Für ein gelungenes Leben – Kunst und Spiritualität

In dem von Ken Wilber als „Integrale Theorie“ bezeichneten Modell zur Beschreibung der Wirklichkeit und zur globalen Orientierung des Menschen stellt sich die Frage nach gangbaren Wegen für Individuen zur Harmonisierung mit dem kosmischen Ganzen. Die Suche nach solchen Wegen und die Versuche zu ihrer Beschreitung sind eng verbunden mit spirituellen Lehren und Praktiken, die in die mehr oder weniger strengen Rahmen von Religionen und heilenden Riten mündeten. Sie reichen zurück bis in die Zeit der Höhlenmenschen, die uns die zahlreichen Malereien aus der Zeit von ca. 40 Tsd. – 10 Tsd. Jahren v. Chr. in Frankreich und Spanien hinterließen.

Malerei in der Höhle von Lascaux (Frankreich)

Ihre Spuren sind noch heute bei indigenen Völkern zu finden und sind Ausdruck eines Evolutionssprunges, der mit dem Auftauchen des Wertemems Purpur verbunden ist. Unbestritten sind diese Bilder als die ersten bekannten Kunstwerke anzusehen, deren Interpretation jedoch in verschiedene Richtungen geht. Diese reichen von Informations– und Planungszwecken bis zum Nachweis religiöser Ideen. Letztere waren in der unter Fachleuten geführten Diskussion über Jahrzehnte umstritten. Heute heißt es in der offiziellen Präsentation der Höhle von Lascaux (https://archeologie.culture.fr/lascaux/de/interpretationen) zusammenfassend: „Diese ausgedehnten gemalten oder gravierten Kompositionen scheinen die Zeugnisse eines spirituellen Denkens zu sein, dessen Symbolik auf einer Interpretation der Entstehung der Welt basiert. Vom Eingang bis zu den hinteren Teilen der Höhle entfaltet sich vor unseren Augen das grosse Buch der ersten Mythologien mit dem zentralen Thema der Erschaffung der Welt.

Neben den bildlichen Darstellungen wurden in verschiedenen Höhlen der Steinzeit vor allem weibliche Figurinen gefunden, die nach herrschender Auffassung als Beleg für religiöse Riten anzusehen sind. Die weit überwiegende Zahl weiblicher Figuren mit sehr ausgeprägten Geschlechtsmerkmalen lässt vermuten, dass die abgehaltenen Riten zu Ehren weiblicher Gottheiten – wahrscheinlich der „Großen Göttin“ – stattfanden. Weitere Belege für das Entstehen kreativer Intelligenz finden sich in den Funden von handgefertigtem Perlenschmuck, der in zeitraubender Arbeit und zahlreich hergestellt worden ist.

Aus den Höhlenfunden von Malerei, Figurinen-Plastik und Perlenschmuck in Verbindung mit der Bevorzugung bestimmter Motive ist einerseits eine erstaunliche Fähigkeit zu künstlerischer Darstellung und andererseits eine enge Beziehung zwischen dieser Kreativität und der Entwicklung religiöser Vorstellungen zu entnehmen. Nicht ohne Grund wird von „Gottesbildern“ gesprochen, so dass Religionen ebenfalls als schöpferische Akte des Menschen angesehen werden können. In dem historisch gewachsenen allgemeinen Verständnis von der Rolle des Künstlers handelt es sich bei seiner Tätigkeit um einen schöpferischen Akt, der ihn und sein Werk über die Alltags- und Gebrauchskultur hinaushebt.

