Die Herren der Mythen führen Krieg

Wenn es eine Gemeinsamkeit innerhalb der Menschheit zu geben schien, dann war es die Anerkennung des Rechts auf Leben im Rahmen der Menschenrechte. Die Weltgemeinschaft hat das Recht auf Leben als universelles Menschenrecht kodifiziert – etwa in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 3) oder im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 6). Doch die tatsächliche Weltlage offenbart eine zunehmende Erosion dieses Konsenses in der Praxis. Die Infragestellung erfolgt nicht primär auf deklarativer, sondern auf faktischer Ebene. Gerade darin liegt die Gefahr: Die universelle Gültigkeit des Lebensrechts wird nicht offiziell aufgehoben, sondern durch unterlassene Hilfe, politische Doppelmoral oder selektive Solidarität ausgehöhlt.

Die Erscheinungsformen sind vielfältig, im Ergebnis laufen sie alle auf das dramatische, langsame oder stille Sterben von Menschen und ihrer natürlichen Grundlagen hinaus. Mal kommt es sichtbar in Bildern oder anonym in Form von Zahlen über die Medien in die Wohnzimmer, als verdeckte Folgen erscheint es in Statistiken über offizielle Kanäle in den Medien. Die Hauptursachen sind Kriege und Gewaltkonflikte (Ukraine, Gaza, Sudan, Jemen), Ungleichheit und strukturelle Vernachlässigung (Hunger und Durst, medizinische Versorgung) sowie Klimakrisen und Umweltzerstörung (Missachtung ökologischer Erfordernisse). Als zynische Ignoranz erscheint es in Politikfeldern wie Migration und Asyl, technologischen Großprojekten und wirtschaftlichen Investments. Dabei kommt es zu selektiven Folgen für bestimmte Volks-, Religions- und Altersgruppen, die zu Entsolidarisierungen führen, die Probleme noch vergrößern oder unlösbar machen. Mit den aktuellen Entwicklungen in den USA wird darüber hinaus eine systematische Zerstörung von wissenschaftlichen Ressourcen sichtbar, die dem aufklärerischen Projekt der Moderne die Basis entziehen.

Mit der vor wenigen Tagen erfolgten Bombardierung der drei wichtigsten Atomanlagen im Iran sind die vier treibenden Mächte der westlichen Welt sichtbar geworden, die für die aktuellen Entwicklungen und darüber hinaus für die Aufrechterhaltung von Kriegsängsten und Maßnahmen gegen das Leben als Hauptverantwortliche zu benennen sind. In allen Fällen handelt es sich um Staaten, die als formale Demokratien (USA und Israel) bzw. als autoritäre Demokratiesimulationen (Russland und Iran) bezeichnet werden müssen. Hierin wird ein weiteres Kennzeichen der gegenwärtigen Weltlage sichtbar, nämlich dass die Bezeichnung Demokratie keine Gewähr mehr dafür bietet, dass in den so bezeichneten Ländern lebensfreundliche Werte gepflegt werden. Diese Entwicklung hat zwar eine lange Tradition in den realsozialistischen Ländern des Ostblocks gehabt, sie hat jedoch erst seit dem Ende des Kalten Kriegs rasche Ausbreitung gefunden, da die hemmende Wirkung der Blockkonfrontation entfallen ist.

Für eine ganzheitliche Einordnung des Geschehens im Nahen Osten ist ein Blick auf den Entwicklungsstand der oben genannten Länder hilfreich. In allen vier Ländern steht das politische System unter dem Einfluss von mythischen Erzählungen, die über religiöse Führer und ihre Anhänger wachgehalten werden. Damit haben sie sich von der Entwicklung der rationalen Wissenschaft abgekapselt und stellen mit ihren Anhängern ein Potential für Aberglauben und außersinnliche Wahrnehmungen dar. Innerhalb des AQAL-Ansatzes nach Ken Wilber bedeutet dieses eine Schwächung der rechten Quadranten und die Ermächtigung der linken Quadranten und es entsteht eine systemische Asymmetrie und Disharmonie. Nachfolgend werde ich die die Situation in den beteiligten Ländern der Kriege (IranIsrael, UkraineRussland) skizzieren:

Israel (siehe hierzu auch den Beitrag „Biblisches Israel und Deutsche Charaktere“)

