Universalismus in einer globalisierten Welt

Der Universalismus in seinen Verflechtungen mit Werten und Entwicklungslinien

 Zunächst ein Hinweis: In diesem Abschnitt verwende ich Grafiken, die teilweise Daten für das Jahr 2023 enthalten. Bei diesen Daten handelt es sich um Hochrechnungen aus den ersten Monaten dieses Jahres.

Grafik 1: Universalismus, Globalisierung im Langzeitschnitt

Aus der Definition des Universalismus deutet sich bereits an, dass seine Bedeutung nur in Abgrenzung zu anderen Begriffen erfassbar ist. Die in Grafik 1 dargestellte Langzeitmessung im Google-Ngram erscheint insgesamt plausibel. Wesentliche Auffälligkeiten bestehen erst im Abschnitt ab 1940 als die Linie für den Begriff „Rasse“ in eine starke Abwärtstendenz übergeht und als Hinweis darauf gedeutet werden kann, dass dieses Thema nicht mehr öffentlich diskutiert wurde und die Vorbereitung der „Endlösung der Judenfrage“ begann. Etwa ab 1945 zeichnet sich die von den Siegermächten eingeleitete Entnazifizierung durch starken Anstieg der Demokratie-Linie ab.  In Grafik 2 ist ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung von Demokratie und der Zunahme von Globalisierung abzulesen. Ab Anfang der 1990-er Jahre beginnt ein plötzlicher Anstieg der ansonsten nicht bedeutsamen Linie der Globalisierung, die auch einen leichten Anstieg der ansonsten ebenfalls kaum wahrnehmbaren Linie des Universalismus nachsichzieht. Ab diesem Zeitpunkt setzt ebenfalls eine rasche Annäherung der Linien für Gleichheit und Ungleichheit ein, die durch Abnahme der Gleichheit und seit Ende der 1960-er Jahre stattfindende Zunahme der Ungleichheit bewirkt wird.

Grafik 2
Grafik 3: Universalismus, Globalisierung u. Gleichheit ab 2000

Das Gegensatzpaar Gleichheit / Ungleichheit spielt im Zusammenhang mit dem Universalismus eine große Rolle, da es die Modalitäten des Universalismus bestimmt. Der gleichmäßige und konstante Verlauf der Entwicklungslinie „Universalismus“ deutet darauf hin, dass es sich hier um eine Grundierung der Entwicklung handelt, die nur vielfältigen Ordnungen kultureller und/oder mythischer Art gegenüber gestellt werden kann. Die gegenwärtige globalisierte Weltsituation mit der erzwungenen Begegnung unterschiedlicher Kulturen und Religionen verleiht dem Universalismus ein hohes Maß an Aktualität, die sich nicht in seiner Entwicklungslinie widerspiegelt. Wie in den Grafiken 2 und 3 abzulesen ist, erscheint mit der Globalisierung eine neue Entwicklungslinie, die bis zum Ende der 1980-er Jahre keine nennenswerte Rolle gespielt hat, obwohl sie bereits seit dem Beginn des 16. Jahrhundrts ihre Wirkung entfaltete. Ein Vergleich der Definitionen für diesen neuen Begriff nach dem gleichen Universalwörterbuch aus dem DUDEN-Verlag enthüllt, dass es sich um ein Synonym für den abgespaltenen materialistischen Teilaspekt des Universalismus handelt. Der Gebrauch des Begriffs „Universalismus“ ist über diese Einengung hinaus wegen Begriffsabspaltungen wie „chinesischer Universalismus“, „christlicher Universalismus“ und „wissenschaftlicher Universalismus“ unscharf. Dennoch hat er gegenüber dem Begriff „Globalisierung“ den Vorteil, den geistigen Ursprung nicht zu verschleiern, wie es die Wortneuschöpfung tut. Darüber hinaus zeigt sich in seiner nahezu gleichbleibenden Existenz und dem – wenn auch geringen – Wachstum in Grafik 3, dass der ursprüngliche Begriff noch immer im Gebrauch ist. Eine weitere Wortschöpfung, die sich auf den Universalismus stützt ist der von Teilhard der Chardin und der Esoterikerin Blavatsky gebrauchte Begriff „Kosmogenese„, der jeweils konzeptgebundene Ausprägungen des Universalismus nach den Auffassungen der beiden Autoren bezeichnet.

Die Auseinandersetzung mit dem Universalismus ist in der gegenwärtigen Weltsituation mit ihren vielen Konfrontationen unabdingbar, da die Haltung Europas zum Universalismus hinterfragt wird. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist das von dem chinesischen Philosophen Zhao Tingyang 2020 in Deutsch erschienene Buch „Alles unter dem Himmel Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung„, in dem er das chinesiche Verständnis von Universalismus darstellt und die Haltung Europas und des Westens demgegenüber kritisiert. Die totale Verabsolutierung des Individuums im Westen führe zur Auflösung aller durch die Aufklärung errungenen Werte und könne in eine Gegenaufklärung umschlagen. Als chinesisches Gegenkonzept propagiert er eine Weiterentwicklung des Taoismus, den er in der Idee zusammenfasst: „Sein heißt werden„. Darin kommt nach seiner Auffassung eine Dynamik des Fortschritts zum Ausdruck, die sich der Möglichkeiten der globalen Vernetzung durch die neuen Informationstechnologien bedient und zu neuen Bewusstseinebenen der Menschheit führt. Nach Tingyangs Meinung muss und wird es so zu einer KI-gestützten Verbindung aller Möglichkeiten kommen, die damit eine Zukunft im Sinne des Dao ermöglicht, „die komplett anderen Regeln gehorchen würde. Die Frage ist: Sind wir bereit für diese nicht wiederzuerkennende neue Zukunft?