Religion wie Kunstwerke sind Zeugnisse für den kulturellen Entwicklungsstand menschlicher Gesellschaften und stellen wichtige Entwicklungspfade in der Evolution menschlichen Bewusstseins dar. In einer aktuellen Buchempfehlung zu einer in Bilderfolgen dargestellten Bibel war zu lesen: „ Die Bibel in der Malerei … die Bibel durch die Malerei“. In diesem Satz – dargestellt durch drei Punkte – drückt sich eine Denkstruktur aus, die verallgemeinernd als Ergebnis einer Strukturanalyse bezeichnet werden kann. Was in diesem Werbespruch nur angedeutet ist, hat für das Verständnis der Integralen Theorie eine große Bedeutung und Ken Wilber bezeichnet diese Erkenntnis als eine der „großen Entdeckungen des postmodernen Westens“. Diese bestehe darin, „dass das Bewußtsein nicht, wie man bisher glaubte, schlicht (über) die Welt reflektiert (»der Spiegel der Natur«), sondern in Wirklichkeit in einem Netz verborgener intersubjektiver Strukturen (linguistischer, ethischer, kultureller, ästhetischer und syntaktischer) verankert ist. Die subjektive wie die objektive Welt entstehen weitgehend durch die differenzierende Funktion dieser intersubjektiven Strukturen, die selbst nicht als 0bjekte oder Phänomene der unmittelbaren Wahrnehmung erscheinen, sondern vielmehr einen Hintergrundkontext bilden, durch den Subjekte und Objekte überhaupt erst in Erscheinung treten können.“ (Ken Wilber: Das Wahre Gute Schöne) Hierauf hat auch der moderne Mystiker Teilhard de Chardin in seiner einleitenden Hervorhebung der Rolle des Sehens in seinem Hauptwerk Der Mensch im Kosmos hingewiesen. Für ihn ergibt sich die Weltsicht des modernen Menschen aus dem in der Evolution geschulten Blick auf seine Rolle, der zunächst durch die Annahme getrübt war, die Welt objektiv erfassen zu können und sich im 20. Jh. zu der Erkenntnis erweiterte: ( in Teilhard´s Worten): „Objekt und Subjekt vermischen sich und verwandeln sich gegenseitig im Akt des Erkennens.

Dieser Auffassung steht das in der europäischen Aufklärung – insbesondere von Immanuel Kant und Rene Descartes – formulierte duale Prinzip der Trennung von Geist und Materie, das auch als Leib-Seele-Problem bezeichnet wird, entgegen. In vielen existenziellen Fragen führt die Trennung von Körper und Geist in der Verständigung zwischen den Menschen zu Blockaden, so dass nach Wegen zur Überwindung dieser Trennung gesucht werden muss.

In der gegenwärtigen Corona-Pandemie hat der Tod überall auf der Welt eine besondere Aktualität bekommen und damit für viele Menschen auch die Frage, was nach dem Tod sein wird. Neben der Erwartung eines „traumlosen Schlafs“ und der wenig konkreten christlichen Verheißung eines „Leben nach dem Tod“ sowie der in zyklischen Zeitordnungen verwurzelten Vorstellungen einer Wiedergeburt in östlichen Glaubenssystemen existiert eine durch Nahtoderlebnisse begründete Hoffnung auf eine glückliche Existenz in einer anderen Welt. Der jesuitische Philosoph Godehard Brüntrup – selbst nahtoderfahren – sagt hierzu: „Unabhängig vom historisch gewachsenen Lehrgebäude einer bestimmten Religion hat die Nahtoderfahrung oft einen ausgeprägt spirituellen Gehalt: die Erfahrung einer höheren geistigen Existenzform, die Erfahrung einer letzten, den Tod nicht fürchtenden Geborgenheit, die Erfahrung von Schuld und Vergebung und die Erfahrung einer alles menschliche Maß übersteigenden Liebe.“ Er hat sich intensiv damit auseinandergesetzt, wie mit solchen unbestreitbar vorhandenen Phänomenen, die wissenschaftlich nicht erklärbar sind, umzugehen ist. Unabhängig von der Möglichkeit, dass später doch noch eine wissenschaftliche Erklärung plausibel darstellbar wird, plädiert er dafür, „die Intensität des bewussten Erlebens zu schätzen und darüber miteinander zu sprechen,“ so wie man ja auch nicht erst die Entstehung des Bewusstseins physiologisch geklärt haben müsse, um Kunst zu erleben – und darüber zu sprechen. Die Rechtfertigung der Aufmerksamkeit für die individuellen Berichte über solche Erlebnisses und ihre positive Aufnahme ergibt sich aus der Verbreitung von Hoffnung in einer der Hoffnungslosigkeit zustrebenden Welt.