Der Staat Israel existiert seit 1948 auf dem historisch bedeutungsvollen Boden Palästinas. Damit erfüllten sich die seit dem Ende des 19. Jh. bestehenden Bemühungen jüdischer Interessengruppen, die auf der Erde verstreuten Menschen jüdischen Glaubens in einem Staat zusammenzuführen und damit die Diskriminierungen und wiederholten weltweiten Verfolgungen der Juden zu beenden. Die Staatsgründung war nur mit Unterstützung der Staatengemeinschaft – insbesondere Englands – nach dem zweiten Weltkrieg möglich. Die Wahl Palästinas als Staatsgebiet war dabei zwar nicht alternativlos, aber sie war aus Sicht der einflussreichsten jüdischen Interessengruppen symbolisch, historisch und politisch alternativlos. Begünstigende Faktoren in der Standortwahl waren

  • die bereits 1917 vom Vereinigten Königreich (UK) abgegebene Britische Balfour Erklärung, mit der die Unterstützung für ein „nationales Heim für das jüdische Volk“ in Palästina durch Großbritannien zugesagt war;
  • das seit 1920 für das UK bestehende Mandat des Völkerbunds;
  • die seit 1880 erfolgte ungesteuerte Besiedlung Palästinas durch jüdische Gruppen.
  • Auch der von Deutschland zu verantwortende Holocaust und die daraus entstandenen Folgen für die überlebenden Juden waren Antrieb, eine staatliche Lösung für die „Judenfrage“ zu finden.

Aus der historisch entstandenen Sammlungsbewegung ergab sich für den 1948 gegründeten Staat Israel eine multikulturelle Gemeinschaft, die auch zunächst spezifische Lebensmodelle in Form der Kibbuze nach sozialistischen Prinzipien hervorbrachte. Diese – wie auch alle vorangegangenen illegalen Siedlungsansätze – erfolgten gegen den Widerstand der palästinensischen Bevölkerung.

Aufgrund der ethnischen Vielfalt in Israel unterliegt die politische Situation starken Schwankungen in der Zusammensetzung der Regierung. Eine Vielzahl politischer Parteien führt zu instabileren Verhältnissen als dieses in Demokratien allgemein der Fall ist. Dabei ist zu beachten, dass es eine Spaltung der Bevölkerung in einen arabischen Teil mit 21% und eine jüdische Mehrheit mit 74% gibt, die sich jeweils nach religiösen Orientierungen und politischen Interessen weiter differenzieren. So kommt es – wie aktuell – zu Situationen, in denen kleine Gruppierungen das parlamentarische System blockieren und handlungsunfähig machen können und – wie aktuell befürchtet wird – den Ministerpräsidenten stürzen können. Im Bezug auf den gegenwärtigen Ministerpräsidenten Netanjahu könnte das zu einer verfassungsrechtlichen Krise führen, da gegen ihn wegen schwerwiegender Verfehlungen ermittelt wird. Die juristischen Probleme Netanjahus sind daher untrennbar mit der politischen Stabilität Israels verbunden und beeinflussen nach weit verbreiteten Vermutungen dessen politische Entscheidungen.

Bild 1: Paul Gauguin: Vision nach der predigt (Jakob ringt mit dem Engel);

Die „Vision nach der Predigt“ ist eines von Paul Gauguins inhaltlich ambitioniertesten Gemälden. Es widmet sich, wie die andere gebräuchliche Benennung „Der Kampf Jakobs mit dem Engel“ ausdrückt, einem alttestamentarischen Thema, einer Episode aus dem Leben des Patriarchen Jakob, die im ersten Buch Mose geschildert wird. „In der Nacht erschien“, so heißt es da, „dem Jakob ein Engel des Herrn, der mit ihm ringt, bis ihm die Hüfte verrenkt wird. Doch Jakob ruft aus: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.« Zusammen mit dem Segen erhält er den Namen „Israel“, was „Kämpfer Gottes“ bedeutet. (Aus: Moderne Kunst, Verlag Taschen)

Entstehung und Handeln Israels sind ohne den Bezug zur jüdischen Religion nicht denkbar, andererseits ist die jüdische Religion aber nicht an den Staat Israel gebunden, so dass hier eine Asymmetrie besteht. Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament geben den religiösen Fundamentalisten unter den beschriebenen Bedingungen einen unverhältnismäßigen Einfluss, der das Handeln der Regierung – vor allem bezüglich der Siedlungspolitik und des Verhältnisses zu den Palästinensern und arabischen Nachbarstaaten – bestimmt und die mythologische Grundierung zum Tragen bringt. Hinzu kommen die Rücksichtnahmen freundschaftlich und wohlwollend mit Israel verbundener Staaten, die in ihren Stellungnahmen zu den Verstößen Israels gegen Menschen- und Völkerrecht aus pragmatischen Gründen Zurückhaltung üben und dadurch in ihrer Bevölkerung an Vertrauen verlieren. Das trifft insbesondere für Deutschland und die USA zu und beflügelt z. Zt. Die öffentliche Diskussion in diesen und anderen Ländern des Westens.

