Geschichte in den Blick nehmen
Betrachtet man den gegenwärtigen Zustand der Welt, drängt sich der Verdacht auf, dass in der Geschichte etwas falsch gelaufen sein könnte. Mit der nebenstehenden Grafik soll ein Blick auf das Potential der Geschichte ermöglicht werden, der zur Klärung dieses Eindrucks beitragen kann. Aus den beiden Kurven ist das Interesse an der Geschichte in den Jahrhunderten seit dem 8. vorchristlichen Jahrhundert für das englischsprachige Internet und die im Internet downloadbaren englischsprachigen Bücher nachgezeichnet. Es zeigen sich einige Korrelationen der beiden Kurven, die für das Vertrauen in die Richtigkeit der Erhebungsmethode sprechen, darüber hinaus jedoch auch einen Aussagewert haben: Soweit die Ausschläge der blauen Kurve keine Entsprechung in der roten Kurve haben ist anzunehmen, dass für diese Zeiträume kein besonderes fachliches Interesse besteht, das sich in Buchform niederschlagen müsste. Dieses ist bezüglich der Zeit vom Beginn der Kurven bis zum 3. vorchristlichen Jahrhundert und für das 11. Jahrhundert in abgeschwächtem Umfang anzunehmen.
Der starke Ausschlag am Beginn der blauen Kurve erstreckt sich über die Zeit vom 8. vorchristlichen Jahrhundert bis zum dritten vorchristlichen Jahrhundert. Sie markiert damit den Zeitabschnitt, der von dem Philosophen Karl Jaspers in seinem Werk „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“ als Achsenzeit bezeichnet wird. Jaspers hat damit die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, dass in der Welt der Hochkulturen von der Levante bis zum fernen Osten in dieser Zeit ein intellektueller Durchbruch erfolgt ist. „Damals entstehen in Persien, Indien und China, in Israel und Griechenland die bis heute wirksamen religiösen Lehren und kosmologischen Weltbilder. Diese »starken Traditionen« – Zoroastrismus, Buddhismus und Konfuzianismus, Judaismus und griechische Philosophie – haben einen Wandel der Weltanschauung von der Mannigfaltigkeit der narrativ auf derselben Ebene verknüpften Oberflächenphänomene zur Einheit eines theologisch oder »theoretisch« begriffenen Weltganzen herbeigeführt. Im Monotheismus nimmt die kosmische »Ordnung der Dinge« die verzeitlichte Gestalt einer teleologischen Ordnung der Weltalter an.“ (Habermas, Jürgen. Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken (German Edition) (S.29). Suhrkamp Verlag.)
Die von Habermas getroffene Feststellung, die von Jaspers aufgestellte These habe zu einer weitverzweigten internationalen Forschung inspiriert wird durch das vorstehend beschriebene Ergebnis der Internetrecherche dahingehend bestätigt, dass es im World Wide Web eine große Resonanz auf die Achsenzeit gibt, jedoch relativieren sich hiermit andere Zeitabschnitte, die im öffentlichen Bewusstsein zurücktreten. Allerdings liegt hier eine auffällige Diskrepanz zwischen den niederschwellig und breit verfügbaren Informationen des Internets und dem Angebot gedruckter Literatur – soweit diese im Internet downloadbar ist – vor. Dieses Ergebnis wird hinsichtlich der spärlichen Reflektion von Jasperts These durch die Fachwelt bestätigt (siehe http://www2.rz.hu-berlin.de/nilus/net-publications/ibaes10/publikation/ibaes10_pub_text.pdf) sofern man der Annahme zustimmt, dass diese zu entsprechenden Buchveröffentlichungen führen müsste.
