Universalismus in einer globalisierten Welt

Wertememe als Entwicklungslinien

In diesem Abschnitt werden vier der bedeutendsten WMeme in ihrer Entwicklung über die Jahre seit 2000 auf der Grundlage von drei verschiedenen Quellen  verfolgt. Hierdurch können sie als Entwicklungslinien im Sinne der integralen Theorie betrachtet werden, da die Sprecher jeweils einen bestimmten Typus als Sprecher repräsentieren. Der Buchautor schafft mit seinem Buch ein komplexes Gedankenkonstrukt, das – in diesem Fall – von Google books für interessant genug gehalten wurde, einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Es kann deshalb ein überdurchschnittliches kognitives Niveau unterstellt werden. Die Veröffentlichungen in der Datenbank Genios sind journalistisch bearbeitete Texte mit zeitaktuellen Inhalten und stellen aktuelle Themen in Form von Fakten und Meinungen einer überdurchschnittlich gebildeten Schicht von Schreibern dar. Als dritte Gruppe werden die Leserbriefschreiber als Repräsentanten der politisch und kulturell engagierten Öffentlichkeit betrachtet.

In den Grafiken 4, 5 und 6 sind die Verläufe der vier häufigsten WMeme bis zum Übergang in die zweite Ordnung der Entwicklungsspirale im System der Spiral Dynamics dargestellt. Wie oben erläutert,  basiert jede der Grafiken auf einer anderen Datengrundlage, Grafik 4 stellt den Bestand der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) Grafik 5 die Situation nach den Veröffentlichungen in Printmedien der Genios-Datenbank und Grafik 6 ebenfalls Daten aus der Genios-Datenbank, eingeschränkt auf Leserbriefe, dar. Im Vergleich dieser Quellen zeigen sich gravierende Unterschiede. Der gravierendste Unterschied besteht in der Dominanz von Grün gegenüber Orange, das in den beiden anderen Grafiken deutlich gegenüber Grün dominiert. Die Datengrundlage von Grafik 4 bilden die jährlichen Zugänge der DNB zu dem jeweiligen Abfragebegriff. Sie unterscheidet sich damit entschieden von den weitgehend tagesaktuellen Medien, wie sie in den Grafiken 5 un6 abgebildet sind. Seit dem Jahr 2009 nimmt der Verlauf der grünen Kurve in Grafik 4 eine neue Richtung an, die von einer starken Annäherung an die orangene Kurve im Jahr 2008 zu einem raschen Wachstum und zur Absetzung von Orange führt. Dieses Wachstum flacht sich 2018 deutlich ab und zeigt für 2020 einen Einbruch, der mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Entwicklung der Corona-Pandemie zurückzuführen ist. Bereits ein Jahr später steigt die Linie zu einem neuen Höchstpunkt an, der nun als Hinweis auf die im Dezember 2021 erfolgte Zulassung des mRNA-Impfstoffs zu deuten ist.

An dem Verlauf der grünen Linie zeigt sich eine deutlich positive Konnotation des zugrundeliegenden Begriffs „Gemeinschaft„. Zum Ende hin sind aus großem Abstand leichte Tendenzen zu einer Annäherung von Orange und Grün erkennbar, die aber nicht darüber hinwegteuschen dürfen, dass eine große Diskrepanz in der durch Bücher vertretenen Bewusstseinsschichtung zum liberalen Credo des Individualismus, wie es für Orange typisch ist, besteht.

Der Verlauf der anderen Linien ist im Vergleich zu der Entwicklung Grün-Orange wesentlich stabiler. Insbesondere zeichnen sich hier – mit Ausnahme der durch Corona bewirkten Situation – Veränderungen wesentlich schwächer ab. Neben dem oben beschriebenen Verhältnis zu Grün ist hier das Verhältnis von Orange zu Blau von besonderem Interesse. Es ist von einer stetig wachsenden Dominanz gegenüber Blau bestimmt, die sich mit der 2019 sichtbar werdenden Gefahr durch die Pandemie deutlich verstärkt, dann abflaut und nach der Pandemie unverändert fortsetzt. Für das laufende Jahr deutet sich eine Verstärkung dieses Trends an, der auf wachsende Probleme hindeuten kann, die durch die Gesamtkonstellation aus Grün, Orange und Blau bereits vorhanden sind. Dabei ist das Verhältnis von Grün zu dem antagonistischen Blau von maßgeblicher Bedeutung. Das kreative und kommunikativ vernetzte Grün ist prädestiniert für zukunftsweisende Ideen, es ist jedoch auf die Bereitstellung von Ressourcen und Know how aus dem tradierten Bereich von Blau angewiesen. Im hier angelegten Bedeutungszusammenhang heißt das: Es gibt zwar viele kluge Bücher, die Realisierung bedarf jedoch geschulter Fachleute mit dem Hang zum Praktischen. Vereinfacht gesagt, kommt hier das alte Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis oder Hand- und Kopfarbeit zum Ausdruck. Das geringe Niveau von Blau zeigt darüber hinaus die geringe Bedeutung, die dem Staat und der Exekutive seitens intellektueller Kreise zugewiesen wird. Andererseits sind diese Ergebnisse auch Ausdruck der vermeintlichen Krise, in der sich Deutschland mit dem starken Drang zu akademischen Berufen und geringem Interesse an Ausbildungsberufen befindet. An den langfristigen Verläufen der Entwicklungslinien ist erkennbar, dass es sich keineswegs um überraschende Entwicklungen aufgrund der Pandemie handelt, sondern über Konsequenzen aus der demografischen Entwicklung in Verbindung mit einem gesellschaftlichen Klima – wie es in der Meritokratie angelegt ist.