USA (siehe hierzu auch Beitrag „Neue Wege in den USA – Mit Vielfalt gegen rechten Populismus III)

Auch die USA sind aus einer religiös motivierten Auswandererbewegung hervorgegangen. Die Größe des Landes, seine natürliche Vielfalt und Schönheit und die Verlockungen des Bodens sorgten für wachsendes Interesse bei nachfolgenden Kolonisten, die sich der Unterstützung der Kolonialmächte England, Frankreich und Spanien sicher sein konnten. Den Kern der Entwicklung bildete  Neuengland in dessen Häfen der Handel rasch aufblühte und Städte wie Boston, New York und Baltimore entstehen ließ. Das Wachstum dieser Städte war in der Folge auf die erkämpfte Unabhängigkeit dieser Kolonien von der Kolonialmacht Großbritannien zurückzuführen. Erst hierdurch entstanden 1783 die „Vereinigten Staaten von Amerika“, die darüber hinaus auch das Nordwestterritorium – eine unbesiedelte, aber von vielen Indianern bewohnte Fläche von der Größe Frankreichs – umfassten. Die systematische Besiedlung dieses Gebiets und des später hinzugekommenen amerikanischen Westens durch europäisch-stämmige SiedlerInnen begann im 19. Jahrhundert und wurde ideologisch durch den Mythos des ‚Manifest Destiny‚ gerechtfertigt – die Vorstellung, die USA seien dazu bestimmt, sich über den Kontinent auszubreiten und dabei ‚Zivilisation‚ zu hervorzubringen. Dies führte jedoch zur Verdrängung und gewaltsamen Unterwerfung der indigenen Völker.

Bild 2: Filmplakat zum Film „Citizen Kane“. Der Aufstieg des Titelhelden als Medien-Magnat symbolisierte den  amerikanischen Traum und stellte damit die ideologische Grundierung für den Slogan ‚Go West‘ dar.

Das Manifest besagt, dass die USA einen göttlichen Auftrag zur Expansion hätten, in Richtung Pazifik vorzudringen. Unter dem Slogan ‚Go West‚ entstand Mitte des 19. Jahrhunderts eine große Siedlerbewegung, die parallel zum Eisenbahnbau Richtung Pazifik. Manifest Destiny war nie bloß eine bestimmte Politik oder Ideologie; es war ein allgemeiner Begriff, der Elemente des amerikanischen Exzeptionalismus, Nationalismus und Expansionismus in einem übergreifenden Sendungsbewusstsein vereinigte. In dieser Tradition ist auch die im Wettlauf mit anderen Nationen stattfindende Erforschung und geplante „Eroberung“ des Weltraums zu sehen.

Viele amerikanische Pioniere verfochten die Meinung, die Ideale der Freiheit und der Nation seien von weitreichender Bedeutung und müssten in die neuen Länder gebracht werden, indem sie die Reichweite der Nation (und damit ihrer Grenzen) erweiterten. Zwei Jahrhunderte zuvor hatte der Gouverneur der Massachusetts Bay Colony John Winthrop behauptet, seine Kolonie sei die Stadt auf dem Berg und werde dem Rest der Welt die Lebensweise einer freien, gottgemäßen Gesellschaft demonstrieren. In Fortführung dieser Idee argumentierten viele, es sei ein göttlicher Auftrag, die USA über den gesamten nordamerikanischen Kontinent auszudehnen. Das Young America Movement unter Franklin Pierce unterstützte diese Vision aktiv. Den Hintergrund bildete die religiöse Auffassung, die Weißen seien für diesen Auftrag prädestiniert. […] (Quelle: Wikipedia)

Der Glaube an das Manifest Destiny war auch einer der treibenden Faktoren des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges 1846–1848, in dem die späteren Staaten Nevada, Arizona, Utah, Kalifornien und New Mexico erobert wurden.[…] (Quelle: Wikipedia)

