Die Entwicklung der amerikanischen Städte in der Moderne
Die geometrisch-abstrakte Handhabung des Raumes in Verbindung mit dem wirtschaftlich begründeten Pragmatismus der Landvermarktung hat zu punktuellen Siedlungsansätzen geführt, die durch Verkehrswege verbunden wurden. Europäische Methoden, Techniken und Stile des Bauens wurden von Anfang an nur bedingt angewandt, einerseits weil man sich bewusst von der europäischen Kultur abgrenzen wollte, andererseits weil man sich an die räumlichen, landschaftlichen und klimatischen Gegebenheiten anpassen musste. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass bei der Entwicklung komplexer Planungsaufgaben, wie dem Entwurf ganzer Städte, notwendiges Fachwissen von Spezialisten, die in Europa ausgebildet waren, und die Entwurfsprinzipien aus der alten Welt mitgebracht hatten, ignoriert wurde. Sie brachten die aktuell in Europa geltenden Entwurfsprinzipien in ihre Entwürfe ein, so dass bei Städten wie Washington DC, New York (Manhattan), Philadelphia, Baltimore, Detroit oder Cleveland ähnliche Muster wie in Europa erkennbar sind. Obwohl rasterartig, weisen sie jedoch nicht nur auf die Übertragung des National Grid hin, sondern sie sind Ausdruck jahrtausendealter Siedlungspraktiken in alten Kulturen, von Militärlagern, römischer Insulae und Stadterweiterungen der Barockzeit, die ihre Spuren in Europa hinterlassen haben und die Vorzüge rechtwinkliger Baustrukturen neben der gegenüber anderen Geometrien leichteren Handhabung auch als geschichtliche Erfahrung erscheinen lassen.
Vor allem die planmäßigen Stadtgrundrisse der Barockzeit lassen den Einfluss von Gesellschaftsbildern bei der Anlage von Städten erkennen. Der Vergleich der planmäßigen rasterartigen Grundrisse von Karlsruhe und Mannheim oder einiger Berliner Stadtbezirke (Friedrichstadt und Dorotheenstadt) lässt die leitenden Motive der planenden Herrscher erkennen: In Karlsruhe die Ausrichtung der Hauptachsen auf die Residenz, womit die absolutistische Machtstellung des Markgrafen von Baden-Durlach zum Ausdruck gebracht wurde und dem entgegen die vernunftbestimmte Entwurfsidee des Kurfürsten Friedrich IV. von der Pfalz bzw. des preußischen Königs Friedrich I. In Mannheim und Berlin hat der Fürst nicht die Stadt auf seine eigene fürstliche Macht bezogen, sondern er hat eine Wohnstadt für Soldaten, Beamte und Bürger gebaut, die als Konsumenten im aufkommenden Merkantilismus gebraucht wurden, um die Staatskasse zu füllen.
Für die frühen amerikanischen Stadtgründungen ist die rasterförmige Anlage des Stadtgrundrisses zu einer Idealvorstellung geworden, deren Stellenwert am Beispiel von San Francisco ablesbar ist. In San Francisco hat man entgegen europäischen Gepflogenheiten ein rechtwinkliges Raster über Hügel und Ebenen gelegt, ohne Rücksicht auf die Topographie zu nehmen, so dass die Straßen, welche geraden Weges bergauf führen, so steil sind, dass man die cable cars als Zahnradbahn bauen musste, um die Steigungen bewältigen zu können.
Zusammenfassend lässt sich die Stadtentwicklung in der Gründungsphase der USA am Treffendsten erfassen, wenn man von der konstituierenden Idee der Stadt ausgeht. Diese Bestand in Europa in der Erhebung privilegierter Eliten zur Macht durch eine hierauf verpflichtete begrenzte Zahl von Bürgern und Sklaven, wogegen die Grundhaltung der nach Nordamerika eingewanderten Europäer sich aus diesen überkommenen Fesseln befreien wollte. Ihre Grundhaltung war antistädtisch und pragmatisch auf dörfliche Gemeinschaften ausgerichtet. Soweit man in diesem Zusammenhang von Planung sprechen kann, beschränkte sich diese auf die technische Gliederung des Landes im National Grid und wenige notwendige repräsentative Vorhaben wie z. B. die Hauptstädte. Darüber hinaus wurde die Entwicklung der privaten Initiative überlassen. Der Architekturhistoriker Leonardo Benevolo stellt die Unterschiede zwischen amerikanischen und europäischen Stadtplänen ausgehend von dem Plan für Philadelphia von William Penn, dar:
„Ein Europäer übersetzt den Entwurf alsbald in architektonische Begriffe so, als handle es sich um die Planung einer Gesamtheit von Gebäuden; Penn dagegen ist nicht daran interessiert, eine bestimmte Gesamtheit von Bauten zu entwerfen, ihm liegt lediglich daran, eine eindeutig zweiseitige Entsprechung zwischen gewissen Zahlen und gewissen Geländeabschnitten herzustellen. Welche Objekte auf die einzelnen Baugelände kommen sollen, wird im voraus weder gesagt noch bestimmt, praktisch können sie jederzeit wechseln; unverändert hingegen bleibt die schachbrettartige Unterteilung des Geländes in einer gegebenen Maßeinheit sowie die feststehende Nummerierung jedes Feldes (Abb. 179). Dieses System dient dazu, die Einwohner einer Stadt zu kennzeichnen, es dient auch dazu – in größerem Maßstab – den landwirtschaftlichen Grundbesitz aufzuteilen (Abb. 18o)…