Der Verlauf der roten Linie zieht eine nahezu geradlinige Spur auf sehr geringem Niveau und steigt erst mit den persönlichen Einschränkungen durch die Pandemie merklich an. Hieraus und aus den auch nach dem weitgehenden Ende der Pandemie anhaltenden Spuren des Widerstands liegt die Vermutung einer nachhaltigen Kritik am Verhalten des Staates und der wissenschaftlichen Autoritäten nahe, die zu verändertem politischen Verhalten führen kann, wie es die jüngsten Wahlergebnisse bzw. Umfrageergebnisse für die als systemkritisch geltende AfD zeigen. Hierzu gewinnt die Herkunft der Daten insoweit eine originäre Bedeutung, als es sich um Buchtitel handelt, die sich dem Thema „Ausbeutung“ zuwenden und damit auch eine Gewaltbereitschaft signalisieren.

In den Grafiken 5 und 6 geht es vor allem um  ein wucherndes Orange, das viele Möglichkeiten für ein erfolgreiches Leben bietet und dabei die Autonomie der Person garantiert. „Der Einzelne ist entschlossen, unabhängig zu sein und die volle Kontrolle über sein Leben zu haben. Er steht als Wesen allein im Universum und muss sich auf die in ihm liegenden Fähigkeiten verlassen. Wenn man im orangen Leben Erfolg haben will, gibt es keinen Platz für Schuldgefühle und man hat weder Zeit noch Kraft zu verschwenden.“ (Beck, Don Edward; Cowan, Christopher C.. Spiral Dynamics: Leadership, Werte und Wandel . J. Kamphausen Verlag. Kindle-Version.)

Gegenüber Grafik 4 besteht in Grafik 5 ein erhebliches Übergewicht von Orange, in großem Abstand gefolgt von Grün und dieses gefolgt in ebenfalls großem Abstand von Blau. Die Linien von Blau und Rot sind nur marginal vorhanden, wobei – im Unterschied zu Rot – eine geringe Wachstumstendenz vorhanden ist. Zwischen den Linien von Orange und Grün besteht eine deutliche Korrelation, die besonders in der Zeit der Pandemie sichtbar wird. Es drückt sich in dieser Zeit ein deutlicher Einbruch der Aktivitäten in diesen WMemen aus, die sich aufgrund des großen Gewichts dieser WMeme auf alle Bereiche des Lebens ausgewirkt haben. Bis zur Bankenkrise im Jahr 2008 verlaufen die Linien ohne bemerkenswerte Schwankungen. Ab diesem Jahr jedoch kommt es zu erheblichen Schwankungen, die sich vor allem im individuellen Orange zeigen, aber auch in Grün sichtbar sind.

Das Bild in Grafik 6 zeigt ebenfalls ein sehr starkes Orange, das jedoch starke kurzzeitige Schwankungen aufweist und teilweise deutliche Korrelationen mit den Linien Blau und Grün erkennen lässt. Im Unterschied zu Grafik 5 ist der Abstand zwischen Grün und Blau eher als gering zu bezeichnen. Prägende Ereignisse sind für die Jahre 2001 (Terroranschläge vom 11.September) und 2011 (Arabischer Frühling und Atomkatastrophe in Fukushima) nachgezeichnet. Vor allem das zuletzt genannte Ereignis hat zu starken Reaktionen in allen vier Linien geführt, da die damalige Bundeskanzlerin Merkel daraus die Konsequenz zog, kurzfristig die deutsche Atompolitik zu ändern und die bestehenden Atomkraftwerke stillzulegen. Die Reaktionen in der roten Linie lassen eine deutlichere Reaktion auf krisenhafte Ereignisse erkennen, als dieses in den beiden anderen Grafiken der Fall ist.

Insgesamt ist festzustellen, dass sich in den untersuchten drei Entwicklungssträngen gravierende Unterschiede zeigen, die ab der Bankenkrise im Jahr 2008 eine hoch sensibilisierte Öffentlichkeit zeigen, die vor allem im individuellen Wertemem Orange für teilweise sehr heftige Reaktionen sorgt und nur schwer in eine ausgeglichene Reaktionslage übergeht. Im Gegensatz dazu stellen sich die Reaktionen in der blauen Linie wesentlich unaufgeregter und in der grünen Linie moderat dar. Das zeugt einerseits von überlegtem Handeln der gesellschaftlichen Grundstrukturen, andererseits jedoch von geringem Einfluss seitens der Zivilgesellschaft und der veröffentlichten Meinung auf diese Grundstruktur, die allerdings insgesamt viel zu schwach ist, um einerseits Impulse aus den beiden stärkeren WMemen aufzunehmen oder diese zu beeinflussen.

Die Gesamtsituation zeigt, dass die gegenwärtig geübte Kritik an der Ampelkoalition ihre Berechtigung nicht in der kurzfristigen Entwicklung von Wirtschaft, Regierung und Zivilgesellschaft zu suchen hat, sondern in systemischen Strukturen, zu deren Entwicklungen die Kritiker selbst beitragen. Als Hauptursache kann nach den Ergebnissen aller drei Entwicklungsstränge die Bankenkrise im Jahr 2008 angesehen werden, die auf eine bereits stark sensibilisierte Öffentlichkeit traf und durch die Unterstützung der Medien ab diesem Zeitpunkt mitgetragen wird.