Es entwickelte sich hieraus und aus weiteren aufklärerischen Ideen sowie geschichtlichen Entwicklungen eine mythologische Gesamterzählung, die von der Geschichte der Pilgerväter und dem von ihnen geschlossenen Mayflower-Vertrag (1660) über die Unabhängigkeitserklärung von 1776 und den amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) reicht und damit den Führungsanspruch in der westlichen Welt auch authentisch belegte und programmatisch untermauerte. Der zentrale Glaubenssatz bestand darin, dass alle Menschen „gleich geschaffen“ sind und ein Recht auf „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ haben. Daraus erschloss sich der „Amerikanische Traum“, dass jeder durch harte Arbeit und Entschlossenheit Erfolg erreichen kann, unabhängig von Herkunft oder Stand. In einer Mischung aus religiösem Sendungsbewusstsein, Rassismus und wirtschaftlicher Gier – oft zusammengefasst unter dem Deckmantel von Fortschritt und Schicksal – sollte sich der enorme Expansionsdrang und die Unterwerfung der indigenen Völker rechtfertigen. Dagegen wurde die im Bürgerkrieg sichtbar gewordene Gewalt mit der Abschaffung der Sklaverei gerechtfertigt.

Eine globale Fortsetzung findet Manifest Destiny im Amerikanischen Exzeptionalismus – der nationalistischen Ideologie, die auf dem Postulat basiert, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika aus historischen Gründen von allen anderen Nationen unterscheiden. Sie setzte sich als politische Doktrin des 20. und 21. Jahrhunderts durch und blieb bis in die Gegenwart wirksam. (Quelle: Wikipedia-Artikel Manifest Destiny). Was für den Staat Israel der jüdische Glaube ist, zeigt sich in den USA – neben einer beträchtlichen und einflussreichen jüdischen Minderheit – als universalistischer Zug innerhalb einer führenden Kontinental– und Seemacht. Dieses Gewicht kommt nicht zuletzt auch darin zum Ausdruck, dass unter der Bezeichnung „Amerika“ in vielen Fällen nicht die Summe der Länder des Kontinents gemeint ist, sondern deren dominanter Staat USA.

Die von der Trump-Regierung demonstrierte Abkehr von der Rolle des Weltpolizisten und Verteidigers westlicher Werte bzw. die Umdeutung christlicher Werte stellt nicht zwangsläufig einen Rollenwechsel der USA dar. Auch die Vorgänger von Trump sahen sich zu einer stärkeren Konzentration auf die inneren Verhältnisse der USA gezwungen und mahnten ein stärkeres Engagement der europäischen Staaten bei den Militärausgaben an und darüber hinaus gab es auch schon mit früheren US-Regierungen Streit über Handelsbeziehungen zwischen der EU und den USA (z. B. Inflation Reduction Act). Vielmehr wird im Verhalten der Trump-Regierung ein für Regierungen untypisches Verhalten sichtbar, dass weitgehend frei von moralischen Hemmungen ist und kapitalistischen Maximen folgt. Wo bei demokratisch orientierten Regierungen gewöhnlich Interessen des Machterhalts auf dem Boden von Recht und Gesetz – also parlamentarischer und juristischer Kontrolle – leitend waren, dominieren bei der US-Regierung und autoritär-populistischen Regierungen Erzählungen nach persönlicher Interpretation von Sachverhalten und vulgäre Angriffe auf politische Gegner und unbeugsame „Verhandlungspartner“. Darin ist einerseits ein persönlicher Charakterzug des amtierenden Präsidenten und seiner Führungsmannschaft zu sehen, jedoch darf auch nicht übersehen werden, dass der amerikanische Traum noch immer von Millionen Menschen geträumt wird, und auch nicht durch Grenzmauern verschwindet, solange die Armut und die Not im eigenen Land und südlich der USA wächst. Die Ursachen hierfür sind in beiden Fällen dort zu finden, wo der Reichtum zur Schau gestellt wird und immer mehr zum Zynismus eines ausbeuterischen Systems wird. In dieser Sichtweise ist Trumps Rück- und Beutezug als Rettungsversuch vor dem drohenden Untergang des Systems zu sehen. Gleichzeitig zeigt sich darin auch die Unfähigkeit und Ignoranz, an den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen grundlegende Verbesserungen vorzunehmen.