Wie die Nahtoderfahrung kann auch ein intensives Kunsterlebnis eine mystische Erfahrung bedeuten, die im Vergleich hierzu die Kommunikation mit Anderen darüber leichter macht, da sie sich auf die selben Objekte bezieht, jederzeit und wiederholbar stattfinden kann. Bei der Kunstbetrachtung geht das Werk „uns langsamer »unter die Haut«, und doch ist man irgendwie verändert, manchmal mehr, manchmal weniger, aber man ist verändert. Dies ist der Grund, warum Kunst im Osten und Westen gleichermaßen noch bis vor kurzem in einem Zusammenhang mit tiefen spirituellen Transformationen gesehen wurde. Und ich meine durchaus nicht nur »religiöse« oder »sakrale« Kunst. Einige große Philosophen der neueren Zeit, von Schelling über Schiller bis Schopenhauer, haben auf einen wichtigen Grund dafür hingewiesen, warum große Kunst den Menschen über sich selbst hinausführen kann. Wenn man einen schönen Gegenstand betrachtet, sei er natürlich oder ein Artefakt, stellt man jede andere Aktivität ein und gewahrt nur noch; man möchte nichts als den Gegenstand betrachten….In diesem kontemplativen Gewahren kommt das eigene ichhafte Ergreifenwollen in der Zeit vorübergehend zur Ruhe. Man gibt sich entspannt seinem einfachen Gewahren hin. Man ruht bei der Welt, wie sie ist, nicht so, wie man sie haben will.“ (Ken Wilber: „Eine integrale Theorie der Kunst“ in: Das Wahre, Gute, Schöne)

Es ist der Religion und der Kunst vorbehalten, unter Benutzung der Sinne Menschen an übersinnliche Ebenen der Existenz heranzuführen und mögliche Antworten auf die nicht verstummenden Fragen des woher kommen wir und wohin gehen wir zu vermitteln. Innerhalb des Kunstschaffens der westlichen Welt hat die Kunst einen Zwischenstand erreicht der in zahlreiche –ismen mündete und in der Malerei letztlich zur Auflösung jeder realen Form und damit zur absoluten Abstraktion führte. Ken Wilber nennt es den Tod der Avantgarde und den Triumph der Ironie der dazu führte, dass die Kunst zu keinen ernsthaften Aussagen mehr fähig zu sein schien. Erst Maler wie Gerhard Richter zeigten neue Ansätze auf, die von einem neuen Selbstverständnis des Künstlers ausgehen, ihn nicht mehr als Schöpfer eines Werks sehen – wie es in der für Künstler so wichtigen Rechtsordnung des Urheberrechts festgeschrieben ist. In der postmodernen Kunst verlor sich die Bindung an Stile und deren Zeitzeugenschaft, Kunst nimmt nun ungeniert Anleihen bei verschiedenen Stilen und lässt das Werk als Ganzes mit dem Betrachter in einen geistigen Dialog treten.

Beispielhaft hierfür ist in Richters Werk seine Auseinandersetzung mit der Fotografie. Seine gegenständlichen Arbeiten basieren häufig auf Fotos, die er abmalt oder übermalt. Sie erzeugen beim Betrachter den Eindruck, als handele es sich um unscharfe Bilder oder als liege ein Schleier auf den Augen des Betrachters. Richter selbst äußerte sich hierzu: „Es demonstriert die Zahllosigkeit der Aspekte, es nimmt uns unsere Sicherheit, weil es uns die Meinung und den Namen von einem Ding nimmt, es zeigt uns das Ding in seiner Vieldeutigkeit und Unendlichkeit, die eine Meinung und Ansicht nicht aufkommen läßt.“ (Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 2008, S. 32) Eine Bestätigung dieser Technik und seiner Absichten sieht Richter in der Unschärferelation der Quantenphysik, als er in einer Tageszeitung die Aufnahme eines Rasterelektronenmikroskops vom Inneren eines Atoms sah, zu der er den Kommentar abgab: ,,Ich war fasziniert von dem Motiv, weil die Abbildungstechnik in den Mikroskopen zwar soweit ist, dass man wirklich das Atom sehen kann, aber man kann es nie scharf sehen. Und das liegt mir sehr, denn damit ist eine Grenze gegeben.“ (Richter-Zitat in der Richter-Monografie von Klaus Honnef, Verlag Taschen)

Die Zitate von Richter zeigen, wie es auch in den Ungewissheiten der Postmoderne möglich ist, den über alle vier Quadranten der Integralen Theorie ausgedehnten Entwicklungsstand des Bewusstseins aus der Kunst zu schöpfen und fruchtbar zu machen.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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