Es stellt sich die Frage, wie das unterschiedliche Interesse an einer Periode früher Geschichte in großen Teilen der Öffentlichkeit so groß sein kann, während es von der Fachwelt kaum wahrgenommen wird. An dieser Stelle ist folgendes Zitat aus der Wochenzeitung „Die Zeit“ interessant, wo über die Veröffentlichung einer Studie des Philosophen Frank Ruda (engl.) zur Aktualität des Liberalismus zu lesen ist: „Wenn die Krisen der Gegenwart groß und übermächtig erscheinen, dann wandert der Blick konservativer Philosophen oft weit zurück in die Achsenzeit, an die antiken Anfänge der Demokratie oder zurück zu den »ewigen« Wahrheiten des Mythos. Diese Rückwendung zielt auf eine Selbstvergewisserung der Moderne. Wann wurden die Weichen in die Gegenwart falsch gestellt? In welchem historischen Augenblick ist der Zug in die moderne Gesellschaft entgleist?“ In dem selben Artikel schreibt der Rezensent Thomas Assheuer zum Buch »Kritik der Rechte« des Frankfurter Philosophen Christoph Menke: „auch für ihn ist die Achsenzeit ein kritischer Spiegel unserer Gegenwart“ und er weiß auch warum; „Der Bund (Israels) mit Gott entwirft eine radikal andere Form der Freiheit als die Gründerväter des Liberalismus. Auf dem Sinai schlossen die Menschen nicht nur einen Vertrag miteinander, nein, sie banden ihre Freiheit an eine unbedingte Wahrheit. »Der Bund befreit, weil er die freie Selbstverpflichtung jedes Einzelnen zur Treue gegenüber einem Unbedingten ist« und »eine Verbindung zwischen den Einzelnen schafft, die über den Einzelnen hinausgeht«. Jeder verbindet sich mit jedem anderen, um selbst ein anderer zu werden.“ Der hier verwendete Bezug auf die Achsenzeit ist sehr problematisch, da Karl Jaspers als Urheber des Begriffs lediglich einige strukturierende Hinweise für die Charakteristik des Begriffs und die Struktur der Weltgeschichte, von der Achsenzeit her entworfen, gegeben hat und damit die Aufforderung verbunden hat, seine These von der Achsenzeit zu prüfen. Wer sich dieser These bedient, kann es also nicht vermeiden, sein Verständnis von der Achsenzeit in einem weiterführenden Sinn über die von Jaspers aufgeführten Theoriebausteine hinaus zu entwickeln und darzustellen.
Zu der von Assheuer – rhetorisch – aufgeworfenen Frage nach der falschen Weichenstellung in der Geschichte ist zu bemerken, dass eine solche Frage nur dann einen Sinn ergibt, wenn wir uns in einer Welt befinden, die mechanisch wie ein Uhrwerk funktioniert, wie es von Newton entworfen wurde und von LaPlace ausformuliert wurde. In einer Zeit nach Einstein und unter der Freiheit, die uns die Quantenphysik auch im Denken gestattet, sollte eine solche Fragestellung nicht mehr statthaft sein.
Ein Missverständnis scheint vorzuliegen, wenn der Autor des besprochenen Buches die Rolle des Judentums in der Achsenzeit als exklusiven Durchbruch zu einer individuellen Freiheit herausstellt. Ohne den Zusammenhang des Zitates zu kennen möchte ich zur Klarstellung darauf hinweisen, dass genau solche Exklusivität nach der Intention von Jaspers überwunden werden sollte. Um dieses zu untermauern zitiere ich ihn nochmals im Zusammenhang mit seiner Bewertung der Einflüsse, die den universalgeschichtlich bedeutsamen Bruch im Europa des 15. Jahrhunderts möglich gemacht haben: „Die Hauptschritte dahin sind: Die prophetische Religion der Juden befreite von Magie, dinghafter Transzendenz in einer Radikalität, wie es sonst nirgends auf der Erde geschehen ist, wenn auch nur für einen geschichtlich begrenzten Augenblick und für wenige Menschen, aber sprechend im Buch für alle Folgenden, die zu hören vermochten. — Die Griechen schufen eine Klarheit der Unterscheidungen, eine Plastik der Gestalten, eine Konsequenz des Rationalen, die vorher nirgends in der Welt sonst erreicht worden ist. — Das Christentum verwirklichte das Innewerden der äußersten Transzendenz – wie es auch Indien und China gelungen ist –, aber mit dem Unterschied, dass das Christentum diese Verwirklichung an die Welt der Immanenz fesselte und dadurch die ständige Unruhe in der Aufgabe der christlichen Weltgestaltung bewirkte.“ Wenn man die Pfade des Kulturtransfers im levantinisch-vorderasiatischen Raum korrekt darstellen wollte, müsste man ein sehr komplexes Bild zeichnen, in dem bezüglich Europa jeweils die alten Kulturen in Griechenland, Mesopotamien, Ägypten und Rom Schlüsselpositionen einnähmen.