Iran

Mythen sind ein zentrales Machtinstrument des theokratischen Regimes im Iran. Diese Mythen sind oft religiös, historisch oder ideologisch geprägt und werden gezielt eingesetzt um Loyalität zu erzeugen und Widerstand zu unterdrücken. Der Ursprungsmythos des schiitischen Religionsstaates ist in der Trauer um Imam Hussein am Feiertag Aschura zu sehen. An diesem Tag gedenken die Schiiten des Todes des für sie dritten Imams Hussein in der Schlacht von Kerbela. Hussein war der Sohn von Ali ibn Abi Talib (dem ersten Imam der Schiiten und vierten Khalif der Sunniten) und Enkel des Propheten Mohammed. Er gilt als Märtyrer, dessen Ermordung sowohl für Schiiten und Aleviten als auch generell in der Geschichte des Islams ein besonderes Ereignis bedeutet, dessen sie mit verschiedenen Trauerfeiern gedenken. Das iranische Regime politisiert diesen Tag und stellt sich als „Beschützer der Unterdrückten“ dar und vergleicht sich mit Husseins Kampf gegen Tyrannei. So wird auch der Iran-Irak-Krieg (1980–88) als „Heilige Verteidigung“ mythologisiert, wobei gefallene Soldaten als Märtyrer glorifiziert werden. Dieser Kult legitimiert Opferbereitschaft und dient zur Mobilisierung gegen äußere Feinde (z. B. USA, Israel).

Ein weiterer Mythos ist die 1979 stattgefundene „Islamische Revolution„, in der Schah Mohammad Reza Pahlavi abgesetzt wurde und die Monarchie in Iran beendet wurde. Diese Revolution wird als gottgewollter Aufstand gegen Unterdrückung und westlichen Imperialismus dargestellt, da der Schah 1967 mit Unterstützung der USA den iranischen Thron bestieg und ein autoritäres Regime im Iran errichten konnte. In der „Islamischen Revolution“ wurde der aus dem französischen Exil zurückgekehrte Ayatollah Khomeini zur charismatischen Führerfigur des Landes. Seine Rückkehr aus dem Exil und der Sieg über den Schah wird als „Wunder“ verklärt oder als göttliche Intervention interpretiert.

Bild 3: Prozessionsstandarte aus Iran

Die Wahrnehmung des Iran im Westen ist vor allem die als Unterdrückerstaat – insbesondere gegen Frauen und Intellektuelle. Die Unterdrückung wird im Iran mit der Abwehr von westlichen Feinden begründet, die als „großer Satan“ (USA) und zionistische Bedrohungen (Israel) bezeichnet werden. Damit wird gleichzeitig der Aufbau eines erdrückenden Sicherheitsapparats im Innern („Revolutionswächter“) mit zusammen über eine halbe Million militärisch geschulten Kräften gerechtfertigt. Die Eliten des Systems sichern ihre Positionen zusätzlich durch religiöse Selbsterhebung ab, so z. B. der im Mai 2024 bei einem Hubschrauberabsturz gestorbene HardlinerPräsident Raisi, der sich als Vorkämpfer des verborgenen 12. Imams, Muhammad ibn al-Hasan al-Mahdi bezeichnete. Der 12. Imam ist nach der Lehre der Zwölfer-Schia der in der Verborgenheit lebende zwölfte Imam, dessen Rückkehr für die Endzeit erwartet wird. Er gilt den Zwölfer-Schiiten als der Mahdi (wörtlich „der Rechtgeleitete“) im Sinne des Erlösers als messianische Gestalt. Das Konzept des erwarteten Imams Muhammad al-Mahdi ist ein zentrales Glaubenselement der Zwölfer-Schia, das wahhabitische Sunniten in Form des verborgenen zwölften Imams als Irrlehre ablehnen. Sufisch geprägte Sunniten hingegen glauben an dieses Konzept.

Ähnliche Standarten, wie die in Bild 3 zu sehende, wurden im Iran ursprünglich als Zeichen des Herrschers oder Befehlshabers in militärischen Schlachten geführt. Sie wurden in religiösen Prozessionen des persischen SafawidenReichs vorangetragen und können als Zeichen für den Übergang von Staat und Gesellschaft im Islam vom Sunnitentum zum Schiismus verstanden werden. Solche Standarten waren ursprünglich Kriegsstandarten, „die wie eine Fahne vorausgetragen wurde(n), wenn ein Heer in die Schlacht zog, doch im 17. Jahrhundert verwendete man sie in feierlichen Prozessionen, und sie führten keine Kampftruppen an, sondern Heerscharen von Gläubigen.“ (MacGregor, Neil. Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten, Verlag C.H.Beck. Kindle-Version). Wie in Europa kam es im Iran zu dieser Zeit zu tiefgreifenden geistig-politischen Veränderungen, die zur Einsetzung des schiitischen Islam als Staatsreligion durch Schah Abbas führten und die bis heute geblieben ist. MacGregor, weist auf die Parallelität zur englischen Geschichte hin, wo der Protestantismus als Abgrenzung zum feindlichen katholischen Spanien von den Tudors eingeführt wurde. Was für England Spanien darstellte war für den Iran die Türkei.