…Aus diesen Stadtplänen wird einer der wesentlichsten Züge amerikanischer Tradition sichtbar. Manche Elemente sind starr und unveränderlich festgelegt, aber nur soviel es erforderlich ist, um einen gemeinsamen und unumstrittenen Anhaltspunkt zu haben; auf dieser Grundlage kann sich alles andere frei und ungehemmt entfalten.“
Benevolo sieht diese Vorgehensweise als kritisch an, da sie die Anforderungen der modernen Stadt an technischen und zivilisatorischen Infrastruktureinrichtungen wie Eisenbahnen, Märkten, Kaufhäusern, Büros, Krankenhäusern, Theatern, Kinos, Parkplätzen uvm. unberücksichtigt lässt. „Die neue Stadt bedeckt den alten Plan wie ein zu enges Kleid, und um weiterzuleben, muß sie entweder die alten Einteilungen sprengen – wobei sie außerordentlichen Widerständen begegnet, gerade weil bis dahin alles wie für die Ewigkeit geregelt war -, oder sich den alten Einteilungen zu entziehen suchen, indem sie sich mit unterirdisch geführten oder überhöhten Straßen über sie hinwegsetzt.“
An dieser Entwicklung waren ab 1920 das Auto und die hierfür gebauten Fernstraßen entscheidend beteiligt. Das Auto machte ein Ausgreifen der Siedlung in die Landschaft möglich und führte zu einer Beschleunigung des Lebens in jeder Hinsicht – bis hin zur Beeinflussung biologischer Funktionen. Die in das System der Fernstraßen eingebaute Hierarchie führte zu einer unsichtbaren Lenkung der individuellen Entscheidungen, indem mit zunehmender Bedeutung der Straße im Netz die Freiheiten zum Verlassen des eingeschlagenen Weges geringer werden. Diese Entwicklung zog sich über die Zeit bis zum Bau der Interstate Highways ab 1950 hin, deren Konzeption seit 1991 als abgschlossen gilt, deren Bau jedoch eine dauernde Aufgabe sein wird, sofern keine Integration von Siedlung und Verkehr erfolgt.
Für amerikanische Großstädte ist heute noch das zentrale Geschäftszentrum im Stadtkern (CBD) mit einer größeren Zahl von Wolkenkratzern und ein „Siedlungsbrei“ an den Rändern der Städte mit einer wilden Mischung aus Wohnsiedlungen, gewerblichen Bauten, öffentlichen Einrichtungen, Freizeiteinrichtungen und Einkaufs– bzw. Dienstleistungszentren charakteristisch. Die ungesteuerte Entwicklung dieser zersiedelten Gegenden (Kulturlandschaft ist hier nicht mehr zutreffend) wird noch durch das kaum entwickelte Planungssystem der USA und die quer zu den Siedlungsgebieten verlaufenden administrativen Grenzen gefördert.
Neben der Einbindung ehemals landwirtschaftlicher Flächen einschließlich deren Bewohner in die ausufernden Stadtrandsiedlungen werden die neu entstehenden Siedlungsbereiche von der amerikanischen Mittelschicht bewohnt, die aus den Stadtkernen ausgezogen ist und die leer gezogenen Häuser sozial marginalisierten Bewohnern überlassen. Dieser seit den 1950er Jahren ablaufende Prozess führte ab den 1970er Jahren zum Bedeutungsverlust der Stadtkerne und ließ die Tendenz zur Bildung neuer peripherer Zentren entstehen. Die initiale Ansiedlung ging oft von Einkaufszentren auf der „Grünen Wiese“ aus, die mit „Erlebnis-Einkauf“ warben und entsprechende Freizeitangebote nach sich zogen. Im nächsten Schritt folgten nachgeordnete Dienstleistungseinrichtungen großer Unternehmen, die wegen niedriger Grundstückspreise an die Peripherie zogen und hier überwiegend Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich boten. Der Abschluss der Zentrenbildung erfolgte durch die Ansiedlung von Unternehmen der High-Tech-Branche und höherwertiger Dienstleistungen bis hin zu Hauptverwaltungen großer Unternehmen.
Die neueren Entwicklungen in den amerikanischen Ballungsräumen lassen die Tendenz zur Entstehung einer neuen Zentrenstruktur erkennen, die in optimistischer Sicht als eine Art Selbstheilungsprozess begriffen wird und ausgehend von hoch qualifizierten Arbeitsplätzen eine anspruchsvolle Wohnbevölkerung in benachbarte neue Wohngebiete mit hohem Wohn- und Freizeitwert zieht. Hierbei darf jedoch nicht übersehen werden, dass periphere Entwicklungen nicht ohne Wirkungen auf die alten Zentren bleiben. Die Entwicklung der amerikanischen Städte hat deutlich gemacht, dass unter hohem Nachfragedruck nach hochwertigen Standorten die Bodenpreise steigen und statt der flächenintensiven Flachbauten Hochhäuser gebaut werden und Stadtkerne entstehen lassen, die denen stark ähneln, die aufgegeben wurden.