. Seine Bildkompositionen stellen die Vergeblichkeit menschlichen Tuns und das Ausgeliefertsein an eine höhere Macht dar und sind so aktuell, wie das Leiden der Menschen aller Zeitalter in den Wechselfällen des Lebens. Die Menschen sind mit der Kunst und persönlichen spirituellen Erfahrungen dazu aufgerufen, ihre Vorstellungen von ihrem Gott den wachsenden Möglichkeiten und Verantwortungen des Menschen anzupassen, das Gespräch hierüber zuzulassen und als Menschenrecht in jeder Hinsicht zu akzeptieren.
Wie alle progressiven Künstler der 1920er Jahre suchte auch Beckmann seine eigene Wirklichkeit hinter der Realität und stieß dabei in der öffentlichen Meinung auf weitgehendes Unverständnis. Die Nazipropaganda hatte deshalb leichtes Spiel, diese Kunst zu diffamieren und sie als „entartet“ darzustellen. Nach der Machtübernahme der Nazis verlor Beckmann seine Professur am Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt und die Museen wurden von seinen Werken „gereinigt“. In der Jahresmitte 1937 emigrierte er über Amsterdam in die USA, wo er eine Professur erhielt.