Eine Fehlinterpretation des Rezensenten liegt vor, wenn er das Zitat bezüglich des Bündnisses zwischen den Individuen in seiner verkürzten Wiederholung darauf reduziert, das sich das Individuum durch die Verbindung mit dem anderen selbst zu einem anderen wandelt. Er unterschlägt dabei den für das Verständnis wesentlichen vorhergehenden Halbsatz, der eine ganz spezifische Freiheit im Bezug auf das geistige Prinzip Gott voraussetzt und die Transzendenz erfordert. Diese Verkürzung ist ein Beispiel für die eingefahrenen Denkschemata konventionellen Denkens, das einen Aufstieg zu wirklich neuen Weltperspektiven ausschließt. Es ist gleichzeitig Teil der Antwort auf die Frage, warum in der Entwicklung der Welt unter der Herrschaft des Menschen etwas schiefgelaufen sein muss: Es ist die Gefangennahme im reduktionistischen Schema rationaler Wissenschaft, die lediglich die Hälfte der Wirklichkeit erfassen kann, da sie die andere Hälfte den Geisteswissenschaften und der Kultur überlassen hat, denen jedoch die „Werkzeuge“ fehlen. Im Verständnis des Vier-Quadranten-Modells der Integralen Theorie hat der Buchautor wohl eine Transformation – also die Erweiterung des Bewusstseins und damit die Ankunft auf einer höheren geistigen Ebene – gemeint. In der Formulierung des Rezensenten ist die Verbindung zwischen den Einzelnen nur soweit möglich, wie sie im gleichen „Weltraum“ existieren, also selektiv in einem Abgleich der Interessen, Fähigkeiten, intellektueller Möglichkeiten usw.. Diese Vorgänge geschehen auf der horizontalen Ebene aller vier Quadranten. Im Zitat selbst ist dagegen die Forderung gestellt, durch gemeinsame Transformation auf eine höhere Bewusstseinsebene die Möglichkeiten durch Kommunion zu erweitern, um sich in einem gemeinsamen „Weltraum“ zu treffen. Diese Vorgänge geschehen in einer höheren Schicht der vier Quadranten – also vertikal – und horizontal. Dadurch, dass man sich neue Konzepte für die Schaffung neuer Austauschmöglichkeiten – Kommunikation kann keine Kommunion ersetzen – ausdenkt, erreicht man noch kein neues Bewusstsein auf nicht-dualer Ebene, wie es in dem zitierten Zusammenhang durch den Bund Israels mit Gott der Menschheit aufgegeben ist. Eine echte Kommunion zu erreichen bedarf es intensiver und ausdauernder Übung.
Die Kritik an der nicht zu bestreitenden Existenz der Achsenzeit muss aus integraler Sicht an der ebenfalls nicht zu übersehenden Tatsache ansetzen, dass in dieser Zeit der Aufstieg großer Religionen erfolgte, denen durch einzelne Eingeweihte die Erkenntnis des kausalen Geistes gelungen ist, die zur Abwertung der diesseitigen Welt führte. Ken Wilber schreibt über diese großen kontemplativen Traditionen, sie repräsentierten die Meditationserfahrung als Stufenmodell und stimmten trotz aller Unterschiede in Sprache, Kultur und Praxis in der grundlegenden und invarianten Stufenfolge überein. Die im tibetischen und Theraväda–Buddhismus sowie in der hinduistischen Tradition gefundenen Zeugnisse fanden sich nach seiner Feststellung auch in ähnlicher Form im mystischen oder inneren Gebet, wie es in der jüdischen, islamischen und christlichen Mystik nachweisbar ist. Darüber hinaus gibt es auch in den kontemplativen Traditionen Chinas entsprechende Nachweise. Auf der höchsten Stufe – dem kausalen Geist – werden nach diesen Traditionen Seele und Gottheit in der uranfänglichen Identität der Gottheit aufgehoben.
Die höher entwickelten Religionen der Achsenzeit waren durchweg geprägt vom yogischen Rückzug, reinen Aufstiegspraktiken des beschriebenen kontemplativen Wegs. Sie waren ohne Ausnahme zutiefst dualistisch: Der Geist stand dem Körper gegenüber, wie es bereits oben zum Einfluss Mesopotamiens erwähnt wurde.