Wer die gegenwärtige wirtschaftliche, politische und sozio-kulturelle Situation in Deutschland und Frankreich und deren mediale Verarbeitung betrachtet, kommt nicht umhin, eine Zuspitzung auf einen Wendepunkt hin zu sehen, der allerdings zu unterschiedlichen Spekulationen genutzt wird. Stellvertretend für den Kulminationspunkt kann der Staat als Verwalter des Gewaltmonopols gelten, wie deutlich an der politischen Situation in den USA, Israel und den autokratischen Demokratien in Polen und Ungarn zu sehen ist. Im Vergleich zu diesen Ländern kann in Deutschland nicht von einer Krise gesprochen werden. Aus seinem geschichtlichen Hintergrund heraus – nicht nur der Nazizeit, sondern auch des 19. Jh. – und wegen der starken Fokussierung auf die Wirtschaft als Quell staatlicher Macht steht Deutschland in der gegenwärtigen Globalisierung vor einer Neuorientierung, aber nicht in einer politischen Krise. Nach einer jüngst veröffentlichten Umfrage des Forschungsinstituts Forsa für den Deutschen Beamtenbund halten lediglich 27% der Befragten den deutschen Staat für fähig, seine Aufgaben zu erfüllen. Damit sei der tiefste Stand in den jährlich durchgeführten Befragungen erreicht. Interessant ist dabei, wie sich die positive Beurteilung der Beziehung zwischen Parteipolitik und Staat auf die Anhänger der Parteien verteilt:  CDU und CSU 22%; FDP 34%; SPD 46%; GRÜNE 52%; AfD 6%.

In diesen Ergebnissen kommt weniger die Werthaltung gegenüber dem Staat zum Ausdruck, als vielmehr die Beurteilung, inwieweit die von der jeweiligen Partei vertretene politische Auffassung durch den Staat vertreten wird. So gesehen sprechen die Ergebnisse für staatliches Handeln, das überwiegend durch rot-grüne Politik bestimmt ist und nur in geringem Maß durch CDU/CSU bestimmte Politik. In den Zahlen für die Regierungsparteien kommt eine effiziente Vertretung ihrer Politik durch die GRÜNEN zum Ausdruck, dagegen eher schwache Bewertungen für die SPD und die FDP. In dieser Interpretation ist es nicht sonderlich überraschend, dass sich zwischen der Beurteilung staatlichen Handelns durch die Sympathisanten von CDU/CSU und staatlichem Handeln nur eine geringe Schnittmenge mit der von diesen Parteien vertretenen Politik ergibt. Der niedrige Wert für die AfD bringt allerdings aufgrund der Beobachtung dieser Partei durch den Verfassungsschutz mit hoher Wahrscheinlichkeit eine direkte Bewertung – oder Ablehnung – des Staates zum Ausdruck.

Aus dieser Interpretation der Umfrageergebnisse wird deutlich, dass mit ihrer Veröffentlichung leicht falsche Eindrücke erzeugt werden können, die in diesem Fall zu dem Schluss führen könnten, der Staat und mit ihm die Demokratie habe den Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Dennoch drückt sich in diesen Zahlen ein hohes Kritikpotential aus, dass näher zu betrachten ist und nachfolgend kurz erläutert wird.

Wie bereits oben erwähnt, spielt der Anstieg der Ungleichheit im Zusammenhang mit dem universalistischen Anspruch der Demokratie auf Gleichwertigkeit aller Menschen eine gewichtige Rolle. Darauf deuten auch die Ergebnisse der oben zitierten Umfrage hin, die dahingehend zu ergänzen sind, dass die Asyl- und Flüchtlingspolitik als größte Überforderung des Staates bewertet wurde und die Aufrechterhaltung der sozialen Gerechtigkeit als besonders wichtige Aufgabe für den Staat genannt wurde. Diesen Ergebnissen liegt eine exklusive Haltung gegenüber anderen Menschen zugrund, die der Philosoph Michael Sandel als meritokratisch bezeichnet. In einem Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT erläuterte er dieses: „Inzwischen regieren meritokratische Ideen die Köpfe: Wer Erfolg hat, meint meistens, er habe ihn auch verdient. Er hält seinen Erfolg für selbstgemacht und sieht in ihm einen Ausdruck von individueller Handlungsfähigkeit. In der Folge hält der Erfolgreiche dann aber auch das Scheitern von anderen, die vergeblich hart kämpfen, für verdient – für deren gerechtes Schicksal. Diese meritokratische Ideenwelt ist verführerisch, aber sie ist irreführend. Sie vergisst nicht nur, dass es biografische Zufälle und pures Glück gibt, die über Lebensverläufe entscheiden. Sondern sie nimmt auch nicht wahr, dass wir in Herkünfte, in Familien, in Nationen, in Infrastrukturen eingebettet sind, die unsere individuelle Handlungsfähigkeit erst ermöglichen und prägen. Ohne diese Einbettungen wären wir als Individuen nicht, was wir sind.

Bezogen auf die Verhältnisse in Deutschland sind die von Sandel aufgezählten Kriterien vor allem auf die Überbewertung akademischer Abschlüsse, die soziale Herkunft der Studierenden, die Unterbewertung der Familienpolitik und insbesondere die Frühförderung der Kinder unabhängig von ihrer Herkunft und die Qualität der Schulen zu nennen. Darüber hinaus tritt in Deutschland die Bewertung von Kopf- und Handarbeit sehr deutlich zugunsten der Kopfarbeit aus.

Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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