Wenn es der Absicherung der Macht dient, schreckt das Regime auch nicht vor der selektiven Benutzung imperialistischer Symbole des vorislamischen Iran zurück um hiermit nationalistische Gefühle zu instrumentalisieren. Ein bedeutendes Beispiel ist die Kyros-Zylinder-Debatte. Der Kyros-Zylinder enthält die Proklamation des achämenidischen (altpersischen) Königs Kyros des Großen, die er nach 538 v. Chr. auf einem Tonzylinder abfassen ließ, um seine Machtergreifung in Babylonien zu legitimieren. Darin wird eine Politik der Toleranz beschrieben und deshalb gilt er als eine der ersten „Menschenrechtserklärungen“ der Geschichte. An ihm haben sich in der Führungselite Diskussionen entfacht, in deren Zentrum einerseits das nationalistische Erbe und andererseits die islamistische Ideologie steht. Hierdurch haben sich zwei Lager gebildet, die als nationalistisch und islamistisch bezeichnet werden können und Hardliner von Moderaten unterscheiden.

Im Vergleich zu Israel stellt sich der heutige mythische Einfluss wesentlich stärker dar, da er eingebettet ist in eine kontinuierliche Geschichte mit durchgängig autoritären Machtstrukturen, die nur in relativ kurzen Zeiträumen durch Besatzungsregime bzw. Übergangszeiten – insbesondere den 1940er Jahren – zu politischen Lichtblicken führten. Entscheidend sind jedoch der ununterbrochene Besitz des Stammlandes der im Iran lebenden Volksgruppen und die gemeinsame Sprache. Diese Bodenständigkeit und die Vielfalt der Kulturen sind die entscheidenden Charakteristiken, die das politische System beeinflussen. Die größten Volksgruppen stellen die Perser mit ca. 60-65% Anteil gefolgt von Aserbaidschanern mit ca. 15-20%, Kurden mit 8-10% und kleineren Gruppen von Luren, Belutschen, Arabern, Turkmenen und weiteren kleinen Gruppen. Diese Gruppen unterscheiden sich nicht nur ethnisch, sondern auch sprachlich, kulturell und teilweise religiös (z. B. sind viele Kurden Sunniten).

Die kulturelle Vielfalt gibt im Hinblick auf eine Liberalisierung des Iran sowohl Hoffnung wie auch Grund zur Skepsis. Hoffnung aufgrund des Interesses der Minderheiten, ihre kulturelle Identität offen leben zu können und sie weiter zu entwickeln, Skepsis wegen der Gefahr des Auseinanderbrechens des gemeinsamen Staates, wie es die Beispiele auf dem Balkan, in Indien und Afrika zeigen. Eine erfolgreiche politische Liberalisierung muss daher multiethnisch, inklusiv und föderal gedacht werden – andernfalls drohen neue Marginalisierungen oder ethnische Konflikte. Deshalb verbietet sich die Zerschlagung des zentralen Regimes im Iran von außen nicht nur aus völkerrechtlichen Gründen, sondern auch im Interesse der Menschen im Land, die zentrale Akteure in einem möglichen Demokratisierungsprozess werden müssen um wichtige Impulse für Gleichberechtigung, Menschenrechte und Dezentralisierung einbringen zu können.

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Über Fidelio

Ich bin 1949 geboren und war in meiner berufstätigen Zeit als Stadtplaner in einer mittelgroßen kommune tätig. Seit meiner Studienzeit habe ich mich für die Entwicklung eines erweiterten geistigen Horizonts interessiert und einige Anstrengungen unternommen, mich persönlich in diesem Sinne zu entwickeln. Aufgrund meiner katholischen Erziehung habe ich in den 1960-er Jahren begonnen, mich intensiver mit dem modernen Mystiker Teilhard de Chardin zu befassen und bin so zur Gedankenwelt von Ken Wilber gekommen, die ich in diesem Projekt nutzbar zu machen versuche.
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