Im weiteren Verlauf der blauen Kurve ist nach einem starken Rückgang des Interesses an der Geschichte für die Zeit vom 2. Jahrhundert vor Christus bis zur Geburt Christi ein deutlicher Anstieg des Interesses am 2. Jahrhundert nach Christus erkennbar, das sich sowohl für das globale Internet wie für die Buchveröffentlichungen zeigt. In dieser Zeit hatte der in Alexandria lehrende ägyptische Philosoph Ammonios Sakkas durch die von ihm gegründete platonische Philosophenschule großen Einfluss auf das geistige Klima der Religionen. Zu seinen Schülern gehörten so bedeutende Philosophen wie Plotin, Longin und Origenes. Er betrachtete Gott als Dreifaltigkeit aus Wesenheit, Geist und Kraft, wobei Geist und Kraft Hervorbringungen der Wesenheit waren. Wie andere Neuplatoniker glaubte er, dass die Wesenheit Gottes niemals allein mit dem Verstand erfahrbar sei, da der vernunftbegabte Geist nur »Meinung und Glaube« hervorbringe und durch Erfahrung, die nicht allein durch den Verstand zu erlangen sei, ergänzt werden müsse. Diese von den Neuplatonikern vertretene Glaubensauffassung stand im Widerspruch zum Glauben des Frühchristentums, der darauf bestand, dass aus der christlichen Perspektive nur der Glaube erforderlich sei. „Philosophie und Theologie verhalfen zur Gnosis, während die christliche Idee, dass der Glaube genüge, den Neuplatonikern jede geistige Evolution zu unterbinden schien. Plotin zufolge – der schließlich von Alexandria nach Rom übersiedelte – war die Gnosis oder die Wertschätzung des Göttlichen nur erreichbar, wenn man Gutes tat und einem Gutes widerfuhr und wenn man den Verstand zur Selbstbetrachtung nutzte, da Selbsterkenntnis zur Monade, dem Einen oder der Einheit führte. Das war per se noch nicht christlich, doch die mystischen Elemente dieses Denkens, die darin enthaltenen Ideen von der Dreifaltigkeit, die Gründe, die für diese Dreieinigkeit angeführt wurden (und die noch schwieriger zu verstehen sind als die vom Christentum postulierten), der Einsatz des Verstands sowie die Anwendung einer dialektischen Methode trugen allesamt zur Ausprägung des frühchristlichen Denkens bei. Die Vorstellung, dass die Bibel auslegbar sei, und die Hinwendung zu Askese, Einsiedelei oder Mönchtum gründen sich alle auf die orphischen Mysterien, die Gnosis und den Neuplatonismus.“ (Watson, Peter. Ideen: Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne, S.304-305 Kindle-Version. Goldmann Verlag.) Dennoch konnte sich die Gnosis mit ihrer Möglichkeit, das Böse in der Welt zu erklären, nicht durchsetzen. In integraler Perspektive konstatiert Wilber, dass „der Geist begann, seine eigene nichtduale Verfassung zu erkennen“ und in den außerordentlichen Seelen von Nagarjuna im Osten und Plotin im Westen in Erscheinung trat. Diese Nichtdualität ist jedoch – darauf weist Wilber hin – „keine Vorstellung, kein Begriff, sondern eine unmittelbare Erkenntnis.“ Was für die kontemplativen Praktiken Verleugnung des Diesseitigen war und als Befleckung, Sünde oder Täuschung abgelehnt wurde, erschien jetzt als strahlende Geste des Geistes selbst. Hierin lag die Antwort auf die Gnosis, „wie Plotin sagte, sind die Vielen nicht vom Einen getrennt, sondern die Vielen sind eine Manifestation des Einen (und zwar nicht als Theorie, über die man mit dem Auge des Geistes nachdenkt, sondern als unmittelbare Wahrnehmung mit dem Auge der Kontemplation). Spirituelle Praxis bestand also jetzt nicht mehr darin, das Manifeste zu leugnen, sondern vielmehr darin, alles auf dem spirituellen Weg einzuschließen.“ (Zitat: Ken Wilber, „Einfach Das„)
Bereits das relativ große öffentliche Interesse und – wie auf Grund der Buchveröffentlichungen zu vermuten ist – auch das fachliche Interesse an der Zeit des Neuplatonismus im zweiten Jahrhundert wirft ein Licht auf die Befindlichkeit des Zeitgeistes und kann die Frage nach der »Selbstvergewisserung der Moderne« nun beantworten: Ja, die Krisen der Gegenwart müssen groß und übermächtig sein, denn es sind nicht nur konservative Philosophen am Werk, die in der frühen Geschichte nach Lösungen suchen, es ist vor allem eine informierte Öffentlichkeit, die auch dort hinschaut, wo die Fachwelt bereits abgewunken hat. Ich denke, es gibt auch eine Verantwortung der Wissenschaft gegenüber der Öffentlichkeit und die hat das Recht zu erwarten, wie bereits Rupert Sheldrake in seinem Buch „Der Wissenschaftswahn“ ausführlich dargestellt hat, einen Wandel in den Wissenschaften, ohne den eine Lösung der drängenden Menschheitsprobleme wie Klimakatastrophe, Verarmung, Fremdenhass und Entdemokratisierung nicht gelöst werden können. Die Aktivisten der außerparlamentarischen Bewegungen empfehle ich, sich nicht einseitig auf bestimmte Wissenschaften zu stützen, sondern von allen Wissenschaften die Erfüllung ihrer Verantwortung gegenüber den Menschen einzufordern, wie es in der Antiatombewegung und der Friedensbewegung ansatzweise geschehen ist.